BVerwG nach Entscheidung des EuGH: Euro­pa­recht nagt am deut­schen Asyl­pro­zess­recht

Gastbeitrag von Dr. Constantin Hruschka

19.02.2020

Abschieben, obwohl der Eilrechtsschutz noch läuft? Das war jahrelange Praxis und ist europarechtswidrig. Nun schaut sich das BVerwG die deutschen Regelungen genauer an. Constantin Hruschka erklärt die Verfahren.

Am Donnerstag wird das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) über die Frage verhandeln, inwieweit europarechtliche Vorgaben einen Anpassungsbedarf für das deutsche Asylprozessrecht hervorrufen. Dazu hat das BVerwG für insgesamt fünf Fälle mit unterschiedlichen verfahrensrechtlichen Konstellationen eine mündliche Verhandlung angesetzt (1 C 1.19 u.a.).

Vorauszuschicken ist, dass Asylanträge vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit unterschiedlichen Aussagen beschieden werden –als begründet, als unbegründet und als offensichtlich unbegründet – je nach Bescheid mit unterschiedlichen Rechtsfolgen. Daneben, das sei nur der Vollständigkeit halber gesagt, stehen die Ablehnungen als unzulässig oder offensichtlich unzulässig.

In Deutschland ist der asylrechtliche Rechtschutz in den §§ 74 ff. Asylgesetz (AsylG) geregelt. Dort steht unter anderem, dass eine Klage im Asylerstverfahren nur dann aufschiebende Wirkung hat, wenn der Asylantrag als (einfach) unbegründet gem. § 38 Abs. 1 AsylG abgelehnt wurde, § 75 Abs. 1 AsylG. In allen anderen hier relevanten Fällen muss ein Eilantrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gem. § 80 Abs. 5 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) gestellt werden. Denn die Ablehnung des Asylantrags ist in aller Regel mit einer Ausreiseaufforderung unter Setzung einer Ausreisefrist verbunden.

In den am 20. Februar verhandelten Fällen geht es dabei vordergründig vor allem darum, ab wann die nach Art. 7 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie (RRL) vorgesehene Ausreisefrist jeweils zu laufen beginnt. Dies ist deswegen wichtig, weil vor Ablauf dieser Frist Zwangsmaßnahmen (insbesondere Abschiebungen) nicht durchgeführt werden dürfen.

Im Hintergrund geht es aber um viel mehr, nämlich um die Frage, ob das seit 1993 etablierte System des asylrechtlichen Eilrechtsschutzes in Deutschland überhaupt mit dem Europarecht vereinbar ist.

Das entscheidende EuGH-Verfahren

Wieso kommt es (erst) jetzt zu diesen Verfahren? Im Juni 2018 hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) in der Sache Gnandi ein Urteil gefällt, dessen zentrale Aussage lautet, dass eine Rückkehrentscheidung (also eine Abschiebungsandrohung oder -anordnung) keine Wirkung entfalten darf, solange das gerichtliche Verfahren gegen die Aufforderung ins Heimatland zurückzukehren, läuft (EuGH, Urt. v. 19.06.2018, Az. C-181/16).

Dies ist im deutschen Asylprozessrecht bisher nicht gewährleistet. Denn § 36 Abs. 3 AsylG sieht insbesondere für den Fall einer Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet durch das BAMF vor, dass die Abschiebung sofort angedroht und dann auch vollzogen werden kann, selbst wenn die betroffene Person einen Eilrechtsschutzantrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gem. § 80 Abs. 5 VwGO stellt.

Diese Auswirkung des Eilrechtschutzverfahrens ist eine zentrale Komponente der 1993 reformierten asylrechtlichen Gerichtsverfahren. Fraglich ist nunmehr unter anderem, wann die Wirkungen der Rückkehrentscheidung eintreten dürfen und wann demzufolge die Ausreisefrist zu laufen beginnt, wenn ein solcher Antrag gestellt ist.

Wie Europarechtskonform ist das deutsche Asylrecht?

Daneben ist in den Verfahren aber - quasi als Vorfrage – zu entscheiden, ob das System des deutschen Asylrechtschutzes überhaupt den europäischen Vorgaben entspricht. Anders als im deutschen Recht ist der Rechtschutz gegen negative Asylentscheidungen mit Ausreiseaufforderung nämlich im europäischen Recht nicht in einem, sondern in zwei Rechtsakten geregelt.

Während die Asylverfahrensrichtlinie von 2013 (AsylVerfRL) Regelungen zum Rechtsschutz gegen die Ablehnung eines Asylantrages enthält, sieht die Rückführungsrichtlinie (RRL) aus dem Jahr 2009 Möglichkeiten vor, Rechtsbehelfe gegen die eigentliche Rückkehrentscheidung, die in Deutschland in Form der Abschiebungsandrohung oder - anordnung ergeht, einzulegen. Zur Umsetzung der in den beiden Richtlinien festgelegten Rechtsschutzgarantien ist die Bundesrepublik Deutschland verpflichtet.

Neuorganisation des Asylrechts?

Nach dem EU-Recht ist es grundsätzlich möglich aber nicht verpflichtend, die beiden Entscheidungen über den Asylantrag und die Rückkehr zu verbinden (Art. 6 Abs. 6 RRL). Da es jedoch an einer Koordinierungsvorschrift für die beiden Rechtsschutzsysteme der AsylVerfRL und RRL fehlt, ist bislang umstritten, inwieweit dies auch erfordert oder ermöglicht, den Rechtsschutz nach einer der beiden Richtlinien auszurichten.

Dies ist deswegen entscheidend, weil nur nach der AsylVerfRL ein Eilrechtschutzverfahren möglich ist, während nach Art. 13 RRL ein solches nicht vorgesehen ist. Dies könnte bedeuten, dass ein volles (erstinstanzliches) Gerichtsverfahren abgeschlossen (und die Ausreisefrist abgelaufen) sein muss, bevor eine Abschiebung angedroht und vollzogen werden darf. Wäre dies der Fall, müsste das deutsche Asylprozessrecht von Grund auf neu organisiert werden.

Wäre nämlich Art. 13 RRL einschlägig, dürfte bei einer Klageeinreichung bis zum Ende des erstinstanzlichen gerichtlichen Verfahrens nur in Ausnahmefällen - bei einer Gefährdung der inneren oder äußeren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland - abgeschoben werden. In allen anderen Fällen müssten die Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts und der Ablauf der sich daran anschließenden Ausreisefrist abgewartet werden.

Zumindest Eilrechtsschutzentscheidung ist abzuwarten

Die bisher bei den Instanzgerichten vorherrschende Meinung neigt sich aber in die andere Richtung. Die Gerichte gehen in aller Regel davon aus, dass jedenfalls nach einem negativen Eilrechtschutzverfahren der Abschiebung keine Hindernisse entgegenstehen. Das schließen sie aus Art. 46 Abs. 6 AsylVerfRL. Danach kann die gerichtliche Eilrechtsschutzentscheidung über das Bleiberecht auf die Abschiebungsanordnung durchschlagen. Nach dieser Auslegung muss also die endgültige erstinstanzliche gerichtliche Entscheidung nicht abgewartet werden.

Schon die Tatsache, dass mit dem Gnandi-Urteil in jedem Fall die Eilrechtschutzentscheidung abgewartet werden muss, stellt in gewisser Hinsicht eine Verbesserung für die betroffenen Personen dar. Es sind keine sogenannten Hängebeschlüsse mehr erforderlich. Denn mit der Einreichung der Klage und des Eilrechtschutzantrags tritt eine „automatische aufschiebende Wirkung“ (im europarechtlichen Sinne) ein.

Ein solcher Hängebeschluss war bis vor Kurzem erforderlich, um zu verhindern, dass die zuständige Ausländerbehörde nach der Entscheidung des BAMF, einen Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, die Person während des laufenden Eilrechtschutzverfahrens abschiebt. Aus dem Urteil Gnandi ergibt sich insoweit bereits eine Änderung: Die betroffene Person ist während der Eilantragsfrist und während des gerichtlichen Verfahrens bis zur Eilrechtschutzentscheidung bzw. bis zum Ablauf der sich daran anschließenden Ausreisefrist vor einer Abschiebung geschützt.

BVerwG dürfte EuGH vorlegen

Inwieweit das Europarecht noch weitere Vorgaben enthält, wird das BVerwG zu beurteilen haben. Es wird nach der mündlichen Verhandlung entscheiden müssen, wie es weiter vorgeht, denn weder die vordergründig verhandelte Frage der Ausreisefrist, noch die tieferliegende Frage des Wechselspiels zwischen AsylVerfRL und RRL sind bisher abschließend europarechtlich geklärt, so dass eine Vorlage an den EuGH in Betracht kommt.

Die von den europarechtlichen Vorgaben abweichende deutsche gerichtliche Praxis spricht dafür, dass trotz der Feststellungen des EuGH im Fall Gnandi nicht von einem sog. acte claire auszugehen ist (also die Situation rechtlich eindeutig ist). Da der Themenkomplex insbesondere auch europäisches Sekundärrecht sowie Art. 47 EU-Grundrechtecharta (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf) berührt, unterfällt er nicht ausschließlich der Verfahrensautonomie der einzelnen Mitgliedstaaten. Damit sind die Voraussetzungen des Art. 267 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), also die Möglichkeit für ein Vorabentscheidungsgesuch, gegeben. Das BVerwG als oberste Instanz in der nationalen Rechtsordnung wäre also wohl verpflichtet, dem EuGH Fragen zur Wirkung von Art. 13 RRL vorzulegen, da diese für die Entscheidung des Rechtsstreits zentral sind.

Im Falle einer Vorlage, ist es nicht unwahrscheinlich, dass der EuGH eine weitere Besonderheit des deutschen Asylverfahrensrechts für europarechtswidrig erklärt, wie dies beispielweise im Fall Hamed und Omar (EuGH, Urt. v. 13.11.2019, Az. C-540/17 und C-541/17) in letzter Zeit geschehen ist. In diesem Fall hatte der EuGH klargestellt, dass ein absoluter Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft besteht, auch wenn die Person schon in einem anderen Staat Schutz erhalten hatte, in diesen aber nicht abgeschoben werden kann. Aus Sicht des effektiven Rechtschutzes ist eine Klärung jedenfalls erforderlich, da die aktuelle Situation zu großen Divergenzen und Unsicherheiten in der Rechtsanwendung geführt hat.

Der Autor Dr. Constantin Hruschka ist Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik. Zuvor arbeitete er als Leiter der Abteilung Protection der Schweizerischen Flüchtlingshilfe SFH sowie als Jurist für das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Er unterrichtet Europäisches Recht und Internationales, Europäisches und nationales Asyl- und Flüchtlingsrecht an den Universitäten Bielefeld, München und Fribourg (Schweiz) und war Mitglied der Eidgenössischen Migrationskommission EKM.

Zitiervorschlag

BVerwG nach Entscheidung des EuGH: Europarecht nagt am deutschen Asylprozessrecht . In: Legal Tribune Online, 19.02.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/40361/ (abgerufen am: 18.03.2024 )

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