Liberale, die mit Gewalt die bestehende Ordnung stürzen, und konservative Katholiken, die sich verschwören. Vor 170 Jahren leistete sich die Schweiz einen kommoden Bürgerkrieg – und erprobte zudem eine moderne Militärjustiz.
Es waren die zur Gewalt bereiten Liberalen, die eine Eidgenossenschaft der zwei Geschwindigkeiten nicht dulden wollten. Im Herbst 1847 kam es in der Schweiz zu einer militärischen Auseinandersetzung, die als Sonderbundskrieg in die Geschichtsbücher einging.
Gemessen am Blutzoll des US-amerikanischen Bürgerkriegs, der 14 Jahre später beginnen sollte, handelte es sich zwar mit einigen Dutzend Todesopfern um einen fast possierlich anmutenden Konflikt zwischen den liberalen und den konservativen Kantonen – im Verfassungsschweizerdeutsch "Stände" genannt.
Als manichäischer Weltanschauungskrieg vom ersten Tag an popkulturell begleitet, findet der US-Bürgerkrieg bis heute sehr viel mehr Aufmerksamkeit als der Sonderbundskrieg der Schweizer Stände. Ganz fair ist das nicht. Denn er markierte den Wandel der Schweiz von einem Staatenverbund souveräner Territorien, die auf dem Wiener Kongress von 1815 aus der französischen Vorherrschaft entlassen worden waren, hin zu einem modernen Bundesstaat.
Man könnte diese Geschichte als Parabel auf den Prozess der europäischen Einheit erzählen. Dies soll hier nicht im Vordergrund stehen. Denn nebenbei erprobten die Schweizer während ihrer Kriegswochen ein modernes Strafrecht – in Zeiten einer unpopulär gewordenen europäischen Einheit mögen die merkwürdigen Anachronismen dieses Stücks Schweizer Geschichte vielleicht etwas Trost spenden.
Die Schweiz der zwei Geschwindigkeiten
Zur Vorgeschichte des Sonderbundskriegs, der kaum etwas anderes war als eine Verhandlung von Verfassungsgrundlagen mit den Mitteln der Waffengewalt, zählen Vorgänge, die so niedlich anmuten, dass man versucht ist, dem nächst greifbaren kleinwüchsigen Schweizer (m/w) durchs Haar zu wuscheln, oder – seriöser – das weltanschauliche Geschrei unserer Tage etwas weniger ernst zu nehmen.
So führte beispielsweise die Berufung des deutschen Gelehrten David Friedrich Strauss (1808–1874) an die erst 1833 gegründete Universität Zürich zu Aufruhr unter den konservativen Protestanten des Kantons, war Strauss doch der erste Theologe, der mit seiner Schrift "Das Leben Jesu" den christlichen Heiland nachhaltig auf den Status einer historischen Persönlichkeit zurückstutzte – im Europa des 19. Jahrhun-derts schlug dies ähnliche Wellen wie heutige Versuche, den im Islam frömmlerisch verehrten Mohammed als Mensch wie jeden anderen zu historisieren.
Die Berufung Strauss' gilt als Auslöser des sogenannten Züriputsches, mit dem sich die konservativen Kreise Zürichs über die erst 1831 beschlossene moderne liberale Verfassung erhoben, bis 1845 wieder die Liberalen Oberhand gewannen.
Auf gesamtschweizerischer Ebene entbrannte der Konflikt zwischen Liberalen und – hier überwiegend katholischen – Konservativen unter anderem um das Verbot des Jesuitenordens (eine liberale Obsession des 19. Jahrhunderts – Norwegen verbot 1814 etwa von Verfassungs wegen Juden, Jesuiten und anderen Orden den Aufenthalt) sowie um die Säkularisation der Klöster – letztere weckten mit ihrem Fundus an Landbesitz und Sachkapital überall im Westeuropa der Jahre zwischen ca. 1790 und 1850 die Begehrlichkeiten der liberalen Turbo-Kapitalisten. Hinzu kam die Stellung der Orden im Schulwesen.
Während sich die Auflösung alter zugunsten neuer Besitzstände beispielsweise im Rheinland unter französischer und dann preußischer Herrschaft geordnet in der Fläche abwickeln ließ, zog sich in der Schweiz die Konfliktlinie entlang der kantonalen Grenzen. Die konservativen Kantone Luzern, Uri, Schwyz, Obwalden, Nidwalden, Zug, Freiburg und das Wallis schlossen sich im Sonderbund zusammen, provoziert nicht zuletzt durch die sogenannten Freischarenzüge, die die liberale Sache zur Not auch mit Gewalt durchsetzen wollten, etwa den Ausschluss der Jesuiten aus dem Schulwesen.
Staatsrechtlich gesehen stand der Sonderbund auf schwachen Füßen, denn § 6 des Bundesvertrags von 1815 verbot solche Bündnisse. In einem rund zweiwöchigen Feldzug besetzten die Truppen der Tagsatzung – so die juristenschweizerdeutsche Bezeichnung der verfassungsmäßig handelnden liberalen Kantone – schließlich im November 1847 die Sonderbundskantone. Ein Jahr darauf konstituierte sich die Schweiz, mit britischer Rückendeckung gegen die reaktionären Preußen und Österreicher, als moderner Bundesstaat. Dies war nebenbei ein offener Bruch mit der konservativen Friedensordnung von 1815. Wer heute 'europakritisch' über Unionsrechtsbrüche lamentiert und für die abseitig-knorrige Schweiz schwärmt, kennt solcherlei Details illegal-dynamischer Verfassungsfortentwicklung vermutlich nicht.
2/2: Lob eines modernen Militärstrafrechts
Heute erzählen Plakatwände davon, dass der Beruf des Soldaten ein Job unter vielen anderen sei. Kriminologische Vernunft und antiamerikanisches Vorurteil vermitteln zudem, dass die in den USA immer noch virulente Frage, ob das Volk Waffen tragen darf, nur mit einem entschiedenen Nein zu beantworten ist. Im 19. Jahrhundert war sie auch in Europa noch offen – in Preußen führte sie 1862 sogar zu jener entscheidenden Verfassungskrise, von der sich der politische Liberalismus in Deutschland nie wieder erholen sollte.
Wozu die Vorrede? Mit ihrem Milizheer schufen sich die Schweizer im 19. Jahrhundert eine vergleichsweise bürgerschaftliche Militärverfassung. Einen General wählen sie bis heute sogar nur, wenn Krieg droht – insgesamt ein Traum altliberaler Europäer.
Im Sonderbundskrieg kam ein weiterer liberaler Traum zum Einsatz: das Militärstrafgesetzbuch. Obwohl die Gegner des Sonderbunds in der gesetzgebenden Versammlung, der Tagsatzung, seit 1815 keine Mehrheit für grundlegend liberale Reformen der Staatsorganisation gefunden hatten – was immerhin der innere Grund des possierlichen Schweizer Bürgerkriegs von 1847 wurde –, war es doch möglich gewesen, im September 1837 ein modernes Militärstrafrecht zu ratifizieren.
Es beruhte auf dem Legalitätsprinzip und dem modernen Verbrechensbegriff mit Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld, die etwa bei Raserei oder Wahnsinn ausgeschlossen blieb, verlangte nach rechtswissenschaftlich gebildeten Richtern und verpflichtete sie mit folgendem Diensteid (§ 252):
"Es schwören die eidgenössischen Gerichtspersonen für die militärische Rechtspflege: die Pflichten und Verrichtungen ihrer Stelle gewissenhaft zu erfüllen; stets nach Vorschrift der Gesetze zu handeln und zu richten. Niemanden zu Lieb noch zu Leid; sich alles angelegen seyn zu lassen, was zur pflichtmässigen Ausübung ihres Amtes und zur genauen Handhabung der Dienstpflicht gehört, also dass sie es vor Gott und ihrem Gewissen verantworten mögen. – Schwörformel. – Den mir vorgelesenen Eid gelobe ich wahrhaft zu halten, getreulich und ohne Gefahr, als ich bitt', dass mir Gott helfe (und alle Heiligen)!"
Militärgerichtsbarkeit ist eine unglückliche Einrichtung, kommen doch die militärische Gewalt als höchste Steigerungsform staatlicher Machtentfaltung und die notorisch skeptisch sein sollende Rechtspflege zusammen. Bereits 1837 entdeckten die Schweizer, dass es gerade hier sinnvoll ist, dem Befehlshaber ein wesentliches Mittel aus der Hand zu nehmen, Einfluss auf die Richter auszuüben – ihm kam, anders als seinen europäischen Kollegen, nicht das Recht zu, Urteile zu bestätigen oder zu verwerfen, ihm oblag es nur, sie auszuführen.
Rechtstatsachentest freilich eher nicht bestanden
Nun kam zwar im Sonderbundskrieg ein liberaler Traum von Militärgesetzbuch (MGB) in Gebrauch, doch blieb seine Funktion in seinem einzigen Einsatzfall beschränkt.
Der Züricher Rechtsanwalt und Richter a.D. Bruno Steiner (1948–) untersuchte für seine 1983 veröffentlichte Dissertation – eine der wenigen zur Militärjustiz im 19. Jahrhundert – die aus diesem Schweizer Bürgerkrieg überlieferten Akten. In einer Vielzahl von Fällen, in denen sich die Truppen der liberalen Kantone an Rechtsgütern in den Sonderbundskantonen vergriffen hatten, führten – so sein Befund – bereits die rechtsgelehrten Ermittlungsverfahren ins Leere.
Steiner fasste zusammen: "Es stellt sich vielmehr die Frage, ob unter den gegebenen Umständen überhaupt eine Militärjustiz hätte verwirklicht werden können. Die Frage darf mit Gewissheit verneint werden. Jede auf Unparteilichkeit und Gesetzmässigkeit, auf Willkürverbot und Gleichbehandlung, jede auf rechtsstaatliche Grundsätze verpflichtete militärische Rechtspflege hätte unter den gegebenen Bedingungen, die letztlich die Bedingungen eines jeden Krieges sind, Schiffbruch erleiden müssen. […] Gescheitert sind deshalb nicht sosehr das MGB von 1838 und die Militärjustiz der Tagsatzungsarmee, als vielmehr die aus einer wirklichkeitsfremden naiven Fortschritts- und Rechtsgläubigkeit geborene Idee, eine rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtete Justiz und eine Armee wären bei aussen- oder innenpolitischen Wirren unter einen Hut zu bringen."
Ein Trost mag darin liegen, dass es die bürgerlich-liberale Gesellschaft gerne verdrängt, wenn Ideal und Wirklichkeit zulasten der zweitgenannten zusammentreffen: Auch weil man im rechtstatsächlichen Detail nicht so genau hinschaute, erwarb sich Guillaume-Henri Dufour (1787–1875), der von der Tagsatzung gewählte General, den Ruf, seinen Feldzug gegen den Sonderbund in durchgängig rechtsgehorsamen Bahnen geführt zu haben – ein Novum der Menschheitsgeschichte.
Konsequenterweise zählte Dufour 1863 zu den fünf Gründungsvätern des späteren Internationalen Komitees vom Roten Kreuz – einer Einrichtung, die den liberalen Traum von der rechtlichen Einhegung mörderischer Staatsgewalt bis heute pflegt.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Ohligs.
Martin Rath, Sonderbundskrieg: Schweizer gegen Schweizer . In: Legal Tribune Online, 10.09.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/24415/ (abgerufen am: 26.04.2024 )
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