Sonderbundskrieg: Schweizer gegen Schweizer

von Martin Rath

10.09.2017

2/2: Lob eines modernen Militärstrafrechts

Heute erzählen Plakatwände davon, dass der Beruf des Soldaten ein Job unter vielen anderen sei. Kriminologische Vernunft und antiamerikanisches Vorurteil vermitteln zudem, dass die in den USA immer noch virulente Frage, ob das Volk Waffen tragen darf, nur mit einem entschiedenen Nein zu beantworten ist. Im 19. Jahrhundert war sie auch in Europa noch offen – in Preußen führte sie 1862 sogar zu jener entscheidenden Verfassungskrise, von der sich der politische Liberalismus in Deutschland nie wieder erholen sollte.

Wozu die Vorrede? Mit ihrem Milizheer schufen sich die Schweizer im 19. Jahrhundert eine vergleichsweise bürgerschaftliche Militärverfassung. Einen General wählen sie bis heute sogar nur, wenn Krieg droht – insgesamt ein Traum altliberaler Europäer.

Im Sonderbundskrieg kam ein weiterer liberaler Traum zum Einsatz: das Militärstrafgesetzbuch. Obwohl die Gegner des Sonderbunds in der gesetzgebenden Versammlung, der Tagsatzung, seit 1815 keine Mehrheit für grundlegend liberale Reformen der Staatsorganisation gefunden hatten – was immerhin der innere Grund des possierlichen Schweizer Bürgerkriegs von 1847 wurde –, war es doch möglich gewesen, im September 1837 ein modernes Militärstrafrecht zu ratifizieren.

Es beruhte auf dem Legalitätsprinzip und dem modernen Verbrechensbegriff mit Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld, die etwa bei Raserei oder Wahnsinn ausgeschlossen blieb, verlangte nach rechtswissenschaftlich gebildeten Richtern und verpflichtete sie mit folgendem Diensteid (§ 252):

"Es schwören die eidgenössischen Gerichtspersonen für die militärische Rechtspflege: die Pflichten und Verrichtungen ihrer Stelle gewissenhaft zu erfüllen; stets nach Vorschrift der Gesetze zu handeln und zu richten. Niemanden zu Lieb noch zu Leid; sich alles angelegen seyn zu lassen, was zur pflichtmässigen Ausübung ihres Amtes und zur genauen Handhabung der Dienstpflicht gehört, also dass sie es vor Gott und ihrem Gewissen verantworten mögen. – Schwörformel. – Den mir vorgelesenen Eid gelobe ich wahrhaft zu halten, getreulich und ohne Gefahr, als ich bitt', dass mir Gott helfe (und alle Heiligen)!"

Militärgerichtsbarkeit ist eine unglückliche Einrichtung, kommen doch die militärische Gewalt als höchste Steigerungsform staatlicher Machtentfaltung und die notorisch skeptisch sein sollende Rechtspflege zusammen. Bereits 1837 entdeckten die Schweizer, dass es gerade hier sinnvoll ist, dem Befehlshaber ein wesentliches Mittel aus der Hand zu nehmen, Einfluss auf die Richter auszuüben – ihm kam, anders als seinen europäischen Kollegen, nicht das Recht zu, Urteile zu bestätigen oder zu verwerfen, ihm oblag es nur, sie auszuführen.

Rechtstatsachentest freilich eher nicht bestanden

Nun kam zwar im Sonderbundskrieg ein liberaler Traum von Militärgesetzbuch (MGB) in Gebrauch, doch blieb seine Funktion in seinem einzigen Einsatzfall  beschränkt.

Der Züricher Rechtsanwalt und Richter a.D. Bruno Steiner (1948–) untersuchte für seine 1983 veröffentlichte Dissertation – eine der wenigen zur Militärjustiz im 19. Jahrhundert – die aus diesem Schweizer Bürgerkrieg überlieferten Akten. In einer Vielzahl von Fällen, in denen sich die Truppen der liberalen Kantone an Rechtsgütern in den Sonderbundskantonen vergriffen hatten, führten – so sein Befund – bereits die rechtsgelehrten Ermittlungsverfahren ins Leere.

Steiner fasste zusammen: "Es stellt sich vielmehr die Frage, ob unter den gegebenen Umständen überhaupt eine Militärjustiz hätte verwirklicht werden können. Die Frage darf mit Gewissheit verneint werden. Jede auf Unparteilichkeit und Gesetzmässigkeit, auf Willkürverbot und Gleichbehandlung, jede auf rechtsstaatliche Grundsätze verpflichtete militärische Rechtspflege hätte unter den gegebenen Bedingungen, die letztlich die Bedingungen eines jeden Krieges sind, Schiffbruch erleiden müssen. […] Gescheitert sind deshalb nicht sosehr das MGB von 1838 und die Militärjustiz der Tagsatzungsarmee, als vielmehr die aus einer wirklichkeitsfremden naiven Fortschritts- und Rechtsgläubigkeit geborene Idee, eine rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtete Justiz und eine Armee wären bei aussen- oder innenpolitischen Wirren unter einen Hut zu bringen."

Ein Trost mag darin liegen, dass es die bürgerlich-liberale Gesellschaft gerne verdrängt, wenn Ideal und Wirklichkeit zulasten der zweitgenannten zusammentreffen: Auch weil man im rechtstatsächlichen Detail nicht so genau hinschaute, erwarb sich Guillaume-Henri Dufour (1787–1875), der von der Tagsatzung gewählte General, den Ruf, seinen Feldzug gegen den Sonderbund in durchgängig rechtsgehorsamen Bahnen geführt zu haben – ein Novum der Menschheitsgeschichte.
Konsequenterweise zählte Dufour 1863 zu den fünf Gründungsvätern des späteren Internationalen Komitees vom Roten Kreuz – einer Einrichtung, die den liberalen Traum von der rechtlichen Einhegung mörderischer Staatsgewalt bis heute pflegt.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Sonderbundskrieg: Schweizer gegen Schweizer . In: Legal Tribune Online, 10.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24415/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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