Fehlerkultur in der Justiz: Von Anwälten und Atom­kraft­werken lernen

von Annelie Kaufmann

14.09.2019

Was eine professionelle Fehlerkultur angeht, ist man in der Justiz noch ganz am Anfang. Das liegt nicht nur daran, dass Richter gern Recht haben. Es fehlen auch der Austausch mit anderen Berufsgruppen und wissenschaftliche Expertise.

"Fehlerkultur", das ist für die Justiz ein relativ neuer Begriff, das gibt Dr. Holger Matthiessen, Präsident des Landgerichts (LG) Berlin, gleich zu Beginn der Veranstaltung zu: "Andere diskutieren das schon länger. Ich denke da eher an die Anwälte, Atomkraftwerke und Unternehmen." Der Deutsche Richterbund (DRB) hatte am Donnerstagabend ins Kammergericht in Berlin geladen, initiiert von den Landesverbänden Berlin und Brandenburg, um über "Fehlerkultur in der Justiz" zu diskutieren. Es zeigte sich schnell, dass man an den Gerichten durchaus gewillt ist, darüber zu sprechen – sich aber auch noch ausgesprochen schwertut.

"Déformation professionelle", nennt Prof. Dr. Fabian Wittreck, Leiter des Instituts für Öffentliches Recht und Politik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, was als Klischee bekannt ist: Wer im Berufsleben den ganzen Tag Recht haben soll, tut sich eben besonders schwer damit, Fehler zuzugeben.

Es gibt aber noch andere Gründe dafür, dass die Fehlerkultur in der Justiz bisher wenig ausgeprägt ist. Vorgesehen ist zunächst einmal, dass fehlerhafte Entscheidungen von höheren Gerichten überprüft werden. Ist die letzte Instanz erreicht, muss Schluss sein – schon um den Rechtsfrieden zu gewährleisten. Was natürlich nicht heißt, dass höchstrichterliche Entscheidungen stets frei von Fehlern wären.

"Richter sind im Vorteil"

Zum anderen bringt die richterliche Unabhängigkeit Privilegien mit sich, von denen Anwälte, Atomkraftwerke und auch ganz normale Staatsbeamte nur träumen können. Dazu gehört etwa, dass eine Amtshaftung nach § 839 Abs. 2 BGB bei einem Urteil in einer Rechtssache nur dann in Betracht kommt, wenn der Richter zugleich eine Straftat begangen hat – etwa Rechtsbeugung.

Anwälte haften dagegen unter Umständen auch dann, wenn nicht nur sie selbst oder ihre Mitarbeiter, sondern zusätzlich das Gericht einen Fehler macht: "Wenn ein Anwalt es übersieht, auf ein BGH-Urteil hinzuweisen, auf das es für den Fall ankommt und das Gericht übersieht das auch, dann haftet der Anwalt", so die Strafverteidigerin Margarete von Galen. "Richter sind da im Vorteil".

Allerdings führe die Haftung eben auch dazu, dass Anwälte zwingend eine Fehlerkultur etablieren müssen. In der Anwaltschaft diskutiert man darüber deshalb schon länger, unter anderem war es Thema auf dem Deutschen Anwaltstag 2018.

Grundsätzlich sind solche Privilegien notwendig, um Richtern eine möglichst freie und unabhängige Urteilsfindung überhaupt zu ermöglichen, ohne übertriebene Angst vor persönlichen Konsequenzen. Deshalb ist auch die Gerichtsverwaltung nicht dazu berufen, die Urteile einzelner Richter zu kritisieren: "Ich kann mich ja nicht mit den Richtern zum Kaffee hinsetzen und sagen: Was haben Sie denn da entschieden?", betont Matthiessen.

Was ist eigentlich ein Fehler?

Unklar ist aber zunächst, worum es überhaupt gehen soll, wenn von Fehlern in der Justiz gesprochen wird. Ist die falsche Entscheidung eines Amtsrichters, die in der nächsten Instanz aufgehoben wird, schon ein Fehler?

Oder geht es um die falsche Würdigung von Tatsachen? Seit langem sehen Anwälte da insbesondere im Strafprozess eine entscheidende Fehlerquelle: Die Hauptverhandlung wird weder protokolliert noch per Tonband oder Video aufgezeichnet. Stattdessen schreibt der verhandlungsführende Richter selbst mit. "Wenn man sich eingestehen würde, wie leicht da Fehler passieren können, dürfte man an einer Dokumentation der Hauptverhandlung gar nicht länger zweifeln", so von Galen.

Das Thema wolle man lieber nicht vertiefen, wehrt Matthiessen ab. In der Justiz wehrt man sich dagegen seit langem, weil man fürchtet, eine weitere Tatsacheninstanz zu schaffen, die das hergebrachte Rechtsmittelsystem ins Wanken bringt. Inzwischen denkt man allerdings auch im Bundesjustizministerin intensiv über eine entsprechende Regelung in der Strafprozessordnung nach.

Fehler könnten aber auch die "Kleinigkeiten im Gerichtssaal" sein, so die Vorsitzende des Brandenburger Richterbundes Claudia Cerreto. Ein ruppiger Satz gegenüber dem Angeklagten, der falsche Tonfall in der Verhandlung – das kann auch einfach daran liegen, dass der Richter einen schlechten Tag erwischt. Wittreck von der Uni Münster meint: "Richter können ruhig in der nächsten Verhandlung mal sagen: Es tut mir leid, ich habe mich Ihrem Zeugen gegenüber im Ton vergriffen."

Mit öffentlicher Kritik umgehen

Sich einfach mal zu entschuldigen, das dürfte aber auch den meisten Richtern noch verhältnismäßig leichtfallen. Das ist schließlich eher eine Frage der Umgangs- als der Fehlerkultur.

Viel schwerer fällt der öffentliche Umgang mit Fehlern. Hier wird schnell klar, dass die Gerichte sich vor allem selbst ungerecht behandelt fühlen: Viel zu häufig sei in der Presse und in der Öffentlichkeit von "Fehlurteilen" und "Justizskandalen" die Rede. "Was da alles als Justizirrtum oder Skandal gebrandmarkt wird, obwohl die Richter keine Fehler gemacht haben, sondern sorgfältig abgewogen haben und das Gesetz richtig angewendet - das wir in der Presse oft völlig verkürzt dargestellt", kritisiert Matthiessen.

Wenn es kein Fehler war, gehöre es aber auch nicht zur Diskussion um Fehlerkultur, merkt von Galen an. Der Umgang mit öffentlicher Kritik an Entscheidungen sei aber auch ein Problem. Sie schlägt mehr Transparenz vor: "Warum sollten Richter nicht einfach mal ihre Entscheidungen öffentlich erklären?"

Das könne er sich so nicht vorstellen, meint Matthiessen und ist sich darin einig mit dem Präsidenten des Brandenburgischen Oberlandesgerichts, Klaus-Christoph Clavée. "Das Ergebnis eines Urteils ist eben hinzunehmen", so Matthiessen. "Warum sollten Richter öffentlich erklären, warum sie so und nicht anders entscheiden haben und was sie sich dabei gedacht haben? Dafür gibt es schließlich die Urteilsbegründung."

Hilft mehr Supervision?

Es gehe stattdessen darum, intern intensiver zu diskutieren. Mehr Supervision sei eine Lösung, schlägt Matthiessen vor. Diese Möglichkeit gibt es bereits, einzeln oder in Gruppen können sich Richter über ihre Erfahrungen austauschen. Wichtig sei ein Einzelcoaching insbesondere für Richter in sehr schwierigen Situationen, etwa im Strafprozess. "Da brauchen wir mehr Angebote."

Ein Hospitationsprogramm, bei dem sich Richter gegenseitig in der mündlichen Verhandlung besuchen sollten, um voneinander zu lernen, sei allerdings von den Kollegen kaum wahrgenommen worden, so Matthiessen. Er ist dennoch überzeugt, dass es einen intensiven Austausch unter den Kollegen gibt.

Ein Familienrichter aus dem Publikum merkt dagegen selbstkritisch an: "Wenn wir in der Kantine miteinander sprechen, dann wollen wir uns doch vor allem gegenseitig versichern, dass wir das schon ganz gut machen." Und auch in Supervisionsgruppen komme das häufig vor. "Vielleicht kommt man besser voran, wenn man auch mit anderen Berufsgruppen spricht."

Tatsächlich ist nicht nur die Justiz allein gefragt, wenn es darum geht, eine professionelle Fehlerkultur zu entwickeln. Sie braucht dafür auch Expertise von außen. Wittreck weist insofern auch auf die Versäumnisse der Wissenschaft hin: "Es gibt zur Fehlerkultur in der Justiz kaum belastbare wissenschaftliche Erkenntnisse." Das wäre allerdings die erste Voraussetzung, um überhaupt eine ernsthafte Auseinandersetzung führen zu können.

Zitiervorschlag

Fehlerkultur in der Justiz: Von Anwälten und Atomkraftwerken lernen . In: Legal Tribune Online, 14.09.2019 , https://www.lto.de/persistent/a_id/37623/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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