Rechtsgeschichten 1914/15: Lkw-Abenteurer und Schwebebahnopfer vorm Reichsgericht

von Martin Rath

30.11.2014

2/2: Fahrzeugmanipulation bei fliegender Fahrt

Ab Werk war der unfallverursachende Lastkraftwagen mit einem "Gestängebolzen" versehen worden, der die Geschwindigkeit auf unter 20 km/h halten sollte. Allerdings stellten die Richter fest: "Die Herausnahme des Bolzens bietet nach der Konstruktion des Wagens nicht die geringsten Schwierigkeiten. Sie kann sogar während des Fahrens erfolgen, zwar nicht durch den Führer selbst, aber in der Weise, daß dessen Begleiter auf den Kotflügel des Wagens klettert und von da aus den Bolzen herauszieht." Des Öfteren hatten der Lkw-Chauffeur und sein Begleiter genau das auch getan, vor diesem Unfall allerdings nicht. Im Ergebnis werten die Richter des Landgerichts Neuwied, des Oberlandesgerichts Frankfurt/Main und des Reichsgerichts unisono: Der Lkw konnte die 20 km/h technisch übersteigen. Dass der Unfall bei faktisch 'nur' rund 19 km/h zustande kam, blieb unerheblich, weil das Gesetz nur auf die abstrakte Möglichkeit der höheren Geschwindigkeit abhob. Die Lkw-Halter mussten also für den Personenschaden aus dem Gefährdungstatbestand haften.

Der Blick ins Gesetz 1909 verrät auch die Größenordnung: § 12 des Kraftfahrzeuggesetzes beschränkte bei Tötung oder Verletzung eines Menschen die Haftpflicht auf einen Kapitalbetrag von 50.000 Mark bzw. einen Rentenbetrag von 3.000 Mark jährlich, bei Mehrpersonenschäden auf insgesamt 150.000 bzw. 9.000 Mark. Die Haftungsgrenze für Sachbeschädigungen lag 1909 bei 10.000 Mark. Diese auf den ersten Blick geringen Beträge relativieren sich einerseits, wenn man bedenkt, dass ein Facharbeiterlohn vor dem Ersten Weltkrieg bei vielleicht 1.000 bis 1.500 Mark lag – und zwar im Jahr.

Der Blick ins Reichsgesetzblatt von 1909 verrät freilich noch ein bisschen mehr und lädt zu einer weiteren Relativierung ein: Kaiser Wilhelm II. (1859-1941) unterzeichnete das "Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen" nicht etwa in Berlin oder Potsdam, sondern in "Achilleion, Corfu". Auf dieser griechischen Insel hatte er soeben einen Palast gekauft, den sich Elisabeth von Österreich-Ungarn (1837-1898), die als "Sisi" bzw. "Sissi" verkitschte Fürstin, hatte errichten lassen. Der Kaufpreis lag, so ist zu finden, bei einer Million Mark.  

Formal korrekt statt Güter und Risiken abwägend

Bemerkenswert am Lkw-Urteil ist das Fehlen aller Güterabwägungen oder – jedenfalls unter der Hand – moralischer Wertungen, die später in der deutschen Rechtsprechung üblich wurden: Es genügte 1914, formal festzuhalten, dass das Fahrzeug die für den Haftpflicht-Ausschluss notwendige Eigenschaft nicht besaß. Die Frage, ob der Gesetzgeber gut daran getan hatte, auf die bloße Möglichkeit einer Geschwindigkeitserhöhung abzuheben, stellten die Richter nicht. Man hätte ja durchaus darüber räsonieren können, dass die Gefahr eines Fahrzeugs auch von der bewegten Masse ausgeht, nicht allein von der abstrakten Fähigkeit, eine gewisse Geschwindigkeit erreichen zu können.

Am 4. Januar 1915 urteilte der gleiche Senat zur Frage: "Ist eine Schwebebahn als Eisenbahn im Sinne des Reichshaftpflichtgesetzes zu betrachten?" Beim Versuch, die Leitungsdrähte einer konventionellen Straßenbahn über der Rathausbrücke in Barmen (heute: Wuppertal) zu reparieren, war ein Angestellter von der darüber fahrenden Schwebebahn erfasst und durch den Sturz tödlich verletzt worden. Gegen die Forderung der Witwe wandte die "Continentale Gesellschaft für elektrische Unternehmungen", die Betreiberin der Schwebebahn, ein, es handle sich um keine Eisenbahn im Sinne des Haftpflichtgesetzes.

Die Reichsgerichtsräte des Jahres 1914/15 griffen hier unbeschwert von der Komik des Vor-Urteils auf die berühmte Eisenbahn-Entscheidung von 1879 zurück und erklärten, dass es nicht darauf ankomme, ob das gefährliche Bahnfahrzeug auf der Schiene oder unterhalb der Schiene fahre. Nur zur Belehrung des die Revision führenden "Continentale"-Anwalts erklärten sie: Ein Ausschluss der Schwebebahn aus dem System der Gefährdungshaftung komme außerdem nicht in Betracht, weil zwar für Passanten das Risiko geringer sein möge, von der Bahn erfasst zu werden, bei der Haftung eines Schwebebahnbetreibers aber auch an die Fahrgäste zu denken sei, nicht nur an vorwitzig den Kopf in die Fahrt reckende Passanten.

Zeitumstände –Winter 14/15

Während sich das Reichsgericht in Leipzig, tief in der Mitte Deutschlands, im Herbst 1914 mit mehr oder weniger feinen Distinktionen des Lastkraftwagen- und des Schwebebahn-Betriebs auseinandersetzte, wurden die ersten großen Schlachten des Weltkriegs geführt. Allein in der sogenannten "Ersten Flandernschlacht", datiert etwa auf den 20. Oktober bis 18. November 1914, waren auf deutscher Seite rund 100.000 Männer getötet, verwundet, gefangen genommen worden.

Die folgende Juristengeneration hatte weniger Sinn für formale Feinheiten als die hier zitierten Reichsrichter, man wurde empfänglich für das "Wesen" der Prozessgegenstände, für Güterabwägungen und Interessen jenseits der Vorgaben des Gesetzgebers. Vielleicht ist das Folgende nicht zu grob spekuliert: Vier Jahre Angst vor feindlichem Beschuss, Giftgaskrieg, Hunger und Mangelversorgung – es ist anzunehmen, dass die Bereitschaft der nachfolgenden Juristengeneration, Unterscheidungen aus dem Elfenbeinturm als überflüssigen Formalismus abzulehnen, ja zu denunzieren, von dieser lebensfeindlichen Zeit mitgeprägt wurde.

Jene Kapital- und Rentenansprüche, die der Wuppertaler Witwe oder dem Westerwälder Lkw-Opfer zugesprochen wurden, dürften im Übrigen bald in doppelter Weise ihr Gewicht verloren haben: Der Krieg wurde zu guten Teilen kreditfinanziert, die dadurch bedingte Inflation fraß zunächst den Geldwert auf, bevor ihm die Hyperinflation von 1923 den Garaus machte.

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Rechtsgeschichten 1914/15: Lkw-Abenteurer und Schwebebahnopfer vorm Reichsgericht . In: Legal Tribune Online, 30.11.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13962/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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