Zur BGH-Entscheidung im Insulin-Fall: Tötung bleibt Tötung

Gastkommentar von Prof. Dr. Tonio Walter, RiObLG

19.08.2022

Die Ehefrau gibt dem Mann tödliches Insulin – und der BGH nimmt Suizid an. Damit habe das Gericht die Tötung auf Verlangen zu einem Suizid umdeklariert und obendrein eine Divergenzanfrage umgangen, meint Tonio Walter

In seinem Beschluss vom 28. Juni dieses Jahres – im Folgenden: Insulin-Beschluss – deklariert der Sechste Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) eine Tötung auf Verlangen zu einem Suizid um und sagt zur Garantenpflicht von Eheleuten und Ärzten das Gegenteil dessen, was der Dritte Strafsenat in seiner "Peterle"-Entscheidung ausgesprochen hatte (BGH, Urt. v. 04.07.1984, Az. 3StR 96/84) – ohne eine Divergenzanfrage zu erwägen. Beides ist moralisch verständlich, aber juristisch falsch. Falsch auch im Ergebnis, denn es wäre Sache des Gesetzgebers, die Tötung auf Verlangen straffrei zu stellen. Und dies dürfte keineswegs so großzügig geschehen wie im Insulin-Beschluss (Beschl. v. 28.06.2022, Az. 6 StR 68/21). 

Der Sachverhalt: Ein todeswilliger, schwerkranker Mann nimmt tödliche Medikamente ein. Zusätzlich bittet er seine Frau, ihm eine tödliche Dosis Insulin zu spritzen. Das tut sie. Der Mann stirbt an Unterzuckerung, das heißt am Insulin. 

Nur Zustimmung unterscheidet vom Totschlag 

Um eine aktive Tötung auf Verlangen abzulehnen, heißt es im Beschluss, das Spritzen des Insulins sei bei "normativer Betrachtung" keine Handlung der Frau, sondern eine des Mannes gewesen. Das ist so verkehrt, wie es sich anhört. Die Begründung beginnt noch mit einer richtigen Einsicht: "Entscheidend ist, wer den lebensbeendenden Akt eigenhändig ausführt." (Rn. 14) 

Allerdings wäre der Insulin-Fall mit dieser Regel andersherum zu lösen gewesen: Der lebensbeendende Akt war das Spritzen des Insulins, und ihn hatte allein die Frau eigenhändig ausgeführt. Das einzige, was ihre Handlungen von einem Totschlag unterschied, war die Zustimmung des Opfers. Hätte sie gefehlt, etwa weil der Mann über den Inhalt der Spritzen getäuscht worden wäre, hätte die Frau mindestens den Totschlag gem. § 212 Strafgesetzbuch (StGB) verwirklicht. Ist aber das einzige, was eine Handlung vom Totschlag unterscheidet, die Zustimmung des Opfers, handelt es sich um eine Tötung auf Verlangen.  

Um dieses naheliegende Ergebnis zu vermeiden, greift der Senat zu einem rhetorischen Trick: Er "erläutert" die Regel von der Eigenhändigkeit des tödlichen Akts – die gar keiner Erläuterung bedarf – so, dass sie sich auflöst. Am Ende heißt es dann: "Solange nach Vollzug des Tatbeitrags des anderen dem Sterbewilligen noch die volle Freiheit verbleibt, sich den Auswirkungen zu entziehen oder sie zu beenden, liegt nur Beihilfe zur Selbsttötung vor." (Rn. 14) Zur Abrundung folgt die stets wohlfeile Absage an allzu "naturalistische" Unterscheidungen (Rn. 15). Argumentativen Wert hat sie nicht. 

Allein das Insulin war tödlich 

Gleiches gilt dafür, dass der Senat den "Gesamtplan" ins Feld führt, nach dem doch in erster Linie jene Medikamente den Tod hätten herbeiführen sollen, die der Mann selbst eingenommen habe; das Insulin sei lediglich eine Absicherung gewesen, und das Ehepaar habe es dem Zufall überlassen, was am Ende todesursächlich würde. Und so war es auch. Nichtsdestoweniger hatte der Senat keinen Plan zu beurteilen, sondern ein reales Geschehen. In dem jedoch war allein das Insulin tödlich, und das hatte die Frau auch bewusst in Kauf genommen: eine eventualvorsätzlich vollendete Tötung auf Verlangen.  

Um sie zu verneinen, stützt sich der Senat auf eine weitere Erwägung: Der Mann habe nach den Spritzen noch die Chance gehabt, "Gegenmaßnahmen einzuleiten" und sich zu retten. Auch das verwandle die Tötung auf Verlangen in einen Suizid. Dafür beruft sich der Senat auf die Entscheidung des Zweiten Strafsenats im Gisela-Fall (BGH, Urt. v. 14.08.1963, Az. 2 StR 181/63).  

Dort heißt es, eine Selbsttötung liege vor, wenn jemand in einem Auto sitze, in das Abgase geleitet würden, und jederzeit aussteigen könnte – und wenn der andere, der den Motor gestartet und zunächst Gas gegeben habe, noch vor dem Suizidenten bewusstlos werde, so dass sich der Motor nur noch im Leerlauf befinde; denn dann habe der Suizident auch nach Abschluss der Handlung des anderen die Wahl, sich den tödlichen Wirkungen dieser Handlung zu entziehen. 

Nur sprechen, rauchen, etwas schreiben und schlucken 

So sei es, meint der Sechste Strafsenat, auch im Insulin-Fall gewesen. Das indes dürfte Wunschdenken sein. Denn tatsächlich war der Mann immobil und nicht einmal in der Lage, schmerzfrei Tabletten aus ihrer Verpackung zu drücken oder die Spritzen aufzuziehen. Die einzigen Handlungen, die von ihm berichtet werden, bestanden darin zu sprechen, zu rauchen, "mit zitternden Händen" einige Zeilen zu schreiben sowie Kaffee und Medikamente zu schlucken.  

Vielleicht hätte er mit einem Telefon Hilfe holen können. Doch erstens ist unklar, ob die rechtzeitig eingetroffen wäre. Zweitens scheint der Mann gar kein Telefon in Reichweite gehabt zu haben. Denn die einzige Möglichkeit zur Selbstrettung, die der Senat nennt, bestand darin, "die Angeklagte aufzufordern, den Rettungsdienst zu alarmieren" (Rn. 17). 

Insulin-Fall nicht mit Gisela- und Gashahn-Fällen vergleichbar 

Hatte der Mann aber keine Möglichkeit, sich eigenhändig zu retten, so ist das Geschehen selbst dann eine Tötung auf Verlangen, wenn man die Auffassung teilt, dass eine derartige Möglichkeit die Fremdtötung in eine Selbsttötung umwandle. Denn dass der Mann im Insulin-Fall seine Frau hätte bitten können, Hilfe zu holen, muss außer Betracht bleiben. Schließlich ist sie gerade die potenzielle Täterin, und eine Chance zur Selbstrettung kann nur dann von Belang sein, wenn der Sterbewillige für diese Rettung nicht auf die Hilfe ausgerechnet desjenigen angewiesen wäre, der die Tötungshandlung vollzieht. Sonst gäbe es eine Tötung auf Verlangen praktisch nur noch in Form sofort tödlicher Handlungen – Schuss in den Kopf, Stich ins Herz –, und das entspräche ganz sicher nicht dem Willen des Gesetzgebers. Zudem bliebe offen, warum nicht auch solche Handlungen ein Suizid sein sollten – solange der Sterbewillige nur bis zuletzt die Chance hätte, sie durch ein Wort oder eine Geste zu verhindern. Und folglich wäre § 216 StGB faktisch abgeschafft. 

Im Gisela-Fall hätte sich die Suizidentin zudem ohne jede Hilfe Dritter retten können; sie brauchte nur auszusteigen. Ebenso im Gashahn-Fall des Reichsgerichts (RG JW 1921, 579), von dessen Sachverhalt der Sechste Strafsenat ebenfalls indirekt behauptet, dass er dem Insulin-Falles im wesentlichen gleiche. Im Insulin-Fall jedoch hätte sich der Mann sogar mit einem Telefon in der Hand keineswegs unschwer und jederzeit selbst retten können. Vielmehr wäre er auf die rasche Hilfe ausgebildeter Rettungssanitäter angewiesen gewesen; die bekommt man nicht so schnell und mit so sicherer Wirkung, wie sich eine Autotür öffnen lässt. 

Widerspruch zum Dritten Strafsenat ohne Divergenzanfrage 

Bemerkenswert ist am Ende ferner, dass der Senat eine Garantenpflicht der Frau ablehnt, ihren Mann zu retten, nachdem er das Bewusstsein verloren hatte. Das ist zwar richtig, widerspricht aber noch immer der Entscheidung des Dritten Strafsenats im Peterle-Fall.  

Zwar gibt es mittlerweile BGH-Entscheidungen, die eine solche Garantenpflicht ebenfalls ablehnen. Allerdings mit Begründungen, die es sorgfältig vermeiden, dem Dritten Strafsenat offen zu widersprechen. Der Insulin-Beschluss hingegen tut das mit größter Selbstverständlichkeit – ohne den Peterle-Fall auch nur zu erwähnen. Das ist zwar besser als das Herumlavieren der anderen BGH-Entscheidungen, hätte aber eine Divergenzanfrage erfordert. 

Der Insulin-Beschluss ist schließlich auch im Ergebnis falsch. § 216 StGB ist keine Schikanevorschrift, um Schwerkranke länger leiden zu lassen. Vielmehr hat sie einen dreifachen Sinn: die Unantastbarkeit fremden Lebens zu sichern; sicherzustellen, dass Suizidenten bis zur letzten Sekunde die Chance haben abzubrechen; und zu verhindern, dass in Fällen freigesprochen werden muss, in denen unklar bleibt, was der Tote gewollt hat.  

Für Alte und Kranke lebensgefährliche Entscheidung 

Vor allem letzteres hat praktische Bedeutung: Es gibt immer mehr pflegebedürftige Menschen. Wenn die an einer Infusion oder Spritze sterben und der Täter sagt, das habe der Tote so gewollt – dann hat er dem Insulin-Beschluss zufolge nichts mehr zu befürchten. Zweifel am Sachverhalt hätten pro reo zu schweigen. Das ist für nicht wenige Alte und Kranke lebensgefährlich. 

Jetzt sollte der Gesetzgeber handeln. Erlauben darf er eine Tötung auf Verlangen nur, wenn ein eigenhändiger Suizid unmöglich wäre oder unzumutbar. Das ist kaum je der Fall, wenn Sterbewillige professionelle Suizidassistenz in Anspruch nehmen können; durch Ärzte oder – wie in der Schweiz – gemeinnützige Vereine.  

Ist es einem Sterbewilligen tatsächlich unmöglich oder unzumutbar, sich eigenhändig zu töten, darf eine Tötung auf Verlangen nur erlaubt sein, wenn sie von geschultem Personal ausgeführt wird, um Schmerzen des Sterbewilligen auszuschließen, und wenn mindestens noch eine dritte Person dabei ist, die den ernsten und nachhaltigen Todeswunsch des Sterbewilligen bestätigt. Es muss eine Dokumentation und mindestens ein Vorgespräch mit einer psychologischen Fachkraft geben. Insgesamt dürfen die Anforderungen nicht niedriger sein als bei einem Behandlungsabbruch nach §§ 1901a ff. Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). 

Der Autor Prof. Dr. Tonio Walter ist Richter am Bayerischen Obersten Landesgericht und hat den Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschaftsstrafrecht und Europäisches Strafrecht an der Universität Regensburg inne. 

Zitiervorschlag

Zur BGH-Entscheidung im Insulin-Fall: Tötung bleibt Tötung . In: Legal Tribune Online, 19.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49366/ (abgerufen am: 18.03.2024 )

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