Online-Vorlesungen

Der Prof auf dem Bildschirm

von Anna K. BernzenLesedauer: 5 Minuten
Keine Platzsuche im überfüllten Hörsaal, kein Wettlauf um das letzte Lehrbuch in der Bibliothek: In Online-Vorlesungen, sogenannten Massive Open Online Courses, sollen Studierende den Stoff bequem am eigenen Schreibtisch vermittelt bekommen. Jetzt hat auch ein deutscher Juraprofessor einen Internetkurs vorbereitet. Anna K. Bernzen hat sich in die Vorlesung zum Europarecht eingeschrieben.

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Block, Stifte, Gesetzestext: Meine Arbeitsmaterialien liegen bereit. Auch der Professor ist soweit. "Today, we will speak about the European Union in the international legal order", erklärt er. Dazu hat er einen Plan vorbereitet: Erst will er den völkerrechtlichen Rahmen erläutern, dann die Außenvertretung der EU und zuletzt ihre Beteiligung an internationalen Organisationen. Viel Inhalt, für den nur 15 Minuten Zeit bleiben. Auch sonst ist vieles anders in dieser Vorlesung: Block, Stifte und Gesetzestext liegen auf meinem wackeligen Schreibtisch in Heidelberg. Der Professor sitzt in Florenz vor einem antiken Kamin. Ich schaue in Deutschland auf meinen Laptop, er schaut in Italien in eine Kamera. Die Vorlesung, die Professor Jan Wouters von der Katholischen Universität Leuven auf meinem Bildschirm gerade hält, ist die erste von sechs zum Thema "The European Union in Global Governance", also zur Rolle der EU in der Weltordnungspolitik. Unterrichtet wird durch Juraprofessoren und -professorinnen aus Belgien, Italien und Deutschland. Das Besondere: Ihre Kurse finden nicht im Hörsaal statt, sondern im Internet. Sie sind Bestandteil eines MOOCs, kurz für "Massive Open Online Course". MOOCs sind Online-Vorlesungen, die im Netz frei zugänglich und meist kostenlos angeboten werden. In kurzen Videos erklären Professoren den Stoff; durch Instrumente wie Quizfragen, Links zu Lesematerialien oder Diskussionsforen können die Studierenden ihn vertiefen.

25.000 Euro für eine europäische Idee

Bekannt wurde das Modell durch eine Veranstaltung des deutschen Professors Sebastian Thrun, dessen MOOC an der Universität Stanford 2011 rund 160.000 Online-Hörer anzog. Im EU-Kurs hatten sich in der ersten Woche bereits 16.000 Studierende immatrikuliert. Verwirklichen konnten die Juraprofessoren ihre Idee, weil sie letztes Jahr einen Wettbewerb für Onlinevorlesungen gewannen. Auf einen Aufruf des Stifterverbands für die Deutsche Wirtschaft und des MOOC-Anbieters iversity hin waren über 250 Bewerbungsvideos aus 20 Ländern eingegangen. Die EU-Vorlesung gehörte zu den zehn Gewinnern, die Dozenten bekamen 25.000 Euro für die Erstellung ihres Kurses. Ende April startete ihr MOOC mit dem Video von Jan Wouters. Nachdem der Professor darin die Rechtspersönlichkeit der EU erklärt hat, wendet er sich nun ihrer Beteiligung an internationalen Organisationen zu. "The EU is a staunch defender of what it calls effective multilateralism", sagt er, also: Die EU ist Anhänger eines wirksamen Multilateralismus. Über dem Kamin erscheinen die Worte "effective multilateralism". Als er auf Art. 21 EUV hinweist, taucht der Normtext vor seinem Bauch auf – auf Englisch. Ich schlage mein Gesetz auf und lese nach. Als ich die wichtigsten Passagen unterstrichen habe, redet Wouters schon über die Mitgliedschaft der EU in der Welthandelsorganisation. Ich halte das Video an und springe eine halbe Minute zurück. Vor seinem Bauch erscheint wieder der Vertragstext.

"Den Bedürfnissen der Teilnehmer entsprechend"

Eine solche Rewind-Taste gibt es bei Vorlesungen im Hörsaal nicht. "Das wäre mir auch zu anstrengend", sagt Christoph Herrmann und lacht. Der Passauer Juraprofessor hat das letzte Video für den Kurs erstellt. Diesen könnten Studierende sehr flexibel nutzen, sagt er: "MOOCs erlauben jedem Teilnehmer – anders als Vorlesungen – die Informationen seinen Bedürfnissen und seinem Lerntempo entsprechend zu erfassen und zu verarbeiten." Kurze Videos, häufige Wiederholungen: Durch die Aufbereitung des Stoffs sollen auch Digital Natives mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne erreicht werden. Wer möchte, kann das Video so oft ansehen, bis er alles verstanden hat. Wer nicht möchte, spult einfach vor. Doch diese Flexibilität hat nicht nur Vorteile, sagt Rolf Schulmeister: "Für die Studierenden ist die Teilnahme an einem MOOC doppelt so aufwendig wie der Besuch einer klassischen Vorlesung." Der Pädagogikprofessor und geschäftsführende Direktor des Hamburger Zentrums für Hochschul- und Weiterbildung forscht zu den Onlinekursen. Er rechnet vor: Wer ein 90-minütiges Video ansieht, dabei manchmal Pause macht und zurückspult, alle Quizfragen beantwortet und dann die Hausaufgaben bearbeitet, ist schnell bei acht Stunden Aufwand. "Dadurch bleibt weniger Zeit die Präsenzlehrveranstaltungen", so Schulmeister.

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2/2: "Eine hohe Eigenmotivation mitbringen"

Schließlich kann man in MOOCs weder sich selbst noch das Computersystem über den Lernfortschritt belügen: Bevor das kleine Kamerasymbol über dem Video grün leuchtet und so anzeigt, dass ich die Vorlesung absolviert habe, muss ich einige Quizfragen zur gerade gehörten Vorlesung beantworten. Wie viele völkerrechtliche Verträge hat die EU abgeschlossen? In welchen internationalen Organisationen ist sie vertreten? Manches weiß ich aus dem Video. Hilfreich sind auch Auszüge aus einem Lehrbuch zum EU-Recht, die unter dem Video zum Download bereitstehen. Schon vor Beginn der Vorlesung wurde ich per Mail darauf hingewiesen, dass ihre Lektüre verpflichtend sei. Ob ich die insgesamt rund 70 Seiten wirklich gelesen habe, überprüft allerdings niemand. Ich muss zwar eine Hausarbeit über den Stoff des MOOCs schreiben. Wie bei vielen dieser Kurse üblich, wird die aber nicht von Professoren, sondern von den anderen Studierenden bewertet. "Wer einen MOOC absolviert, muss generell eine hohe Eigenmotivation mitbringen und wirklich an dem so erworbenen Wissen interessiert sein", sagt Christoph Herrmann dazu. An der Universität Passau wird zwar ein Zertifikat für die Teilnahme vergeben. Voraussetzung ist aber die zusätzliche Teilnahme an einem Multiple Choice-Test an der Universität.

Die Cassis-Formel am eigenen Schreibtisch erklärt bekommen

In der zweiten Vorlesungswoche begrüßt mich Dr. Joris Larik aus seinem Büro in Leuven. Er wird nun die Theorien der Internationalen Beziehungen erläutern. Nach einer kurzen Vorstellung verschwinden Schreibtisch und Wissenschaftler und eine himmelblaue PowerPoint-Folie füllt meinen Bildschirm. Während Larik spricht, erscheinen dort Stichpunkte, illustriert mit einem Bild der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton. Gesetzestexte vor dem Bauch des Dozenten gibt es heute nicht. Dieser Kurs erinnert mich schon eher an meine Europarechtsvorlesung. Befürworter sehen in MOOCs denn auch eine echte Alternative zu überfüllten Grundlagenvorlesungen. Statt sich im Hörsaal zu drängen, könnten Studierende die Cassis-Formel bequem am eigenen Schreibtisch erklärt bekommen. Doch Christoph Herrmann ist skeptisch: "Vieles kann man online nicht so darstellen wie im Hörsaal. Man kann zum Beispiel nicht spontan auf Fragen reagieren." Dennoch befassen sich gerade große Universitäten momentan mit dieser Idee. An der Technischen Universität München etwa wird an einem MOOC zur Einführung in die Unfallchirurgie gearbeitet. Doch während medizinische Probleme über Jahre hinweg ähnlich bleiben, ist ein MOOC zu juristischen Themen schnell überholt. Für den EU-Kurs etwa war ein Kiewer Professor zu den Nachbarschaftsbeziehungen der EU zur Ukraine interviewt worden. Das Gespräch wurde aus aktuellem Anlass nicht in die Reihe aufgenommen. "In meinen Augen haben MOOCs eher das Potential, künftig ein Lehrbuch zu ersetzen – aber nicht den Professor", sagt Christoph Herrmann. Rolf Schulmeister sieht noch ein anderes mögliches Einsatzgebiet: "MOOCs wurden, schaut man sich die Herkunft der Teilnehmer an, weit überwiegend als Weiterbildung von beruflich Tätigen genutzt, die bereits über einen Bachelor oder Master verfügen."

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