Verabschiedung von Karl-Dieter Möller: Das Ohr auf dem Tep­pich des Ver­fas­sungs­ge­richts

30.11.2010

Fast ein Vierteljahrhundert lang hat Karl-Dieter Möller über Entscheidungen der obersten Gerichte aus Karlsruhe berichtet. Ende November geht der Leiter der SWR-Redaktion "Recht und Justiz" und Grimme-Preisträger in Ruhestand. Im LTO-Interview wirft er gemeinsam mit seinem Nachfolger Dr. Frank Bräutigam einen Blick zurück und erklärt, was gute Gerichtsberichterstattung ausmacht. 

LTO: Herr Möller, Sie waren 24 Jahre das Fernsehgesicht der Residenz des Rechts. Hat es Sie als studierter Volljurist nie gereizt, selbst einmal als Richter oder Rechtsanwalt zu arbeiten?

Möller: Eigentlich nein. Und wenn, wäre höchstens eine Tätigkeit als Verwaltungsrichter in Frage gekommen. Ich war ja aber von Schülerzeiten an journalistisch tätig, habe parallel auch Publizistik studiert, und für die schreibende Presse und den Hörfunk beim WDR gearbeitet.

Zum Fernsehen bin ich dann eigentlich eher per Zufall gekommen – anfangs beim ZDF, später dann bei der ARD. Dort habe ich die Zentralredaktion "Recht und Justiz" aufgebaut, die unter anderem die Tagesschau, aber auch die Programme für Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz mit aktueller Gerichtsberichtserstattung und Rechtsthemen versorgt. Ab 1994 kam der "Ratgeber Recht" der ARD als zweites Standbein hinzu.

LTO: Gab es in all diesen Jahren ihrer Tätigkeit als Rechtsjournalist einen Moment, der Sie besonders bewegt hat?

Möller: Es gab verschiedene emotionale Momente. Eine Sache, die sich mir wirklich eingebrannt hat, war die juristische Aufarbeitung der DDR-Zeit. Im Grunde hat nach der Wende 1989 und 1990 ja eine zweite Wende stattgefunden, nämlich hier in Karlsruhe vor den obersten Gerichten, als es etwa um die Mauerschützen, die erste gesamtdeutsche Wahl oder auch die vielen Entlassungen in dem zerfallenen zweiten deutschen Staat ging.

Dabei ist mir der Satz eines Mannes aus der ehemaligen DDR besonders im Gedächtnis geblieben: "Das mag sicher alles Recht sein, was hier gesprochen wird, aber wir empfinden das zutiefst als Unrecht." Das ist mir ziemlich nachgegangen, dass diese Leute die Hoffnung hatten, Recht zu bekommen – und letztlich "nur" den Rechtsstaat bekamen.

"Man braucht einen Blick fürs Wesentliche, für den Kern einer Entscheidung"

LTO: Welche Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat Ihrer Meinung nach politisch am meisten bewegt?

Möller: Bewegt haben viele, in der jüngsten Zeit zum Beispiel die Rechtsprechung zu Hartz IV. Für ganz besonders wichtig halte ich allerdings die Entscheidungen zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr. Wenn wir also heute deutsche Soldaten etwa in Afghanistan sehen, ist das zurückzuführen auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts. Das wissen aber die wenigsten; die meisten denken beim Thema Bundeswehr eher an emotionalere Themen – etwa "Soldaten sind Mörder".

LTO: Wie schafft man es, solche Entscheidungen nach der Verkündung schnell und vor allem verständlich zu erklären?

Möller: Das hat viel mit Erfahrung und der Vorbereitung zu tun. Zum einen hilft es, wenn man mit in der Verhandlung sitzt. So bekommt man den Gegenstand mit und man erfährt, wie die Richter fragen. Dann weiß man am Ende einer Verhandlung in etwa schon, wie der Hase läuft – nicht immer, aber sehr häufig. Außerdem muss man als Journalist natürlich ab und zu sein Ohr auf den Teppich des Verfassungsgerichts legen. Insgesamt ist die Berichterstattung hier in Karlsruhe ziemlich schwierig, weil man regelmäßig den Richtern hinterher laufen muss. Man braucht vor allem einen Blick fürs Wesentliche, also für den Kern einer Entscheidung.

Noch wichtiger ist aber danach die Einschätzung: Was bedeutet dieses Urteil für den Normalbürger und seinen Alltag, wo hilft es ihm? Dabei muss man in manchen Fällen die Entscheidung für den Bürger noch deutlicher übersetzen – nehmen Sie die Hartz-IV-Rechtsprechung: Da hat das Bundesverfassungsgericht nicht gesagt, dass 364 Euro zu wenig sind, sondern dass eben die Berechungsgrundlage fehlerhaft ist. Die Bürger müssen verstehen, dass Inhalt der Entscheidung eben nicht war, wie viel Geld der Einzelne danach mehr bekommt.

Bräutigam: Beim Fernsehen kommt noch ein wichtiger Punkt hinzu, nämlich dass man sich frühzeitig Gedanken darüber macht, wie man so ein Urteil abbildet. Das können ja nicht immer nur die roten Roben sein. Man sollte möglichst den Originalfall vor die Kamera bekommen. Die Frage ist also nicht nur, was das Urteil aussagt, sondern auch, wie man es bildlich umsetzt.

"Nicht nur die große Politik erklären, sondern auch den Zuschauer persönlich mitnehmen"

LTO: Gab es auch Entscheidungen, bei denen Sie das Gefühl hatten: "Das ist so kompliziert, das kann man praktisch nicht erklären?"

Möller: Das kam und kommt tatsächlich ab zu vor. Da muss man sich dann genau überlegen, ob man dem Zuschauer wirklich mit gutem Gewissen die Aussage des Urteils so vermitteln kann, dass er auch etwas davon hat. Besteht die Gefahr, dass man den Zuschauer in die Irre führt, etwa weil es so ein spezieller Einzelfall ist, sollte man es lieber lassen – von den Bildern ganz abgesehen. Da machen die Beteiligten der Originalfälle in der Regel auch gar nicht mit.

Bräutigam: Es gibt aber definitiv Fälle, in denen wir nicht kapitulieren, auch wenn es schwierig wird. Das sind die Angelegenheiten mit Europabezug, etwa beim Vertrag von Lissabon. Diese müssen wir natürlich auch ausführlich darstellen und erklären, auch wenn der konkrete Bezug zum Bürger deutlich schwerer herzustellen ist als bei einem Mietrechtsurteil. Hier muss man sich ganz besonders bemühen, dass man nicht nur die große Politik erklärt, sondern auch den Zuschauer persönlich mitnimmt: "Was hat der Vertrag von Lissabon, bei dem Deutschland Rechte nach Brüssel abgibt, eigentlich mit dir zu tun?"

LTO: Vor dem Hintergrund ihrer jahrzehntelangen Erfahrung: Wie hat sich die Justizberichterstattung im Laufe der Zeit verändert?

Möller: Ich glaube nicht, dass sich da viel verbessert hat, es hat sich eher verlagert. Es gibt wirklich gute Kolleginnen und Kollegen im Printbereich, aber wir haben natürlich auch die Masse der Regionalzeitungen. Die können sich in der Regel nicht leisten, jemandem mit Ahnung speziell für den Bereich Recht zu beschäftigen.

Gerichtsberichtserstattung ist eigentlich erst profunde, wenn man sie über eine gewisse Zeit gemacht hat, wenn man bestimmte Verfahrensdinge kennt, wie sie zum Beispiel in einem Strafprozess laufen. Dazu sind aber viele Zeitungen heute eben aus finanziellen Gründen nicht mehr bereit. So ist die Berichtserstattung häufig eher "beschreibend" und es werden inhaltlich wichtige Dinge außer Acht gelassen. Nehmen Sie etwa den Benaissa-Prozess. Da wurde zum Teil berichtet, dass der Beschuldigten bis zu zehn Jahre Haft drohen – was natürlich schlichtweg Unsinn ist. Wer vor dem Amtsgericht angeklagt ist, kann maximal vier Jahre Freiheitsstrafe bekommen. Andernfalls muss die Sache ans Landgericht abgegeben werden.

Man sieht also, dass immer wieder Fehler auftauchen – eben weil die Kolleginnen und Kollegen von Haus aus keine Juristinnen oder Juristen sind. Ebenso bedenklich ist, wenn zum Beispiel bei einem Strafprozess gesagt wird, dass der Strafrahmen fünfzehn Jahre beträgt. Dadurch wird beim Zuschauer oder Leser eine Erwartungshaltung geweckt und später enttäuscht, wenn der Betreffende "nur" zwei Jahre auf Bewährung bekommt. Das führt auf Dauer zum Verdruss und dem Vorwurf, die Justiz sei zu lasch.

"'Transparenz' ist der Begriff der Stunde"

LTO: Dann würden Sie die Kritik von Generalbundesanwältin Harms teilen, die sich kürzlich auf einer Veranstaltung über zunehmend schlechte Recherche und wenig Verständnis für rechtliche Zusammenhänge beklagt hat?

Möller: Nicht ganz, Frau Harms hat natürlich ein bisschen überzogen, um es mal vorsichtig zu sagen. Ich habe als Moderator der Veranstaltung versucht, dagegen zu halten, aber sie war kaum zu bremsen. Man muss das allerdings auch ein bisschen in der Persönlichkeit von Frau Harms begründet sehen.

LTO: Ein anderer hoher Jurist, der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Voßkuhle, hat ein weiteres medial spannendes Thema angeschnitten, nämlich die Frage nach mehr Fernsehbildern aus Gerichtssälen. Wie schätzen Sie die Entwicklung ein – vor dem Hintergrund, dass bis zu einem gewissen Grad der Schutz der Prozessbeteiligten gewährleistet bleiben muss? Und was planen sie, Herr Bräutigam, in dieser Richtung?

Bräutigam: Ich bin ein großer Freund der Urteilsübertragung hier aus Karlsruhe. Dass ein Interesse selbst bei "sperrigen" Themen wie der Neuwahl 2005 besteht, zeigt die Übertragung der Schlichtung von "Stuttgart 21". "Transparenz" ist ja der Begriff der Stunde. Allerdings ist unser journalistisches Ethos so hoch, dass wir nicht Bilder um jeden Preis senden, etwa bei einem Strafprozess. Die Persönlichkeitsrechte der Menschen müssen in jedem Fall gewahrt bleiben.

Möller: Ich denke, dass es vor allem um den Gesichtspunkt "Transparenz" geht, gerade bei hochemotionalen Themen.

Bräutigam: Genau, es gibt ja auch nicht hunderte Themen, bei denen wir jedes Mal live im Gerichtssaal mit dabei wären. Es wird weiterhin bei ausgewählten Urteilen und Sendungen bleiben, die Berichterstattung wird allenfalls sachte ausgeweitet. Es muss niemand die Befürchtung haben, dass das Fernsehen dann bei jedem Prozess auf der Matte steht.

"Bei Kachelmann hat die Berufs-Ethik gelitten"

LTO: Nun wird von Seiten der Staats- oder auch Rechtsanwälte mitunter eine recht offensive Pressearbeit betrieben, etwa beim Fall Kachelmann. Kommt Ihnen das entgegen oder sehen Sie das kritisch?

Möller: Ich habe nichts dagegen. Ich halte es für falsch, hier von einer "Aufrüstung" zu sprechen. Es besteht eine Auskunftsverpflichtung nach den Landespressegesetzen. Wie weit diese im Einzelfall geht, ist eine Abwägungsfrage. Die Rechtsanwälte sollen im Ermittlungsverfahren ruhig ihre Litigation PR machen - egal ob die Justiz dies goutiert oder nicht. Sobald es zur Hauptverhandlung kommt, sollte meiner Meinung nach nur über das berichtet werden, was verhandelt wird.

Was die Boulevardseite angeht - das hat mit dem Kachelmann-Prozess schon überhand genommen. Ich denke, dass dabei in der Tat die Ethik, die Zurückhaltung in unserem Berufsstand gelitten hat. Das wird eine Herausforderung für die Zukunft sein.

Bräutigam: Gerade, dass die PR auf beiden Seiten verstärkt worden ist, macht unsere Rolle meiner Meinung nach noch wichtiger. Der Zuschauer braucht eine neutrale Instanz, die sich alles anhört und die Information richtig einordnet.

LTO: Erschwert diese PR grundätzlich die Distanz, die die Medien an dieser Stelle haben sollten?

Bräutigam: Ja, aber das ist dann eine Frage der eigenen Berufsauffassung. Man muss schon die Stärke haben, sich alles anzuhören und sich dann eine eigene Meinung zu bilden. Wenn man alles eins zu eins übernimmt, hat man seinen Beruf verfehlt.

"Internet ist gute Ergänzung zur Fernsehberichtserstattung"

LTO: Abschließend möchte ich auf das Thema Internet zu sprechen kommen. Wie wirkt es sich in ihren Augen speziell auf den Rechtsjournalismus aus? Mittlerweile betreibt eine wachsende Anzahl von Rechtsanwälten Blogs mit Urteilsbesprechungen.

Bräutigam: Die Seiten von Rechtsanwälten sind teilweise sehr informativ. Was ich für problematisch halte, sind so allgemeine Seiten wie "gutefrage.net". Da werden Rechtsmeinungen von Laien verbreitet, die oft so was von falsch sind - die die Fragesteller aber leider oft ernst nehmen. Das halte ich für eine sehr problematische Entwicklung. Deshalb muss man sehr genau unterscheiden zwischen den professionellen Seiten und allgemeinen Seiten, auf denen einfach jeder seine Meinung zu einer Frage abgibt.

Möller: Ich denke, die größte Gefahr ist, dass sich falsche Meinungen und fachliche Fehler bei der Berichterstattung über Urteile und Rechtsthemen rasend schnell nach dem Schneeball-Prinzip verbreiten und im Ergebnis kaum zu revidieren sind.

Bei uns ist das Internet auf jeden Fall eine gute Ergänzung zur Fernsehberichterstattung. Und was die anderen Seiten angeht: Die gute, profunde Information über Rechtsthemen wird bleiben, auch die Seiten der Anwälte, bei denen man für Antworten auf Rechtsfragen Geld bezahlt. Diese Leute geben sich in der Regel Mühe und so ist das sicher eine gute Ergänzung.

Bräutigam: Allerdings sind wir selbst sind in unserer Arbeit als öffentlich-rechtlicher Sender im Internet durch den Drei-Stufen-Test begrenzt. Wir haben die ganz klare Vorgabe, dass ein Sendungsbezug da sein muss. Allgemeine Ratgeberportale zum Thema Recht können wir daher nicht machen und könnten dies in der kleinen Redaktion auch gar nicht leisten.

"Es geht nichts mehr ohne den Europäischen Gerichtshof"

LTO: Sehen Sie die Gefahr, dass Nicht-Journalisten, die ausschließlich im Internet publizieren, den Fernsehmachern bei Rechtsthemen langfristig den Rang ablaufen könnten?

Bräutigam: Nein. Nachrichtensendungen wie die Tagesschau werden die Leute auch in Zukunft gucken, davon bin ich fest überzeugt. Wir erreichen jetzt schon ein überraschend junges Publikum. Und diesen festen Pfeiler in der Medienlandschaft werden wir natürlich weiterhin mit Gerichtsberichterstattung bedienen, trotz Internet und anderer rasanter Entwicklungen.

Möller: Wir wollen unser inhaltliches Angebot sogar weiter ausbauen: Ab 2012 sollen die europäischen Gerichte in die Berichterstattung integriert werden, etwa der Europäische Gerichtshof in Luxemburg und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.

Das bedeutet natürlich einerseits noch mehr Arbeit, aber es passt sich logisch der Entwicklung bei den Gerichten an: Das Bundesverfassungsgericht hat inzwischen eine Menge der politischen Macht nach Luxemburg abgegeben – es geht also jetzt nichts mehr ohne den Europäischen Gerichtshof. Darum muss ich mit 65 Jahren offiziell aufhören, weil das eine zulässige Altersdiskriminierung ist (lacht).

Und es gibt eine weitere Entwicklung, die ich ebenfalls sehr begrüße: Der "Ratgeber Recht" wird, wie der Intendant bei meiner Verabschiedung bereits verkündet hat, nun komplett nach Karlsruhe wandern.

Im Jahr 2012 wird das Recht also "geballt" europäisch und deutsch aus Karlsruhe kommen – mit dem neuen Leiter Dr. Frank Bräutigam.

LTO: Herr Möller, Herr Dr. Bräutigam, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!

Das Interview führte Steffen Heidt.

Zitiervorschlag

Verabschiedung von Karl-Dieter Möller: Das Ohr auf dem Teppich des Verfassungsgerichts . In: Legal Tribune Online, 30.11.2010 , https://www.lto.de/persistent/a_id/2053/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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