EGMR verhandelt Klimaklage junger Portugiesen: Muss man erst in 32 Staaten klagen?

von Dr. Franziska Kring

27.09.2023

David gegen Goliath: Sechs portugiesische Jugendliche fordern mehr Klimaschutz von 32 Staaten. Am Mittwoch verhandelte der EGMR. Die Staaten halten die Beschwerde u. a. mangels Erschöpfung des Rechtsweges für unzulässig.

Am Mittwochmorgen herrschte Aufbruchstimmung in Straßburg: Viele junge Menschen versammelten sich vor dem Gebäude des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR). Um sie herum Plakate mit Aufschriften wie "Kämpft für Eure Zukunft", "Lasst Euch nicht von Institutionen einschüchtern" oder "Seid stolz! Wenige sind so mutig wie Ihr". Menschen aus der ganzen Welt unterstützen die Klimaklage der sechs portugiesischen Jugendlichen.

Die Geschwister Mariana (11), Martim (20) und Cláudia Duarte Agostinho (24); André (15) und Schwester Sofia dos Santos Oliveira (18) sowie Catarina dos Santos Mota (23) verklagen 32 Staaten, darunter alle Mitglieder der Europäischen Union (EU), zudem Norwegen, Großbritannien, die Türkei, die Schweiz und Russland (Duarte Agostinho and Others v. Portugal and 32 Others, Beschw.-Nr. 39371/20). Ursprünglich richtete die Beschwerde sich auch gegen die Ukraine, nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine nahmen die Beschwerdeführenden davon aber Abstand. Unterstützt werden die jungen Beschwerdeführenden von der Nichtregierungsorganisation Global Legal Action Network (GLAN). Sie fordern strengere Klimaschutzmaßnahmen und Reduktionsziele. Noch nie waren so viele Staaten Partei vor dem EGMR.

Auf Seiten der gerügten Regierungen waren über 80 Anwälte im Gerichtssaal, teilte eine Sprecherin der Portugiesen mit. Die Beschwerdeführenden würden von lediglich sechs Anwälten vertreten. Daneben waren Vertreter der Europäischen Menschenrechtsbeauftragten, des Europäischen Netzwerks der Nationalen Menschenrechtsinstitutionen und der Europäischen Kommission bei der mündlichen Verhandlung als sogenannte Drittbeteiligte zugegen. Vertragsstaaten und betroffene Personen, die nicht Partei in dem Verfahren sind, können auf Antrag beim EGMR Stellungnahmen abgeben und an den mündlichen Verhandlungen teilnehmen. Zudem beteiligen sich verschiedene Organisationen wie Amnesty und Save the Children an dem Verfahren.

Junge Generation stärker von Erderwärmung betroffen

Unmittelbarer Anlass für die Klage waren die verheerenden Waldbrände in Portugal im Jahr 2017, unter anderem im dortigen Leira, bei denen mehr als hundert Menschen starben und riesige Waldgebiete zerstört wurden. Dies sei eine direkte Folge der Erderwärmung, argumentieren die jungen Beschwerdeführenden, die in Lissabon bzw. in der Region Leiria in Zentralportugal wohnen. Zudem werde gerade Portugal regelmäßig von extremen Hitzewellen und Waldbränden heimgesucht. Deshalb bestehe die Gefahr gesundheitlicher Probleme. Schon jetzt litten einige von ihnen unter Schlafstörungen, Allergien und Atembeschwerden. Während der Brände blieben die Schulen geschlossen und auch das Wohnhaus der Beschwerdeführenden aus Lissabon, das nah am Meer liegt, war gefährdet.

Die Beschwerdeführenden berufen sich auf eine Verletzung ihrer Rechte auf Leben aus Art. 2 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK. Auch das Diskriminierungsverbot aus Art. 14 EMRK sei verletzt, argumentieren die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, denn ihre Generation sei stärker von der Erderwärmung betroffen als ihre Vorgänger. Die Staaten kämen zudem ihren Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaschutzabkommen, insbesondere der Verpflichtung zur Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad gegenüber dem vorindustriellen Niveau, nicht nach.

Eigentlich muss man zunächst alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausschöpfen, bevor man weiter zum EGMR zieht. Das haben die Jugendlichen allerdings nicht getan, denn aufgrund des fortschreitenden Klimawandels müsse man jetzt handeln und es sei unverhältnismäßig, wenn sie als Jugendliche aus einkommensschwachen Familien zunächst den Rechtsweg in 32 Staaten bestreiten müssten.

Niederlande: Es gibt effektive nationale Rechtsmittel

Die beklagten Staaten, die am Mittwoch zuerst das Wort erhielten, halten die Individualbeschwerde der sechs jungen Menschen unter anderem aus diesem Grund für unzulässig. "Es gibt keinen Grund, hier von dieser Voraussetzung abzuweichen", sagt die belgische Vertreterin Isabelle Niedlispacher. Die Beschwerdeführenden hätten nicht einmal in einem der beklagten Staat versucht, den Rechtsweg zu bestreiten. Zudem gebe es in vielen Staaten eine Art Prozesskostenhilfe.

Der Niederländer Vincent de Graaf verwies in diesem Zusammenhang auch auf das viel beachtete, sogenannte Urgenda-Urteil hin, das die Klima-Initiative Urgenda gegen den niederländischen Staat erreicht hatte. Demnach muss die Niederlande ihre Treibhausgasemissionen drastisch senken. Das zeige, dass es zumindest in den Niederlanden effektive Rechtsmittel gebe, so de Graaf.

Beklagte Staaten: EGMR ist Richter, nicht Gesetzgeber

Die Staaten bezweifeln zudem, dass die portugiesischen Beschwerdeführenden überhaupt ihrer Hoheitsgewalt unterfallen, wie Art. 1 EMRK es erfordert. Grundsätzlich bezieht sich die Hoheitsgewalt nur auf Personen auf dem Territorium eines Staates. Die Beschwerdeführenden sind Portugiesen und wohnen alle in Portugal, deshalb übe allenfalls Portugal Hoheitsgewalt aus. Es gebe zwar Ausnahmen, in denen die extraterritoriale Anwendbarkeit der EMRK anerkannt sei. Das gelte insbesondere, wenn ein Staat "effektive Kontrolle" über Personen ausübe. Das sei hier aber nicht der Fall. Vielmehr forderten die Beschwerdeführenden den EGMR auf, "als Gesetzgeber zu handeln und nicht als Richter", so die Worte des britischen Anwalts Sudhansu Swaroop. Es sei zwingend erforderlich, Maßnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen, aber man solle die EMRK dennoch nicht derartig ausdehnen und ein neues Modell extraterritorialer Hoheitsgewalt entwickeln.

Außerdem seien die Beschwerdeführenden nicht beschwerdebefugt, da ihnen die sogenannte Opfereigenschaft fehle. Sie müssten geltend machen, durch eine Maßnahme direkt oder indirekt betroffen zu sein. Der Klimawandel betreffe jeden, wobei die Jugendlichen nicht mehr betroffen seien als alle anderen. Vielmehr handelten sie als "Promoter einer Popularklage", so der portugiesische Vertreter Ricardo Matos.

"Effektive Kontrolle über Emissionen, nicht Personen"

Für die Beschwerdeführenden hingegen steht fest, dass sie alle (potenzielle) Opfer der unzureichenden Klimaschutzmaßnahmen der Staaten sind. Als Jugendliche und junge Erwachsene müssen sie die Folgen davon besonders lange miterleben, argumentiert ihre Anwältin Alison Macdonald. Dass alle Menschen unter den Auswirkungen des Klimawandels litten, mache die Beschwerde nicht automatisch unzulässig. Ansonsten würden viele schwere Menschenrechtsverletzungen aus dem Anwendungsbereich der Konvention ausgeschlossen.

Außerdem müsse der EGMR den Begriff der Hoheitsgewalt flexibler auslegen: Alle beklagten Staaten hätten zum Klimawandel beigetragen, deshalb seien auch alle dafür verantwortlich, dessen Folgen abzumildern. Sie übten zwar keine direkte physische Kontrolle über die Beschwerdeführenden aus, aber sie kontrollierten ihre Treibhausgasemissionen. Dadurch verletzten sie die Rechte der Beschwerdeführenden aus Art. 2 und 8 EMRK. Es komme hier auf die effektive Kontrolle über die Emissionen, nicht über die Personen an.

Zudem sei es nicht zwingend erforderlich, alle nationalen Rechtsmittel auszuschöpfen. Auch hier müsse man flexibler sein: Es sei unverhältnismäßig, wenn die die jungen Beschwerdeführenden alle Rechtsmittel in allen Staaten ausschöpfen müssten: "Unter diesen außergewöhnlichen Umständen ist der EGMR das Rechtsmittel", sagte Macdonald.

"Die Beratungen beginnen morgen"

Wenn die jungen Portugiesen Recht bekommen, könnte der EGMR die beklagten Staaten zum Beispiel dazu auffordern, ihre Treibhausgasemissionen zu verringern oder strengere Klimaziele zu beschließen und einzuhalten. GLAN-Anwalt Gerry Liston spricht von einem möglichen "Gamechanger".

Auch die Klimaseniorinnen, die am Mittwoch aufmerksam dem Verfahren folgten, sind "zuversichtlich, mit ihrem Fall Geschichte zu schreiben", so Co-Präsidentin Anne Mahrer. Sie fordern strengere Klimaschutzmaßnahmen in der Schweiz. Ihr Fall wurde schon im März verhandelt, eine Entscheidung steht allerdings noch aus.

Mit einem Urteil im Fall der Jugendlichen aus Portugal ist erst im nächsten Jahr zu rechnen. Die Richter stellten am Mittwoch viele Fragen an beide Parteien – offenbar zu viele, um sie alle am Verhandlungstag zu beantworten. Den Beschwerdeführenden gelang das dennoch, den beklagten Staaten nicht. Diese haben jetzt noch zwei Wochen Zeit, schriftliche Antworten nachzuliefern. EGMR-Präsidentin Siofra O'Leary wies noch darauf hin, dass man die auch einhalten sollte: "Die Beratungen beginnen morgen."

Mit Materialien der dpa

Zitiervorschlag

EGMR verhandelt Klimaklage junger Portugiesen: Muss man erst in 32 Staaten klagen? . In: Legal Tribune Online, 27.09.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52800/ (abgerufen am: 27.04.2024 )

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