Bilanz nach acht Monaten Wirecard-Prozess: Warten auf den Schlüs­sel­mo­ment

03.08.2023

58 Tage wurde im Münchner Betrugsprozess gegen Markus Braun bislang verhandelt. Einen eindeutigen Beweis gegen den Ex-Vorstandschef des zusammengebrochenen Dax-Konzerns gibt es noch nicht – und die Beweisaufnahme könnte verlängert werden.

Im Münchner Wirecard-Prozess zeichnet sich eine Verlängerung über die bis Januar eingeplanten 100 Verhandlungstage hinaus ab. "Das Gericht denkt über eine Beweisaufnahme bis in den Februar nach", sagte ein Gerichtssprecher gegenüber der dpa. Der Vorsitzende Richter Markus Födisch erklärte in einer Randbemerkung in der Verhandlung am Donnerstag einen Abschluss vor Ende 2024 für "realistisch".

Einen zweifelsfreien Beweis, dass der frühere Vorstandschef Markus Braun am mutmaßlichen Milliardenbetrug bei dem 2020 zusammengebrochenen Dax-Konzern beteiligt gewesen sein könnte, hat das Verfahren auch nach acht Monaten Verhandlungsdauer nicht zutage gefördert.

Die Verteidiger des Ex-Vorstandschefs fordern indes die Freilassung des seit drei Jahren in Untersuchungshaft sitzenden Managers. Alfred Dierlamm, einer der Verteidiger, beantragte am Donnerstag vor dem Landgericht München I außerdem erneut die Aussetzung des Verfahrens und warf der Justiz schwere Fehler vor. Der Verteidiger sprach von einer "Farce". "Eine Auswertung der Zahlungsflüsse [bei Wirecard] hat faktisch nicht stattgefunden", so Dierlamm.

"Auch nach über drei Jahren Verfahrensdauer haben die Justizbehörden das wahre Tatbild und die Veruntreuungen von Wirecard-Vermögen in Millionenhöhe nicht - nicht einmal ansatzweise - aufgeklärt", sagte Dierlamm. "Im Gegenteil: Sie tun alles, um das falsche Narrativ von Herrn Dr. Braun als 'Bandenchef' aufrecht zu erhalten", empörte sich der Verteidiger.

Die Staatsanwaltschaft hat in den vergangenen drei Jahren bei jeder Prüfung die Verlängerung der Untersuchungshaft beantragt, nun wollen die Ankläger innerhalb einer Woche Stellung zur Aussetzung des Haftbefehls nehmen. Eine Aussetzung des Verfahrens hatte das Gericht bereits im Januar abgelehnt – und diese Entscheidung am Donnerstag bekräftigt, bevor Anwalt Dierlamm dies zum zweiten Mal forderte.

Anklage: Braun und Komplizen erdichteten Milliardenumsätze

Wirecard wickelte an der Schnittstelle zwischen Dienstleistern beziehungsweise Händlern und Banken Kreditkartenzahlungen ab.

Laut Anklage sollen Braun und zwei mitangeklagte frühere Wirecard-Manager eine kriminelle Bande gebildet und Milliardenumsätze mit sogenannten Drittpartnerfirmen (TPA) erdichtet haben. Diese sollen im Auftrag von Wirecard Kreditkartenzahlungen in asiatischen Ländern abgewickelt haben, in denen dem bayerischen Konzern die entsprechende Lizenz fehlte.

Im Vertrauen auf die angebliche hohe Profitabilität gewährten die Banken dem Konzern Kredite in Höhe von gut drei Milliarden Euro, mit der Insolvenz ging ein großer Teil dieser Darlehen verloren. Grundlage sind die Aussagen des Kronzeugen Oliver Bellenhaus, dem ehemaligen Wirecard-Geschäftsführer in Dubai.

Braun selbst glaubt laut seiner Aussage im Februar an die Existenz der Drittpartnergeschäfte – und forderte die Justiz auf, die seit 2020 vermissten rund zwei Milliarden Euro zu suchen. Damit widersprach er Bellenhaus, nach dessen Aussage diese Erlöse frei erfunden waren.

450 Beweisanträge sollen Brauns Unschuld belegen

Brauns Verteidiger halten den seit Sommer 2020 untergetauchten Vertriebsvorstand Jan Marsalek, der sich vor kurzem mit einem Schreiben über seinen Anwalt in den Prozess einschaltete, Bellenhaus und Mittäter für die Schuldigen. Sie sollen laut Verteidigung zwei Milliarden Euro aus echten Geschäften veruntreut haben. Ihnen soll es demnach gelungen sein, Kunden und Drittpartnerumsätze heimlich in ein eigenes Geflecht von Schattenfirmen umzuleiten, ohne dass Braun und die ehrliche Mehrheit der Wirecard-Belegschaft davon Wind bekommen hätten. Das in der Anklage geschilderte Tatbild ist "erwiesenermaßen falsch, weil es von einem falschen Tatmotiv, von einer falschen Tatstruktur und einer falschen Bandenzusammensetzung ausgeht", sagte Dierlamm.

Mit einem Berg von 450 Beweisanträgen will die Verteidigung die Unschuld ihres Mandanten belegen. Er sei ein "ahnungsloses Opfer". An der Ausgangssituation hat sich seit dem Prozessauftakt am 8. Dezember 2022 nichts Grundlegendes geändert: Braun beteuert seine Unschuld, Dierlamm attackierte Bellenhaus als "professionellen Lügner". Der frühere Wirecard-Chefbuchhalter als dritter Angeklagter schweigt.

Im Prozess wusste bislang keiner der vielen Zeugen Genaueres über Brauns Aktivitäten zu berichten. Schriftliche Belege, dass der österreichische Manager seine Angestellten zu kriminellen Handlungen angestiftet oder davon gewusst hätte, fehlen ebenfalls. Die bisherigen Zeugenaussagen haben allerdings auch keinerlei Hinweis geliefert, dass Wirecard-Mitarbeiter jemals Kunden oder Interessenten an Drittfirmen vermittelt hätten, ob echte oder falsche. "Keiner kannte die TPA-Partner, und keiner wusste, was da vermittelt werden sollte", sagte dazu der frühere Wirecard-Revisor.

"Vertrauen Sie mir, ich habe Herrschaftswissen"

Hervorgetreten ist bislang das Bild eines Vorstandschefs, der sich um das Tagesgeschäft nicht kümmerte oder kümmern wollte, sondern dies weitgehend dem seit drei Jahren untergetauchten Vertriebsvorstand Jan Marsalek überließ.

Vorwürfe, dass es bei Wirecard nicht mit rechten Dingen zugehe, gab es schon mehr als ein Jahrzehnt vor der Insolvenz. Die Zeugenaussagen zeichnen ein Bild von einem Konzern, in dem es chaotisch zugegangen sein und der Vorstand kein besonderes Interesse an der Rechtstreue gezeigt haben muss. Braun habe danach die gegen das Unternehmen erhobenen Vorwürfe abzutun gepflegt, ohne diesen nachzugehen.

Im April 2020 forderte der Aufsichtsrat kategorisch die Veröffentlichung einer Ad-hoc-Mitteilung, nachdem eine Sonderprüfung der Wirecard-Bilanzen durch die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft schwere Mängel zu Tage gefördert hatte. Doch Braun tat das Gegenteil: Er ließ die Finanzwelt wissen, es gebe keinen Nachweis für Bilanzmanipulation – und ignorierte die Aufforderung des Aufsichtsrats, die Mitteilung zu korrigieren. "Vertrauen Sie mir, es ist alles da. Ich habe Herrschaftswissen", soll Braun damals laut Aussage eines der beteiligten KPMG-Prüfer erklärt haben.

Wo ist das Geld?

Was Braun noch alles gewusst hat und was mit den vermissten Milliarden passiert ist, wird im Prozess aufzuklären sein. Dabei wird der Ex-Vorstandschef laut Verteidigung tatkräftig unterstützen: "Herr Dr. Braun tut alles, was in seiner Situation möglich ist, um das wahre Tatgeschehen aufzuklären, und wird dies auch weiterhin tun", sagte Dierlamm.

Auch Insolvenzverwalter Michael Jaffé hat bislang keine Spur des Geldes gefunden. Der Münchner Anwalt war noch nicht als Zeuge geladen, seine Aussage könnte ein Schlüsselmoment des Prozesses werden. Doch zunächst sind jetzt drei Wochen Sommerpause, der nächste Prozesstag ist der 30. August.

dpa/fkr/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

Bilanz nach acht Monaten Wirecard-Prozess: Warten auf den Schlüsselmoment . In: Legal Tribune Online, 03.08.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52410/ (abgerufen am: 28.04.2024 )

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