Der Bandwurmsatz des Reichsgerichts zur Definition des "Eisenbahnunternehmens" ist nicht nur in Juristenkreisen legendär. Dabei hatte dasselbe Gericht im Wettlauf mit dem technischen Fortschritt noch zahlreiche weitere Fragen zu beantworten. Wann etwa ist ein Lkw ein Lkw? Und hilft es einem Schwebebahnbetreiber, wenn seine Fahrzeuge weit über den Köpfen der Passanten schweben?
Dass man jeden früheren Insassen einer rechtswissenschaftlichen Fakultät, unabhängig von Alter und Geschlecht, noch nachts um zwei aus dem Schlaf reißen könnte und auf Befragen die korrekte Definition solch juristischer Allerweltsbegriffe wie "Schaden" oder "Verwaltungsakt" erhielte, wäre man denn so barbarisch, den Schlaf der Gerechten zu stören, darf einmal unterstellt werden. Um aber zu einer jedenfalls historisch korrekten Definition des juristischen Begriffs "Eisenbahnunternehmen" zu kommen, wird man wohl auf die (Modell-) Eisenbahnfans zurückgreifen müssen. Die berühmt-berüchtigte Definition durch das Reichsgericht (Urt. v. 17.03.1879, Az. I 23/80) lautet, untauglich für Spontanbefragungen, folgendermaßen:
"Ein Eisenbahnunternehmen ist ein Unternehmen, gerichtet auf wiederholte Fortbewegung von Personen oder Sachen über nicht ganz unbedeutende Raumstrecken auf metallener Grundlage, welche durch ihre Konsistenz, Konstruktion und Glätte den Transport großer Gewichtsmassen, beziehungsweise die Erzielung einer verhältnismäßig bedeutenden Schnelligkeit der Transportbewegung zu ermöglichen bestimmt ist, und durch diese Eigenart in Verbindung mit den außerdem zur Erzeugung der Transportbewegung benutzten Naturkräften (Dampf, Elektricität, thierischer oder menschlicher Muskelthätigkeit, bei geneigter Ebene der Bahn auch schon der eigenen Schwere der Transportgefäße und deren Ladung, u. s. w.) bei dem Betriebe des Unternehmens auf derselben eine verhältnismäßig gewaltige (je nach den Umständen nur in bezweckter Weise nützliche, oder auch Menschenleben vernichtende und die menschliche Gesundheit verletzende) Wirkung zu erzeugen fähig ist."
Technik auf dem Prüfstand des Reichsgerichts
Über diesen verschachtelten Satzbau haben sich schon Generationen von Juristen lustig gemacht. Weniger bekannt ist, dass dieses Urteil von 1879 noch eine ganze Generation später seriös zitierfähig war, und dass es in den Merkwürdigkeiten juristischer Technikbewertung verwandte Entscheidungen des Reichsgerichts gab: Auch die Frage, wann ein Lastkraftwagen ein Lastkraftwagen im Sinne des Gesetzes ist, kam schon zu Kaisers Zeiten vor den höchsten deutschen Zivilrichtern auf den Prüfstand. Zu späteren Ehren gelangte die Eisenbahn-Definition beispielsweise noch bei der Frage, ob eine Schwebebahn auch wirklich eine Eisenbahn sei.
Ein – im Tatbestand – abenteuerliches Urteil zum Wesen des Lastkraftwagens erging am 30. November 1914 (Az. VI 410/14), die juristische Einordnung der Wuppertaler Schwebebahn gut vier Wochen später, mit Urteil vom 4. Januar 1915 (Az. VI 434/14). Diese beiden Entscheidungen gehören zu den zahlreichen Befunden, in denen erste juristische Bewertungen von Wissenschaft und Technik in der Hoch-Zeit der Industrialisierung Deutschlands geäußert wurden. Sie erlauben, jedenfalls in ihren Zwischentönen, sich ein Bild vom Umgang mit Risiken, mit neuen Technologien und ihren teilweise noch unbedarft-abenteuerlustigen Nutzern zu machen – lange, bevor alles in einem engen Korsett von staatlicher Aufsicht und undurchsichtiger DIN-/ISO-Apparate verschwand.
Atemberaubende Fahrkünste
Wann ist ein Lastkraftwagen ein Lastkraftwagen im Sinne des Gesetzes? Genauer gefragt: Wann kommt ein Lastkraftwagenhalter in den Genuss einer Haftungsprivilegierung, obwohl er einen Personenschaden verursachte? Nach dem Urteil vom 30. November 1914 lag der Fall so: Am 17. März 1911 war der Kläger auf der Straße vom heute rheinland-pfälzischen Westerwald-Örtchen Vettelschoß ins nahegelegene Neustadt (Wied) "von dem damaligen Chauffeur L. geführten Kraftwagen angerannt [sic!] und schwer verletzt worden". Der Vorgang war soweit unstrittig.
Das "Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen" vom 3. Mai 1909 (Reichsgesetzblatt, S. 437-444) regelte nun zwar in seinen §§ 7 bis 21 eine Gefährdungshaftung, die der heutigen Fahrzeughalterhaftung bereits weitgehend entsprach. Allerdings hatte das Reichsgericht darüber zu befinden, ob "der Unfall durch ein Fahrzeug verursacht wurde, das nur zur Beförderung von Lasten dient und auf ebener Fläche eine auf 20 Kilometer begrenzte Geschwindigkeit in der Stunde nicht übersteigen kann", so die Formulierung im § 8 des Gesetzes, der die Fahrzeughalter-Haftung explizit ausschloss.
2/2: Fahrzeugmanipulation bei fliegender Fahrt
Ab Werk war der unfallverursachende Lastkraftwagen mit einem "Gestängebolzen" versehen worden, der die Geschwindigkeit auf unter 20 km/h halten sollte. Allerdings stellten die Richter fest: "Die Herausnahme des Bolzens bietet nach der Konstruktion des Wagens nicht die geringsten Schwierigkeiten. Sie kann sogar während des Fahrens erfolgen, zwar nicht durch den Führer selbst, aber in der Weise, daß dessen Begleiter auf den Kotflügel des Wagens klettert und von da aus den Bolzen herauszieht." Des Öfteren hatten der Lkw-Chauffeur und sein Begleiter genau das auch getan, vor diesem Unfall allerdings nicht. Im Ergebnis werten die Richter des Landgerichts Neuwied, des Oberlandesgerichts Frankfurt/Main und des Reichsgerichts unisono: Der Lkw konnte die 20 km/h technisch übersteigen. Dass der Unfall bei faktisch 'nur' rund 19 km/h zustande kam, blieb unerheblich, weil das Gesetz nur auf die abstrakte Möglichkeit der höheren Geschwindigkeit abhob. Die Lkw-Halter mussten also für den Personenschaden aus dem Gefährdungstatbestand haften.
Der Blick ins Gesetz 1909 verrät auch die Größenordnung: § 12 des Kraftfahrzeuggesetzes beschränkte bei Tötung oder Verletzung eines Menschen die Haftpflicht auf einen Kapitalbetrag von 50.000 Mark bzw. einen Rentenbetrag von 3.000 Mark jährlich, bei Mehrpersonenschäden auf insgesamt 150.000 bzw. 9.000 Mark. Die Haftungsgrenze für Sachbeschädigungen lag 1909 bei 10.000 Mark. Diese auf den ersten Blick geringen Beträge relativieren sich einerseits, wenn man bedenkt, dass ein Facharbeiterlohn vor dem Ersten Weltkrieg bei vielleicht 1.000 bis 1.500 Mark lag – und zwar im Jahr.
Der Blick ins Reichsgesetzblatt von 1909 verrät freilich noch ein bisschen mehr und lädt zu einer weiteren Relativierung ein: Kaiser Wilhelm II. (1859-1941) unterzeichnete das "Gesetz über den Verkehr mit Kraftfahrzeugen" nicht etwa in Berlin oder Potsdam, sondern in "Achilleion, Corfu". Auf dieser griechischen Insel hatte er soeben einen Palast gekauft, den sich Elisabeth von Österreich-Ungarn (1837-1898), die als "Sisi" bzw. "Sissi" verkitschte Fürstin, hatte errichten lassen. Der Kaufpreis lag, so ist zu finden, bei einer Million Mark.
Formal korrekt statt Güter und Risiken abwägend
Bemerkenswert am Lkw-Urteil ist das Fehlen aller Güterabwägungen oder – jedenfalls unter der Hand – moralischer Wertungen, die später in der deutschen Rechtsprechung üblich wurden: Es genügte 1914, formal festzuhalten, dass das Fahrzeug die für den Haftpflicht-Ausschluss notwendige Eigenschaft nicht besaß. Die Frage, ob der Gesetzgeber gut daran getan hatte, auf die bloße Möglichkeit einer Geschwindigkeitserhöhung abzuheben, stellten die Richter nicht. Man hätte ja durchaus darüber räsonieren können, dass die Gefahr eines Fahrzeugs auch von der bewegten Masse ausgeht, nicht allein von der abstrakten Fähigkeit, eine gewisse Geschwindigkeit erreichen zu können.
Am 4. Januar 1915 urteilte der gleiche Senat zur Frage: "Ist eine Schwebebahn als Eisenbahn im Sinne des Reichshaftpflichtgesetzes zu betrachten?" Beim Versuch, die Leitungsdrähte einer konventionellen Straßenbahn über der Rathausbrücke in Barmen (heute: Wuppertal) zu reparieren, war ein Angestellter von der darüber fahrenden Schwebebahn erfasst und durch den Sturz tödlich verletzt worden. Gegen die Forderung der Witwe wandte die "Continentale Gesellschaft für elektrische Unternehmungen", die Betreiberin der Schwebebahn, ein, es handle sich um keine Eisenbahn im Sinne des Haftpflichtgesetzes.
Die Reichsgerichtsräte des Jahres 1914/15 griffen hier unbeschwert von der Komik des Vor-Urteils auf die berühmte Eisenbahn-Entscheidung von 1879 zurück und erklärten, dass es nicht darauf ankomme, ob das gefährliche Bahnfahrzeug auf der Schiene oder unterhalb der Schiene fahre. Nur zur Belehrung des die Revision führenden "Continentale"-Anwalts erklärten sie: Ein Ausschluss der Schwebebahn aus dem System der Gefährdungshaftung komme außerdem nicht in Betracht, weil zwar für Passanten das Risiko geringer sein möge, von der Bahn erfasst zu werden, bei der Haftung eines Schwebebahnbetreibers aber auch an die Fahrgäste zu denken sei, nicht nur an vorwitzig den Kopf in die Fahrt reckende Passanten.
Zeitumstände –Winter 14/15
Während sich das Reichsgericht in Leipzig, tief in der Mitte Deutschlands, im Herbst 1914 mit mehr oder weniger feinen Distinktionen des Lastkraftwagen- und des Schwebebahn-Betriebs auseinandersetzte, wurden die ersten großen Schlachten des Weltkriegs geführt. Allein in der sogenannten "Ersten Flandernschlacht", datiert etwa auf den 20. Oktober bis 18. November 1914, waren auf deutscher Seite rund 100.000 Männer getötet, verwundet, gefangen genommen worden.
Die folgende Juristengeneration hatte weniger Sinn für formale Feinheiten als die hier zitierten Reichsrichter, man wurde empfänglich für das "Wesen" der Prozessgegenstände, für Güterabwägungen und Interessen jenseits der Vorgaben des Gesetzgebers. Vielleicht ist das Folgende nicht zu grob spekuliert: Vier Jahre Angst vor feindlichem Beschuss, Giftgaskrieg, Hunger und Mangelversorgung – es ist anzunehmen, dass die Bereitschaft der nachfolgenden Juristengeneration, Unterscheidungen aus dem Elfenbeinturm als überflüssigen Formalismus abzulehnen, ja zu denunzieren, von dieser lebensfeindlichen Zeit mitgeprägt wurde.
Jene Kapital- und Rentenansprüche, die der Wuppertaler Witwe oder dem Westerwälder Lkw-Opfer zugesprochen wurden, dürften im Übrigen bald in doppelter Weise ihr Gewicht verloren haben: Der Krieg wurde zu guten Teilen kreditfinanziert, die dadurch bedingte Inflation fraß zunächst den Geldwert auf, bevor ihm die Hyperinflation von 1923 den Garaus machte.
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.
Martin Rath, Rechtsgeschichten 1914/15: Lkw-Abenteurer und Schwebebahnopfer vorm Reichsgericht . In: Legal Tribune Online, 30.11.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/13962/ (abgerufen am: 19.04.2024 )
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