"Die Examensvorbereitung ist prädestiniert für das Prokrastinieren"
LTO: Frau von Troschke, jeder erledigt mal lästige Aufgaben nicht sofort. Ist das schon Prokrastinieren?
Anna von Troschke: Der Begriff kommt ursprünglich aus dem Lateinischen und bedeutet "auf morgen verschieben". Im alten Rom bezeichnete der Begriff eine Militärstrategie, nach der man mit einer militärischen Handlung kalkuliert bis zum passenden Moment abwartete. Der Begriff wurde also positiv verstanden. Erst mit der industriellen Revolution ab der Mitte des 18. Jahrhunderts rückte das Leistungsdenken stärker in den Vordergrund und die "Prokrastination" erhielt eine zunehmend negative Konnotation.
Mittlerweile versteht man darunter ein negatives Aufschiebeverhalten. Das Phänomen Prokrastination ist erst in den 1980er Jahren in den Fokus der psychologischen Wissenschaft gerückt. Bei der Verwendung des Begriffs sollte man vorsichtig sein, denn er meint nur das pathologische bzw. chronische Aufschieben. Nicht jeder, der dazu tendiert, lästige Aufgaben mal auf morgen zu verschieben, hat eine psychische Erkrankung. In den Fällen, die nicht den erforderlichen Schweregrad erreichen, sollte man von "Aufschieben" oder "Aufschiebeverhalten" sprechen.
Wie erkenne ich denn eine krankhafte Prokrastination?
Im Gegensatz etwa zur Depression ist die Prokrastination nicht im Internationalen Register der Krankheiten (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems, ICD) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgeführt. Die sogenannte Prokrastinationsambulanz der Universität Münster hat aber "vorläufige Diagnosekriterien" entwickelt, die man verwenden kann. Hierzu muss man drei Fragen beantworten:
- Schieben Sie wichtige Tätigkeiten über den passenden Zeitpunkt hinaus sehr häufig auf, obwohl Ihnen eigentlich Zeit zur Verfügung steht?
- Leiden Sie unter Ihrem Aufschiebeverhalten?
- Beeinträchtigt Ihr Aufschiebeverhalten das Erreichen Ihrer persönlichen Ziele in starkem Ausmaß?
Wenn man diese drei Fragen mit "ja" beantwortet, besteht zumindest eine Tendenz zur Prokrastination. Bereits an den Fragen wird aber deutlich, dass eine gewisse Schwelle überschritten werden muss. Daneben gibt es auf der Homepage der Prokrastinationsambulanz noch einen ausführlicheren Selbsttest.
"Prokrastinieren hat drei Formen, die bei Juristen alle vorkommen"
Bei welchen Aufgaben prokrastinieren Juristen gerne?
Man unterscheidet akademisches, berufliches und alltägliches Prokrastinieren – und durch den Druck während der Juristenausbildung und auch im Beruf kommen alle drei Formen bei Juristen vor. Die Examensvorbereitung, in der man sich oft überfordert und einsam fühlt, ist prädestiniert für das akademische Prokrastinieren. Auch bei der Promotion sind viele sehr unsicher, weil sie beispielsweise dauerhaft Angst haben, dass jemand kurz vorher eine Doktorarbeit zum gleichen Thema abgibt.
Bei der beruflichen Prokrastination geht es häufig um neue Bereiche, bei denen man Angst hat, zu versagen, zum Beispiel wenn man einen Schriftsatz zu einem unbekannten Rechtsgebiet verfassen muss. Auch Aufgaben wie Rechnungen schreiben, Ablage oder unangenehme Gespräche mit Kollegen, Mandanten oder der gegnerischen Seite führen, schiebt man gerne auf.
Themen bei der alltäglichen Prokrastination sind beispielsweise die Steuererklärung oder Sport – viele denken sich oft, sie könnten ja mal wieder zum Sport gehen, finden dann aber ständig neue Ausreden. Das schlechte Gewissen hat man aber trotzdem.
Welche Folgen kann Prokrastinieren haben?
In jedem Fall führt es zu einem großen Zeitverlust. Es wird schwieriger, die täglichen Aufgaben zu erledigen und man schiebt den Examenstermin oder die Abgabe der Doktorarbeit immer weiter hinaus. Im schlimmsten Fall bricht man die Promotion ab. Wenn man zum Beispiel als angestellter Rechtsanwalt immer wieder die Fristen verlängert, kann man unter Umständen auch seinen Job verlieren.
Die Prokrastination hat auch Folgen für die mentale Gesundheit. Sie beeinträchtigt die Lebensqualität, man schläft schlechter, fühlt sich permanent gestresst und die Leichtigkeit und Freude fehlen. In ganz extremen Fällen kann sie auch zu einer Depression führen, weil man aufgrund der permanenten Selbstabwertung in eine Negativspirale rutscht. Betroffene trauen sich nichts mehr zu und isolieren sich häufig.
"Faule Menschen sind glücklich, nichts zu machen"
Wieso prokrastinieren Menschen?
Dafür gibt es verschiedene Ursachen. Gerade bei Juristen sind Prüfungsangst im Studium und im Examen, aber auch Perfektionismus große Probleme. Beides tritt häufig zusammen mit Prokrastination auf. Auch die Abgrenzung zu ADHS oder Depressionen ist nicht immer ganz einfach.
Deshalb muss man genau schauen, ob es wirklich um das reine Aufschieben geht oder ob andere Probleme dahinterstecken. Die Ursache für Perfektionismus ist häufig die Versagensangst – und die führt dann dazu, dass ich mich lieber ablenke mit Tätigkeiten, für die es eine "sofortige Belohnung" gibt. Der Klassiker in der Examensvorbereitung ist ja, dass man erstmal anfängt, die Wohnung zu putzen. Danach hat man direkt eine "Belohnung": eine saubere Wohnung. So kann man das Aufschieben rechtfertigen.
Manche Menschen leiden tatsächlich unter Prokrastination, andere schieben zwar auch Dinge auf, sind aber einfach faul. Wo ist der Unterschied?
Faule Personen sind glücklich damit, einfach nichts zu machen. Beim Aufschiebeverhalten bzw. der Prokrastination leidet die Person unter ihrem Verhalten, wertet sich selbst ab, weil sie viele Dinge einfach nicht schafft. Sie steht unter einem extremen Druck. Die Gedanken drehen sich nur darum, was man gerade eigentlich machen müsste: Zivilrecht lernen, endlich die erste Seite der Doktorarbeit schreiben oder den Schriftsatz fertigstellen. Zur Ablenkung putzt man dann die Wohnung oder scrollt durch Instagram – mit einem dauerhaft schlechten Gewissen.
"Fristen verlängern sollte nicht zum Verhaltensmuster werden"
Viele sagen, dass sie unter Druck einfach besser arbeiten. Wo liegt die Schwelle zur Prokrastination?
Das ist natürlich eine gute Rechtfertigung für sich selbst. Der Jazzmusiker Duke Ellington hat einmal gesagt: "Ich brauche nicht mehr Zeit, ich brauche eine Deadline." Auch Kreative neigen zu Prokrastination. Wenn man so unter Zeitdruck steht, sinkt aber die Qualität der Leistung und es passieren schneller Flüchtigkeitsfehler. Natürlich brauchen viele diesen "Last-Minute-Kick", aber die Konsequenz kann sein, dass ich gestresst bin, nachts schlecht schlafe und es kann auch immer etwas dazwischenkommen. Die Bahn hat Verspätung, das Kind wird krank – und dann hat man diesen einen zusätzlichen Tag einfach nicht mehr, den man eingeplant hatte.
Natürlich haben Juristen immer einen vollen Schreibtisch. Viele reizen Fristen aber regelmäßig bis zum letzten Tag aus oder beantragen Fristverlängerungen. Muss das wirklich immer sein?
Nein. Natürlich kann man das im Ausnahmefall mal machen. Problematisch wird es aber, wenn das ein typisches Verhaltensmuster wird und man merkt, dass man Fristen immer verlängern kann, ohne dass es Konsequenzen hat.
"Der erste Schritt muss eine Selbstreflexion sein"
Was kann man denn tun, wenn man merkt, dass das Aufschieben zum Verhaltensmuster und damit krankhaft wird?
Wenn man "Prokrastination" googelt, stößt man auf verschiedene Maßnahmen, die helfen sollen, vor allem beim Zeit- und Selbstmanagement. Die Menschen wenden dann verschiedene Techniken an, stellen aber schnell fest, dass es nicht besser wird. Das liegt daran, dass sie nicht an der Ursache des Aufschiebeverhaltens arbeiten. Deshalb muss der erste Schritt immer eine Selbstreflexion sein.
Hierfür sollte man sich zunächst die Frage stellen, welche Tätigkeiten man aufschiebt, also zum Beispiel immer das Lernen oder die Buchhaltung. Danach geht es darum, die Verhaltensmuster zu erkennen und zu überlegen, welche Ersatztätigkeiten man stattdessen macht. Dann muss ich mich selbst fragen, wie ich es rechtfertige, dass ich etwas anderes mache anstatt meiner eigentlichen Aufgaben.
Zudem muss ich noch herausfinden, welche Gefühle ich durch die Ersatztätigkeiten vermeiden möchte (z. B. Überforderung, Versagens- oder Bewertungsängste). Als fünfter Schritt der Selbstreflexion ist es auch immer wichtig, zu überlegen, welche Konsequenzen das Aufschiebeverhalten hat, sowohl kurzfristig als auch langfristig.
Was kommt nach der Selbstreflexion?
Wenn ich herausgefunden habe, was der Grund für mein Aufschiebeverhalten ist, kann ich gezielt daran arbeiten. Zeit- und Selbstmanagement spielen dabei regelmäßig eine große Rolle. Hier gibt es verschiedene Techniken, etwa das Setzen von (Teil-)Zielen oder die Pomodoro-Methode, das heißt 25 Minuten konzentriert arbeiten und dann fünf Minuten Pause. Nach vier "Pomodoros" gibt es dann eine längere Pause zwischen 15 und 30 Minuten.
Gerade bei der Promotion ist das Setzen von Teilzielen sehr wichtig. Das Ziel ist es natürlich, die Arbeit fertigzustellen und den Doktortitel zu erlangen, aber der Weg dahin ist schwierig und man ist schnell überfordert. Man kann auch mit einem Belohnungssystem arbeiten: Man kann sich etwa eine Massage gönnen oder einen Ausflug machen, wenn man ein Teilziel erreicht hat.
Welche weiteren Tipps haben Sie gegen Aufschiebeverhalten und Prokrastination?
Wenn man schon im Studium merkt, dass man die Tendenz zur Prokrastination hat, sollte man frühzeitig daran arbeiten. Die Probleme lösen sich auch mit dem Ersten bzw. Zweiten Staatsexamen und dem Berufseinstieg nicht in Luft auf.
Prokrastination ist ein erlerntes Verhalten, das man sich wieder abgewöhnen kann. Man hat nicht dauerhaft den Stempel als "Prokastinierer", sondern kann es gut in den Griff bekommen. Je nach Ausprägung entweder selbst, mit Unterstützung eines Coaches oder schließlich eines Therapeuten.
Vielen Dank für das Gespräch!
Anna von Troschke ist Rechtsanwältin, zertifizierter Business Coach für Juristinnen und Juristen und Rethinking Impostor Syndrome Coach. Beim Young Lawyers Camp vom 14. – 16. September 2023 hält sie einen Vortrag zum Thema "Perfektionismus – Fluch oder Segen für Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte".
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2023 M09 4
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