Aufklärung von IS-Verbrechen im Irak: "Die Ableh­nung des IS eint die ira­ki­sche Gesell­schaft"

Interview von Dr. Christian Rath

05.06.2023

Der deutsche Bundesanwalt Christian Ritscher leitet im Irak ein UN-Team zur Aufklärung von IS-Verbrechen. Christian Rath sprach mit ihm über seine Tätigkeit und woran die Zusammenarbeit mit der irakischen Justiz hakt.
 

LTO: Herr Ritscher, was macht ein deutscher Bundesanwalt im Irak?

Christian Ritscher: Ich leite die UN-Untersuchungskommission zur Aufklärung von IS-Verbrechen im Irak namens UNITAD.

Wie groß ist das Untersuchungsteam?

Wir haben rund 150 feste Stellen und bis zu 70 weitere Vertragskräfte. Die Mitglieder des Teams kommen aus der ganzen Welt, inzwischen aber auch ein Drittel aus dem Irak. Etwa die Hälfte der Mitarbeiter:innen sind Frauen.

Wo ist Ihr Arbeitsplatz?

Ich arbeite meist in unserer Zentrale in der Hauptstadt Bagdad, auch um den Kontakt zu den irakischen Institutionen zu halten. Ich bin aber regelmäßig in unseren beiden Außenstellen in den kurdischen Städten Erbil und Dohuk. Oft reise ich auch ins Ausland, insbesondere zu Tagungen, um die Arbeit von UNITAD vorzustellen. Wir wollen zeigen, dass man Massenkriminalität - wie die des IS im Irak - mit rechtsstaatlichen Mitteln aufarbeiten kann.

Christian Ritscher

Ihr offizieller Titel ist "Special Adviser". Wen beraten Sie?

Der Titel ist wirklich etwas ungewöhnlich für den Leiter eines Untersuchungsteams. Ich berate den UN-Generalsekretär. Am 7. Juni werde ich im UN-Sicherheitsrat meinen nächsten Bericht abliefern.

UN-Team ohne hoheitliche Befugnisse

Ist UNITAD im Irak eine Art Polizei oder eine Staatsanwaltschaft oder ein Gericht?

Wir haben keinerlei hoheitliche Befugnisse, können also keine Haftbefehle ausstellen, keine Durchsuchungen vornehmen und erst recht keine Straftäter:innen verurteilen. Deshalb passen alle Vergleiche nicht richtig. Unsere Hauptaufgabe ist die Unterstützung der irakischen Justiz.

Sind im Team vor allem Juristen?

Nein. Viele Mitarbeiter:innen sind Polizeibeamt:innen oder Forensiker:innen aus unterschiedlichen fachlichen Bereichen. Viele haben auch einen völkerrechtlichen Hintergrund.

Was macht UNITAD konkret?

Wir vernehmen Zeug:innen, sammeln Informationen und erstellen Untersuchungsberichte. Man könnte es mit deutschen Strukturermittlungen vergleichen. Wir untersuchen den Völkermord an den Jezid:innen und die Verbrechen an der christlichen Gemeinschaft und anderen religiösen Minderheiten. Wir berichten über Verbrechen an sunnitischen Stämmen, die sich dem IS nicht unterordnen wollten, die Massaker an schiitischen Rekruten und die Zerstörung irakischer Kulturgüter. Wir haben eine Einheit, die sich mit Verbrechen gegen Frauen, Kinder und Mitglieder der LGBTI-Community auseinandersetzt. Zunehmend beschreiben wir auch, wie der IS Chemiewaffen entwickelte und einsetzte und wie der IS sich und sein Kalifat finanzierte.

Wer bekommt diese Untersuchungsberichte?

Manche Berichte können wir den irakischen Behörden zur Verfügung stellen, sie werden aber auch von Strafverfolger:innen weltweit genutzt.

Keine einzige Verurteilung

Wieviele IS-Angehörige wurden im Irak bereits aufgrund Ihrer Berichte verurteilt?

Keiner. In vielen konkreten Fällen können wir derzeit nicht mit der irakischen Justiz zusammenarbeiten, weil sich das Mandat von UNITAD auf Völkerstraftaten bezieht und nicht auf Terrorismusstrafverfolgung. Bisher gibt es im Irak noch kein Völkerstrafrecht, also keine Straftatbestände für Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Aber die irakische Seite arbeitet daran, solche Delikte zu schaffen.

Können solche Tatbestände rückwirkend eingeführt werden?

Ja, denn die völkerstrafrechtlichen Delikte sind völkergewohnheitsrechtlich schon lange strafbar.

Geht der Irak derzeit gar nicht gegen IS-Mitglieder vor?

Doch. Tausende sind in den Gefängnissen und mehr als Tausend wurden auch schon verurteilt, meist wegen Mordes oder wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.

Verhängt die irakische Justiz in solchen Fällen auch Todesurteile?

Das irakische Strafrecht kennt die Todesstrafe und soweit ich weiß, wird sie auch verhängt. Das ist eine weitere Herausforderung. Die Grundsätze der UN lassen es generell nicht zu, Verfahren zu fördern, die mit einer Todesstrafe enden. Das müsste infolgedessen ausgeschlossen werden, damit UNITAD mit irakischen Strafverfolger:innen Beweise für dortige Strafverfahren teilen kann.  

Gibt es auch Probleme mit Folter?

Die Verurteilungen von IS-Angehörigen beruhen derzeit meist auf Geständnissen. UNITAD bevorzugt dagegen faire Verfahren und Verurteilungen, die auf Dokumenten, Spuren und Zeugenaussagen beruhen. So kann den Opfern eine Stimme gegeben werden.

Wenn Sie geständnisbasierte Verurteilungen zurückdrängen wollen, läge es dann nicht nahe, die irakische Justiz mit anderen Beweismitteln auszustatten?

Das wollen wir ja. Wir sind auf einem guten Weg, die Zusammenarbeit zu vertiefen. Man muss sehen, dass die irakische Seite in den letzten Jahren nicht immer die besten Erfahrungen mit der Einflussnahme von außen gemacht hat. Es ist gut nachvollziehbar, warum sie sehr auf ihrer nationalen Souveränität beharrt.

Irakische Justiz profitiert dennoch

Ist das Verhältnis zur irakischen Justiz gespannt?

Nein, im Gegenteil. Die irakische Justiz profitiert durchaus von unserer Arbeit, etwa wenn wir Dokumente, die der IS zurückgelassen hat, digitalisieren. Wir haben schon über 5,5 Millionen Dokumente eingescannt und durchsuchbar gemacht.

Trauen Sie der irakischen Justiz oder ist sie korrupt?

Korruption ist im Irak ein Thema. Das Land hat große Öleinnahmen, von denen wenig bei den Menschen ankommmt. Die Richter, mit denen wir zusammenarbeiten, sind aber ernsthaft an der Aufklärung und Aufarbeitung der IS-Verbrechen interessiert. Letztes Jahr waren 19 irakische Richter:innen zu einem völkerstrafrechtlichen Crashkurs in Nürnberg.

Wie wird UNITAD im Irak gesehen? Spielen in der irakischen Politik auch noch Unterstützer des IS eine Rolle?

Die Ablehnung des IS eint die irakische Gesellschaft. Zu absurd brutal waren dessen Verbrechen, auch gegenüber Sunnit:innen. UNITAD ist daher im Irak nicht umstritten, ich treffe regelmäßig höchste Regierungsvertreter:innen. Andererseits ist UNITAD auch nicht sehr bekannt. Allerdings nehmen vor allem die vom IS verfolgten Minderheiten unsere Arbeit wahr und sind dankbar, wenn wir etwa Leichen aus Massengräbern identifizieren, sodass sie dem jeweiligen Ritus entsprechend begraben werden können.

Strafverfahren in Europa

Ist es für einen Strafverfolger nicht frustrierend, jahrelang Beweise zu sammeln, ohne zu wissen, dass sie je vor Gericht eingesetzt werden können?

Wir gehen davon aus, dass die Beweise durchaus zum Tragen kommen. UNITAD will derzeit auch verstärkt von der Untersuchung zur Unterstützung konkreter Strafverfolgung übergehen, zunächst vor allem außerhalb des Irak.

Also zum Beispiel in Europa?

Ja. Viele Opfer, aber auch viele Täter:innen, sind nach Europa geflohen. Hier können wir unsere Beweise in rechtsstaatliche Verfahren einbringen. Derzeit gibt es in rund einem Dutzend Staaten von Portugal bis Schweden Ermittlungsverfahren wegen IS-Taten im Irak.

Warum gibt es keine Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag?

Der Irak hat das Römische Statut des IStGH nicht unterzeichnet.

Auch Russland und China stimmten zu

Wer hat UNITAD eingerichtet?

Der UN-Sicherheitsrat hat UNITAD im Jahr 2017 auf Bitten der irakischen Regierung geschaffen. Grundlage ist die Sicherheitsrats-Resolution 2379 (2017).

Haben auch Russland und China zugestimmt?

Ja. Der Beschluss fiel einstimmig. Auch die Verlängerung des Mandats, über die der UN-Sicherheitsrat seit 2019 jährlich entscheidet, wurde bisher stets einstimmig beschlossen.

Haben die Vereinten Nationen noch weitere derartige Untersuchungsteams?

Ahnliche Teams arbeiten zu Syrien und Myanmar. Allerdings gibt es auch wichtige Unterschiede. Das Team zu Syrien wurde nicht vom Sicherheitsrat, sondern von der UN-Generalversammlung eingesetzt. Das Team zu Myanmar beruht auf einem Beschluss des UN-Menschenrechtsrats in Genf. Beide UN-Missionen wurden ohne den Willen der betroffenen Staaten beschlossen und arbeiten dementsprechend nicht vor Ort, sondern in Genf.

Ihr Mandat ist auf den Irak begrenzt?

Ja. Unser Mandat ist mehrfach begrenzt. Wir beschäftigen uns nur mit Verbrechen des IS, die auf dem Staatsgebiet des Irak in den Jahren 2014 bis 2017 begangen wurden. 2014 hat der IS sein Kalifat errichtet, das im Irak 2017 von irakischen Regierungstruppen mit Hilfe einer von den USA geführten Koalition zurückerobert wurde.

Das IS-Kalifat umfasste aber nicht nur große Teile des Nordiraks, sondern als zusammenhängendes Gebiet auch den Osten Syriens. Sind Sie für Taten in Syrien nicht zuständig?

Nein. Zu Syrien gibt es wie gesagt ein anderes UN-Untersuchungsteam.

Was ist mit Straftaten gegen IS-Mitglieder?

Sie würden nicht zu unserem Untersuchungsauftrag gehören.

Karim Khan war Vorgänger

Haben Sie UNITAD aufgebaut?

Nein, als ich im Oktober 2021 die Leitung übernahm, fand ich ein funktionierendes Team vor. Mein Vorgänger war der Brite Karim Khan, der dann Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs wurde.

Wie kamen Sie zu UNITAD? Bewirbt man sich auf gut Glück?

Nein. Ich wurde vom Auswärtigen Amt gefragt, ob ich mir vorstellen kann, die Leitung von UNITAD zu übernehmen. Es gab wohl auch noch andere Vorschläge aus anderen Staaten. Die Entscheidung traf dann der UN-Generalsekretär António Guterres.

Wie lange haben Sie überlegt, ob Sie den Posten übernehmen?

Wenn man lange überlegt, kann man auch gleich nein sagen. Immerhin war meine Frau einverstanden, und meine Tochter und mein Sohn sind schon erwachsen. Nach jeweils 28 Tagen im Irak habe ich auch eine Woche Heimaturlaub.

Waren Sie zuvor schon einmal im Irak?

Nein und ich spreche auch leider nicht arabisch. Aber das Team ist englischsprachig. In der Bundesanwaltschaft habe ich das Referat für Völkerstrafrecht mitaufgebaut und geleitet. Dabei hatte ich natürlich auch mit der Strafverfolgung von IS-Tätern für den Völkermord an den Jeziden zu tun. Und nun versuche ich, auch den Irak und seine reiche Kultur kennenzulernen, soweit das mit all den Sicherheitsvorkehrungen möglich ist. Es ist wichtig, auch einen Bezug zum Land zu haben, dem man helfen will.

Mit Personenschützern ins Café

Fühlen Sie sich sicher im Irak?

Ja. In Bagdad arbeiten wir in der gut gesicherten Internationalen Zone, zu der auch der UN-Campus gehört. Aber wenn ich in ein Café gehe oder mir ein Kulturdenkmal ansehe, sind immer Personenschützer dabei.

Wie lange bleiben Sie im Irak? Werden Sie nach Ihrer Zeit im Irak wieder Bundesanwalt in Karlsruhe?

Ich bin weiterhin Bundesanwalt, ich bin nur beurlaubt. Wie lange ich im Irak bleibe, steht noch nicht fest.

Wieviele Deutsche arbeiten bei UNITAD?

Derzeit eine Abteilungsleiterin, die auch bei der Bundesanwaltschaft war, zwei weitere Kolleg:innen und ich.

Christian Ritscher leitet seit 2021 UNITAD, das UN-Untersuchungsteam für IS-Verbrechen im Irak. Seit 2002 arbeitet Ritscher für die Bundesanwaltschaft, seit 2009 bei der Aufklärung von Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch. 2015 wurde Ritscher zum Bundesanwalt ernannt.

Die Abkürzung UNITAD steht für "United Nations Investigative Team to Promote Accountability for Crimes Committed by Da'esh/ISIL". Es ist also ein "Untersuchungsteam der Vereinten Nationen zur Förderung der Rechenschaftspflicht für von Da'esh/ISIL begangene Verbrechen". "Da'esh" ist eine arabische Bezeichnung für den Islamischen Staat. "ISIL" steht für "Islamischer Staat im Irak und der Levante", wie der IS sich zeitweise nannte. Die Levante (das alte "Morgenland") ist das Gebiet zwischen Irak und dem östlichen Mittelmeer.

Zitiervorschlag

Aufklärung von IS-Verbrechen im Irak: "Die Ablehnung des IS eint die irakische Gesellschaft" . In: Legal Tribune Online, 05.06.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/51914/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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