Schreibzeitverlängerung, Schreibpause, individuelle Hilfsmittel

So funk­tio­niert der Nach­teils­aus­g­leich im Staats­examen

Gastbeitrag von Michelle SieburgLesedauer: 5 Minuten

Jurastudierende haben einen Endgegner: das Staatsexamen. Welche Möglichkeiten gibt es, wenn sie ihre Leistung aufgrund einer Behinderung, einer chronischen Erkrankung oder einer Sehnenscheidenentzündung nicht ausschöpfen können?

Alle Studierenden sollen die gleichen Chancen haben, das Studium erfolgreich zu bestreiten. Das gewährleistet nicht zuletzt der Gleichheitsgrundsatz in Art. 3 Grundgesetz. Für Menschen mit Handicap ist das ohnehin schon anspruchsvolle Jurastudium noch schwieriger. Der sogenannte Nachteilsausgleich soll sie dabei unterstützen, ihre Leistung im Examen dennoch abrufen zu können. In erster Linie geht es dabei um Menschen mit Behinderung oder chronischen Erkrankungen.

Doch auch Studierende mit nur vorübergehenden Beeinträchtigungen, etwa der unter Examenskandidaten sehr verbreiteten Sehnenscheidenentzündung oder auch mit Knochenbrüchen, haben unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Nachteilsausgleich. Diese unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland, hier sollte man sich auf der Website des jeweils zuständigen Prüfungsamts informieren.

Welche Arten des Nachteilsausgleichs gibt es?

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Individueller Nachteilsausgleich

Viele erhalten den Nachteilsausgleich in Form einer Schreibpause, die nicht auf die Bearbeitungszeit angerechnet wird. Gestattet das Prüfungsamt eine Schreibpause von 20 Minuten, kann der Prüfling für 20 Minuten den Raum verlassen und diese tatsächlich genutzte Pausenzeit wird anschließend an die reguläre Bearbeitungszeit angehängt. Diese endet also 20 Minuten später. Es ist auch möglich, mehrere kurze Pausen zu machen.

Eine Verlängerung der Bearbeitungs- oder Vorbereitungszeit bei schriftlichen sowie mündlichen Prüfungen wird nur bei schweren Beeinträchtigungen, etwa bei gravierenden körperlichen Behinderungen wie Lähmungen, gewährt. Ebenso verhält es sich mit anderen, individuellen Formen des Nachteilsausgleichs. Damit sie notfalls von den Lippen ihrer Prüfer ablesen konnte, wurde etwa die Sitzposition der gehörlosen Volljuristin Mareike D. in ihrer mündlichen Prüfung angepasst.

Körperlich behinderte Prüflinge haben außerdem die Möglichkeit, eine juristisch nicht vorgebildete Person als Schreibhilfe in Anspruch zu nehmen. Dort, wo das E-Examen noch nicht eingeführt wurde, können die Aufsichtsarbeiten in einigen Ausnahmefällen auch an einem vom Prüfungsamt gestellten Computer getippt werden. Prüflinge mit Sehbehinderung erhalten Lesehilfen.

Die Art des Nachteilsausgleichs hängt maßgeblich von den individuellen Bedürfnissen der Prüflinge ab. Daher ist es auch nicht möglich, einen abschließenden Katalog aufzustellen. Teilweise ist auch Kreativität gefragt. So im Fall eines Medizinstudenten, der unter einem Tinnitus litt: So durfte er seine Klausur in einem separaten Raum schreiben, in dem leise Hintergrundmusik läuft, um ihn von seinem Tinnitus abzulenken (Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschl. v. 09.03.2015, Az. 9 S 412/15). Eine ähnliche Entscheidung zugunsten eines Jurastudierenden ist – soweit ersichtlich – bislang nicht ergangen, aber durchaus denkbar.

In jedem Fall betrachtet das Prüfungsamt bei seiner Entscheidung nicht nur die Belange des Prüflings, sondern auch wie die Beeinträchtigung und der eventuelle Nachteilsausgleich im Verhältnis zu den anderen Examenskandidaten stehen. Niemandem soll ein ungerechtfertigter Vorteil zukommen.

Voraussetzung: Prüfungsunabhängige Beeinträchtigung

Grundvoraussetzung, um den Nachteilsausgleich zu erhalten, ist eine prüfungsunabhängige Beeinträchtigung. Prüfungsunabhängig bedeutet, dass nicht die erwartete Prüfungsleistung an sich betroffen sein darf. Ausschlaggebend ist nur, ob der Prüfling in der Darstellungsfähigkeit seiner Leistung eingeschränkt ist, und nicht in seiner Leistungsfähigkeit selbst. Das ist beispielsweise bei körperlichen Behinderungen der Fall, die das Schreiben eines Gutachtens erschweren.

Untauglich sind hingegen krankheitsbedingte Konzentrationsschwächen. Denn es gehört zur Prüfungsleistung im juristischen Staatsexamen, in einer begrenzten Zeit einen komplexen Sachverhalt zu erfassen und darauf aufbauend ein Gutachten anzufertigen.

In Bezug auf Lese- und Rechtschreibschwächen gibt es keine einheitliche Praxis der Prüfungsämter. Der hessische Verwaltungsgerichtshof etwa entschied, dass auch Legasthenie eine prüfungsunabhängige Beeinträchtigung darstellt (VGH Kassel, Beschl. v. 03.01.2006, Az. 8 TG 3292/05). In Bayern hingegen wird nur ein Nachteilsausgleich für Leseschwächen gewährt, heißt es aus dem Justizministerium. Andere Prüfungsämter entscheiden erst nach Antragstellung, ob sie den Prüflingen einen Nachteilsausgleich für Lese- und Rechtschreibschwächen einräumen.

Die Beeinträchtigung muss anschließend in einem – meist formlosen – Antrag beim jeweils zuständigen Prüfungsamt dargelegt werden. Dafür ist ein ärztliches Zeugnis erforderlich. Auch hier muss auf landesspezifische Erfordernisse geachtet werden: In Baden-Württemberg beispielsweise kann nur ein Amtsarzt, der nicht der behandelnde Arzt des Prüflings sein darf, ein solches Zeugnis ausstellen. In Bayern kann der Nachweis beim gerichtsärztlichen Dienst oder beim Gesundheitsamt erlangt werden.

Antragsfrist zwischen drei und sechs Wochen vor der Prüfung

Auch die Antragsfrist unterscheidet sich von Bundesland zu Bundesland, beträgt meist aber zwischen drei und sechs Wochen vor dem Prüfungstermin. Besonders bei nur vorübergehenden Beeinträchtigungen sollte der Antrag jedoch nicht zu früh gestellt werden. In solchen Fällen besteht die Gefahr, dass das Prüfungsamt den Nachteilsausgleich unter dem Hinweis verwehrt, dass die Beeinträchtigung noch bis zum Prüfungstermin wegfallen kann. Tritt eine Prüfungsbeeinträchtigung erst nach Ablauf der Frist auf, muss der Antrag unverzüglich gestellt werden.

Anhand dieser Informationen evaluiert das Prüfungsamt anschließend, ob ein Nachteilsausgleich gewährt werden kann und wenn das der Fall ist, in welcher Form. Der Prüfling kann in seinem Antrag einen bestimmten Nachteilsausgleich vorschlagen, das Prüfungsamt ist daran aber nicht gebunden.

Probleme bei der praktischen Umsetzung

Der Nachteilsausgleich ist in der Theorie eine gute Möglichkeit zur Wahrung der Chancengleichheit. In der Praxis treten allerdings Probleme auf. Es fängt bereits vor der Antragsstellung an, wo mehr Aufklärung und auch mehr Transparenz in der Informationsbeschaffung wünschenswert ist. "Beim formlosen Antrag war ich mir teilweise sehr unsicher, was dort nun alles an Unterlagen und medizinischen Nachweisen reingehört und was nicht. Auf der Website des Prüfungsamts habe ich dazu keine Informationen gefunden. Generell hatte ich den Eindruck, dass das Prüfungsamt einem die Beantragung des Nachteilsausgleichs eher schwer machen will", erinnert sich eine Studierende aus Baden-Württemberg. Die Prüfungsämter bieten zumindest telefonisch ihre Hilfe an. 

Auch die Ausführung kann an manchen Stellen noch verbessert werden. So beschweren sich Prüflinge mit Schreibzeitverlängerung oft über die störende Unruhe, die beginnt, sobald die reguläre Arbeitszeit endet und alle anderen ihre Sachen packen und gehen. Und gerade in den letzten Minuten steht man nochmal unter besonders starkem Druck. Ein separater Raum für diejenigen mit Schreibzeitverlängerung wäre hier eine Lösung. 

Die Schreibpause bringt auch Komplikationen mit sich. "Bevor du den Raum verlassen kannst, um eine Pause zu machen, musst du erstmal deine Klausur abdecken, die Gesetze zuklappen und dann zur Prüfungsaufsicht gehen, um deine Pause anzumelden. Das nimmt bereits ein paar Minuten deiner Zeit in Anspruch, die nicht von der Pausenzeit erfasst und somit auch nicht an die Bearbeitungszeit angehängt werden", berichtet eine Examenskandidatin aus Baden-Württemberg. 

Nichtsdestotrotz bietet der Nachteilsausgleich Unterstützung für den ohnehin anstrengenden Weg zum Staatsexamen. Studierende sollten sich also nicht scheuen, ihre Prüfungsämter zu kontaktieren – nicht nur für die Beantragung des Nachteilsausgleichs, sondern auch für ein anschließendes Feedback. Allein der Austausch ermöglicht eine Chance auf Verbesserungen. 

Michelle Sieburg studiert Jura an der Universität Heidelberg.

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