Kann man einen zeitlich unbefristeten Abschiebegewahrsam anordnen? Und wäre ein genereller Aufnahmestopp von Flüchtlingen aus Syrien und Afghanistan möglich? Diese und weitere Fragen klären wir in einem FAQ.
Bei einer Messerattacke am Freitagabend in Solingen starben drei Menschen, acht weitere wurden zum Teil schwer verletzt. Tatverdächtig ist ein Syrer, der Mann sitzt in Untersuchungshaft, der Generalbundesanwalt hat das Verfahren an sich gezogen, weil ihm auch Mitgliedschaft in der Terroristischen Vereinigung Islamischer Staat vorgeworfen wird – dafür ist Karlsruhe zuständig.
Der Mann hätte sich nach Medienberichten gar nicht mehr in Deutschland aufhalten sollen – belastbare Fakten liefern aber weder die zuständigen Ministerien auf Bundes- noch auf Landesebene.
Nach dem tödlichen Messerangriff werden Fragen nach einer womöglich misslungenen „Abschiebung“, Forderungen nach Verschärfung des Asylrechts, insbesondere nach härteren Abschieberegeln lauter. Was war und wäre rechtlich zulässig?
Warum war der mutmaßliche Täter noch in Deutschland?
Der Tatverdächtige reiste in Bulgarien in die EU ein. Es ist durchaus üblich, dass Schutzsuchende dann weiterziehen in ein anderes EU-Land, dies geschieht aus unterschiedlichen Gründen. Nach EU-Recht, konkret der so genannten Dublin-Verordnung (Dublin-VO), bleibt aber grundsätzlich das Land für das Asylverfahren zuständig, in dem der Mensch erstmals europäischen Boden betreten hat. Nach Medienberichten bewegte sich der Mann dennoch weiter nach Deutschland, kam in Paderborn an und gelang offenbar schließlich nach Solingen. In Deutschland stellte er einen Asylantrag.
In diesen Fällen wird ein solcher als offensichtlich unzulässig abgelehnt, weil Deutschland nicht für das Asylverfahren zuständig ist. Danach stellen die Behörden ein Überstellungsgesuch – in diesem Fall nach Bulgarien. Denn das aufnehmende Land muss der Übernahme zustimmen, was Bulgarien offenbar getan hat. Erst danach ergeht ein Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF), dass die Person vollziehbar ausreisepflichtig ist. Daraufhin kann die Überstellung mit dem anderen Land koordiniert werden, denn der andere Mitgliedstaat muss die Person tatsächlich übernehmen, Art. 10 Dublin-VO, dann wird der entsprechende Flug gebucht.
"Die Überstellung muss innerhalb von sechs Monaten ab der Zustimmung des anderen Mitgliedstaates geschehen, Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO", erklärt Constantin Hruschka, Senior Research Fellow am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik. Gelingt dies nicht, geht die zeitintensive Koordinierung der Überstellung inklusive Organisation der Reise von vorne los. Im Fall des tatverdächtigen Syrers gelang die Überstellung nicht, die Behörden haben den Mann beim Versuch der Überstellung nicht in der Unterkunft angetroffen und die Frist lief ab.
Inzwischen teilte die dpa mit, der Mann sei vier Tage nach Ablauf der Frist wieder aufgetaucht und erst danach von der Flüchtlingsunterkunft in Paderborn nach Solingen gewechselt.
Funktionieren Überstellungen in der Praxis?
In vielen Berichten heißt es, der Syrer sei "untergetaucht". Das ist – rechtlich bewertet – allerdings nicht der Fall, wie der NRW-Innenminister Herbert Reul inzwischen mitteilte. Ein Untertauchen würde erfordern, dass er sich dauerhaft der Maßnahme entzogen hätte. "Es gibt zwar Meldepflichten für Asylbewerber", erklärt Hruschka, aber das bedeute nicht, dass die Menschen sich ununterbrochen in ihrer Unterkunft aufhalten müssten.
"Nur, wenn jemand tatsächlich untertaucht, verlängert sich die Überstellungsfrist auf 18 Monate", erklärt Hruschka. Ansonsten gilt: Gelingt es nicht, eine Person innerhalb von sechs Monaten zu überstellen, geht die Zuständigkeit auf Deutschland über.
"In der Praxis funktionieren Überstellungen in der Regel nicht“, sagt Hruschka. Im vergangenen Jahr habe Deutschland nur in rund 70 Prozent der angefragten Fälle überhaupt eine zustimmende Antwort bekommen. In nur etwa zehn Prozent von allen, in denen der andere Staat einer Dublin-Überstellung zugestimmt hat, seien die Personen tatsächlich überstellt worden. "Es ist also primär ein praktisches Problem, und kein rechtliches", sagt Hruschka.
Der Asylexperte ergänzt, dass insbesondere in Bezug auf Bulgarien viele Verwaltungsgerichte Überstellungen für rechtswidrig halten. Viele Richter:innen gingen davon aus, dass dort sogenannte systemische Mängel vorliegen, die eine Überstellung ausschließen. Solche Mängel liegen etwa vor, wenn ein Land von der Anzahl der Asylanträge so überlastet ist, dass ein ordnungsgemäßes Verfahren und eine menschenwürdige Versorgung der Ausländer nicht mehr gewährleistet ist. Solche systemischen Mängel haben unterschiedliche Gerichte zeitweise etwa für Italien und Griechenland festgestellt.
Könnte man die Fristen für die Überstellung verlängern?
Diese Forderung wird nach den Ereignissen von Solingen kommen. Doch dem Dublin-System ist das Beschleunigungsgebot inhärent, Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO. Die in der VO geregelten Fristen sollen Handlungsdruck bei den Behörden erzeugen. Sie sollen sicherstellen, dass die Zuständigkeit für das Asylverfahren irgendwann feststeht und der Schwebezustand beendet wird. "Irgendwann muss ein materielles Verfahren durchgeführt werden", sagt Hruschka.
Muss das Asylrecht verschärft werden?
Die EU hat im Juni ein neues gemeinsames Europäisches Asylsystem (GEAS) verabschiedet und das Asylrecht so noch einmal verschärft. Damit wird ein einheitliches Verfahren für alle europäischen Mitgliedstaaten eingeführt, um den Asylprozess insgesamt zu beschleunigen. So sollen Asylverfahren für Menschen mit geringer Bleibewahrscheinlich direkt an den Außengrenzen der EU durchgeführt werden.
Mit dem GEAS werde es mehr und strengere Meldepflichten für Asylsuchende geben, so Hruschka. Ein Untertauchen von Personen ist dadurch nicht zu vermeiden, könnte aber schneller auffallen.
Abschiebegewahrsam für ausreisepflichtige Ausländer?
Friedrich Merz fordert einen zeitlich unbefristeten Abschiebegewahrsam für ausreisepflichtige Ausländer.
"Hier stellt sich schon die Frage, ob der Politiker sich auf die Ausreise aus dem Schengen-Raum oder aus Deutschland bezieht", sagt Hruschka. "Nach der Dublin-VO ist ein Gewahrsam in der Regel nur möglich, wenn die Überstellung bereits vereinbart ist und die Behörden die gesicherte Erkenntnis haben, dass die Person untertauchen möchte, § 28 Dublin-III-VO.“ Zudem müsse die Ingewahrsamnahme eine Einzelfallprüfung sein, sonst liege darin ein Verstoß gegen Art. 5 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Ein pauschales Einsperren sei auch nach deutschem Recht wegen des Grundrechts auf Freiheit der Person ausgeschlossen.
Anders sieht das aus, wenn die Person Straftaten begangen hat. "Für ausreisepflichtige Straftäter gelten zudem strafrechtliche Regeln, dort haben die Untersuchungshaft und die Strafhaft klare Voraussetzungen“, so der Asylrechtler
Abschiebungen nach Afghanistan und Syrien?
Bei der Rückkehr ins Herkunftsland spricht man im Asyl- und Aufenthaltsrecht von Abschiebungen. Die Forderung, diese schneller und häufiger durchzuführen, erheben Politiker regelmäßig. Sie erfordern jedoch Abkommen mit den jeweiligen Ländern, deren Abschluss insbesondere bei Regimen wie denen in Afghanistan oder Syrien rechtsstaatlich problematisch wäre.
Zudem müsste im Ergebnis noch das Bundesverwaltungsgericht feststellen, ob die Abschiebungen in die Länder überhaupt rechtlich möglich sind. Bei den Abschiebungen nach Afghanistan sind sich die Oberverwaltungsgerichte derzeit uneins.
Genereller Aufnahmestopp für Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan?
Friedrich Merz fordert zudem einen generellen Aufnahmestopp von Flüchtlingen aus Syrien und Afghanistan. “Eine solche Vorgabe wäre rechtswidrig”, so Hruschka. Litauen und Ungarn haben solche Regelungen bereits versucht, der Europäische Gerichtshof hat die Zugangsverweigerung unter anderem in einem Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn für rechtswidrig erklärt. Es gibt in Europa die Pflicht, Asylanträge zu prüfen.
Passentzug bei doppelter Staatsbürgerschaft?
Kann man Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft die deutsche Staatsbürgerschaft entziehen? Dies hatte CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann in der Vergangenheit gefordert.
"Die Forderung, Doppelstaatlern im Falle terroristischer oder extremistischer Taten den deutschen Pass zu entziehen, ist nicht neu", sagt Professor Dr. Andrea Kießling, Inhaberin der Professur für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Migrationsrecht an der Goethe-Universität Frankfurt. "Sie verkennt aber, dass das Grundgesetz nicht zwischen Deutschen mit und ohne Migrationshintergrund unterscheidet. Die Wegnahme der deutschen Staatsangehörigkeit aufgrund eines unerwünschten Verhaltens nach Erwerb der Staatsangehörigkeit verstieße gegen Art. 16 Grundgesetz (GG). Ein solches Verhalten kann nur über die für alle Deutschen geltenden Gesetze geahndet werden, also z.B. das Strafrecht. Dass wiederum Terroristen oder Extremisten gar nicht erst die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, ist im Staatsangehörigkeitsrecht jetzt schon bei den Voraussetzungen für den Erwerb der Staatsangehörigkeit geregelt."
Fragen und Antworten nach Solinger Messerattacke: . In: Legal Tribune Online, 26.08.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55272 (abgerufen am: 11.10.2024 )
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