Ex-BVerfG-Präsident Voßkuhle zum Streit um EZB-Urteil: "Befan­gener kann man nicht sein"

von Annelie Kaufmann

22.06.2021

Der ehemalige BVerfG-Präsident Andreas Voßkuhle wirft sich in die Debatte um die EZB-Entscheidung des BVerfG, den Streit mit dem EuGH, das drohende Vertragsverletzungsverfahren und die Rechtsstaatlichkeit in der EU.

Die mediale Abkühlungsphase ist vorbei, Andreas Voßkuhle äußert sich wieder öffentlich und zwar mit dem Sendungsbewusstsein, das man als ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat - dem "derzeit wahrscheinlich angesehensten Gericht der Welt", so jedenfalls eben jener Ex-Präsident in einem Nebensatz seines Vortrags am Montagabend.

Die digitale Veranstaltung an Voßkuhles Heim-Uni Freiburg trug den Titel "Die europäische Rechtsgemeinschaft in der Krise!?" Es war zu erwarten, dass Voßkuhle dort anknüpfen würde, wo er aufgehört hatte, bevor seine Amtszeit im Mai 2020 zu Ende ging, nämlich beim spannungsgeladenen Verhältnis von BVerfG und Europäischem Gerichtshof (EuGH).

Das Luxemburger und das Karlsruher Gericht sind heftig aneinandergeraten. Vor einem Jahr erklärte das BVerfG erstmals ein Urteil des EuGH für "ultra vires", nannte die Prüfung des Anleihenkaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) "schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar". Nun hat die EU-Kommission wegen dieser BVerfG-Entscheidung ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet.

Voßkuhles Vortrag befasste sich grundsätzlich mit der Idee der europäischen Rechtsgemeinschaft, ihren Gefährdungen und den Mitteln, den Rechtsstaat in den Mitgliedstaaten zu schützen. Der Konflikt zwischen dem Luxemburger und dem Karlsruher Gericht war dabei nicht zu übersehen.

Die Ohnmacht der EU gegenüber den abtrünnigen Mitgliedern 

Dabei warnte Voßkuhle davor, vorschnell eine Krise in Europa anzunehmen. So lasse sich etwa aus einer Vielzahl an Vertragsverletzungsverfahren nicht bereits auf ein Vollzugsdefizit in den Mitgliedstaaten schließen. In vielen Vertragsverletzungsverfahren gehe es um die fehlende Umsetzung von Richtlinien, die oft eher auf internen politischen Problemen beruhe, denn auf mangelnder Anerkennung des Unionsrechts.  

Ernste rechtsstaatliche Defizite sah Voßkuhle jedoch insbesondere in Polen und Ungarn, in beiden EU-Mitgliedstaaten haben die rechtspopulistischen Regierungen massiv auf die Justiz zugegriffen. Ein derartig tiefgreifender Umbau des nationalen Rechtssystems kann auch aus Sicht der EU-Rechtsgemeinschaft nicht folgenlos bleiben. Schließlich hatte der Europäische Rat 1993 mit Blick auf die EU-Osterweiterung die sogenannten Kopenhagener Kriterien beschlossen, die alle Beitrittsländer erfüllen müssen. Dazu gehört eine rechtsstaatliche Grundordnung.  

Die EU hat verschiedene Instrumente an der Hand, um die europäische Rechtsgemeinschaft zu schützen. Dazu gehört der Rahmen zur Stärkung des Rechtsstaatsprinzips, ein Verfahren, in dem die Kommission im Dialog mit einem Mitgliedstaat Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit anspricht. Hat das keinen Erfolg, können es in einem Verfahren nach Art. 7 des Vertrags der Europäischen Union (EUV) Sanktionen verhängt werden, bis hin zur Aussetzung der Stimmrechte. Auch weitere Instrumente wie der Europäische Mechanismus zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit, das europäische Semester und das EU-Justizbarometer, sollen die Rechtsstaatlichkeit stärken, indem mit Berichten und Statistiken auf die Lage der Justiz in den Mitgliedstaaten aufmerksam gemacht wird. 

Nichts davon scheint bisher wirklich zu wirken. Die Hoffnung, man könne mit frühzeitiger Kommunikation Veränderungen im Verhalten abtrünniger Mitgliedstaaten erreichen, habe sich nicht erfüllt, so Voßkuhle. Für die "nukleare Option", den Entzug von Stimmrechten, müsste der Europäische Rat zunächst einstimmig feststellen, dass eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte – Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte – vorliegt. Eine einstimmige Entscheidung sei aber regelmäßig zum Scheitern verurteilt, sobald mehr als ein Mitgliedstaat Sanktionen befürchten muss, so Voßkuhle.

Der EuGH - ein Gericht mit Agenda?

Die EU-Kommission und die Mitgliedstaaten wirken also oft ohnmächtig. Dem EuGH kommt angesichts dessen eine zentrale Rolle zu – allerdings keine unproblematische. Voßkuhle bezeichnete das Luxemburger Gericht mit den Worten des ehemaligen BVerfG-Richters Dieter Grimm als "Gericht mit einer Agenda". Es sei eben kein Wahrer der Interessen der Mitgliedstaaten, auch kein neutrales Schiedsgericht, sondern habe vielmehr von vorneherein die europäische Integration vorangetrieben.  

"Ohne den Beitrag des EuGH wäre die EU heute rechtlich schlechter verfasst", sagte Voßkuhle. Doch die Versuche des EuGH, die Rechtsstaatlichkeit in der EU zu wahren, sieht er sehr skeptisch. Als Kipppunkt macht Voßkuhle dabei die Luxemburger Entscheidung zur Unabhängigkeit der portugiesischen Justiz vom Februar 2018 aus. Damals hatte der EuGH auf Grund einer Vorlage des Obersten Verwaltungsgerichtshof in Portugal zu klären, ob es gegen die richterliche Unabhängigkeit verstößt, wenn die Bezüge von Richtern vorübergehend gekürzt werden, um ein Haushaltsdefizit abzubauen.  

Im Ergebnis billigten die Luxemburger Richterinnen und Richter die Entscheidung des portugiesischen Gesetzgebers. Aber sie nutzten die Gelegenheit um deutlich zu machen, was genau sie sich unter dem wirksamen Rechtsschutz vorstellen, den die Mitgliedstaaten nach Art. 19 Abs. 1 EUV gewährleisten müssen. Mit einem "Husarenstreich" habe der EuGH sich damit die Kompetenz geschaffen, die gesamte interne Organisation der Justiz eines Mitgliedstaates am Maßstab der unionsrechtlichen Vorstellung richterlicher Unabhängigkeit zu messen, obwohl es sich um einen nicht harmonisierten Bereich handele, so Voßkuhle. 

Und seitdem verfolge der EuGH diese selbst angelegte Linie weiter: So sei die Entscheidung, dass die deutsche Staatsanwaltschaft keinen europäischen Haftbefehl ausstellen darf, weil sie nicht unabhängig ist, "vielleicht nicht zwingend, aber noch nachvollziehbar", so Voßkuhle. Bei der Vorlage des Verwaltungsgerichts Wiesbaden, das sich selbst für nicht ausreichend unabhängig hielt, habe der EuGH aber "größte Schwierigkeiten" gehabt, letztlich zu dem Ergebnis zu kommen, dass es sich sehr wohl um ein unabhängiges Gericht handele. Voßkuhle betonte auch, dass es eben nicht nur auf die formellen Strukturen, sondern auch auf die Rechtskultur ankomme, die in einem Mitgliedstaat gepflegt werde. 

Bekommt der EuGH also die von ihm selbst aufgeworfene umfangreiche Überprüfung der Justizstrukturen nicht mehr in den Griff? Theoretisch mag das ein Problem sein, in der Praxis hat der EuGH aber gerade nicht das deutsche Justizsystem über den Haufen geworfen, als er über das VG Wiesbaden zu entscheiden hatte. Und er zeigt sich gegenüber den polnischen Gerichten, die ihn immer wieder mit Vorlageverfahren befassen, eher zurückhaltend und spielt den Ball an die dortige Justiz zurück, wie etwa im Streit um die Disziplinarkammer.  

Sackgasse EZB-Streit – und ein Kompetenzgerichtshof? 

Nicht zu übersehen ist aber die problematische Situation, in die sich BVerfG, EuGH und – aus Voßkuhles Sicht wohl maßgeblich – die EU-Kommission nun hineinmanövriert haben: Das Vertragsverletzungsverfahren, das die EU-Kommission nach der EZB-Entscheidung des BVerfG eigeleitet hat, kann eigentlich nur in eine Sackgasse führen. Sollte es vor dem EuGH landen, so hätten die Luxemburger Richter über ihre eigene Urteilsfindung bzw. die Reaktion auf ihr Urteil zu entscheiden. "Befangener kann man nicht sein", kommentierte Voßkuhle. Und wies daraufhin, dass eine Entscheidung, wie die des BVerfG, "Anlass zur Selbstkritik" sein sollte. 

Sollte der EuGH tatsächlich eine Vertragsverletzung feststellen, so fände sich die Bundesrepublik in der seltsamen und sicherlich nicht erstrebenswerten Situation wieder, eben jenes weltweit angesehene, unabhängige und entsprechend selbstbewusste BVerfG maßregeln zu müssen – wie das aussehen sollte, ist völlig unklar.  

Wie also der Krise der Rechtsstaatlichkeit in der europäischen Union begegnen? Voßkuhle plädiert dafür, stärker auf politischen Druck zu setzen. Im Europäische Rat müssten die Regierungschefs auf ihre Kolleginnen und Kollegen einwirken. Daneben brauche es eine breite Diskussion über die Grundlagen der EU, an der sich die gesamte Gesellschaft beteiligen müsse. 

Und was wird aus den Kontrahenten EuGH und BVerfG? Nach dem Clash der EZB-Entscheidung wurde auch die – nicht unumstrittene – Idee eines Kompetenzgerichtshofs wieder in den Raum geworfen und der kann Voßkuhle viel abgewinnen. Er schlägt ein Ad-hoc-Gericht vor, das etwa zu zwei Dritteln mit Präsidentinnen und Präsidenten der nationalen Verfassungsgerichte und zu einem Drittel mit EU-Richtern besetzt würde. In bestimmten Fällen könnte dieses Gericht dann angerufen werden, um Kompetenzfragen zu klären.  "Das wäre eine gute Sache", so Voßkuhle. "Es würde dazu führen, dass die Verfassungsgerichte der Mitgliedstaaten sich um diese Kompetenzfragen nicht mehr kümmern müssen – sie dem EuGH zu überlassen, würde aber auch nicht funktionieren." 

Auch eine Möglichkeit also: EuGH und BVerfG könnten sich beide etwas zurückziehen und die Bühne wieder stärker den politischen Akteuren überlassen. Ob das der richtige Weg ist, um die Rechtsstaatlichkeit in der EU wieder auf stabilere Füße zu stellen, bleibt erstmal ungewiss. 

Zitiervorschlag

Ex-BVerfG-Präsident Voßkuhle zum Streit um EZB-Urteil: "Befangener kann man nicht sein" . In: Legal Tribune Online, 22.06.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/45273/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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