Fiktionen im Recht: Wie die Insel Menorca zum Stad­tteil Lon­dons wurde

Gastbeitrag von Dr. Kristin Y. Albrecht

29.08.2020

Ein ungeborenes Kind gilt als geboren, eine Mittelmeerinsel ist keine Insel mehr: Das Recht arbeitet mit Fiktionen und Vermutungen. Kristin Y. Albrecht hat untersucht was sie ausmacht, und warum wir sie brauchen.

Das ungeborne Kind, das unter bestimmten Umständen als geboren angesehen wird oder die Insel Menorca, die plötzlich als Stadtteil Londons gilt. Nicht zu vergessen sind Figuren wie der reasonable man, der gute Familienvater (paterfamilias) oder der durchschnittliche Verbraucher.

Das Recht arbeitet an vielen Stellen mit Fiktionen und Vermutungen. Steckt aber in jeder Vermutung auch eine Fiktion oder sind das einfach zwei ganz unterschiedliche Angelegenheiten?

Fiktionen im Recht irritieren auf den ersten Blick

Ein Merkmal von Fiktionen ist ihre Unwiderlegbarkeit. Fiktionen sind blind gegenüber faktischen Verhältnissen. Daher können widerlegbare Vermutungen keine Fiktionen sein. Bei den unwiderlegbaren Vermutungen, wie etwa dem Scheitern der Ehe nach dreijährigem Getrenntleben gem. § 1566 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), wird es spannend: Hier kommt für mich ein zweites Merkmal von Fiktionen ins Spiel: ihre Aritifzialität bzw. Paradoxie. Fiktionen im Recht irritieren auf den ersten Blick. Nicht jede unwiderlegbare Vermutung ist aber artifiziell – es kommt darauf an, ob das Vermutete von dem regelmäßig zu erwartenden Lauf der Dinge ganz wesentlich abweicht.

Fiktionen im Recht haben in der Vergangenheit auch immer wieder starke Ablehnung provoziert. Selbst der Autor der österreichischen Verfassung, Hans Kelsen, hat 1911 im Vorwort der Hauptprobleme der Staatsrechtslehre geschrieben, dass eines der Ziele seiner Arbeit die Ausrottung von Fiktionen sei.

Fiktion hört sich im ersten Moment erstmal nach einem Taschenspielertrick oder für manche auch einfach nach einer Lüge an. Die Kritik steigert sich nach Auffassung des englischen Rechtsphilosophen Jeremy Bentham sogar bis hin zur "syphilis of the law". Geht es um Rechtsfiktionen, wird es auf jeden Fall für eine juristische Diskussion ungewohnt hitzig. Rechtswissenschaftler haben Fiktionen meist bekämpft, weil man in ihnen ein Symbol der Verdeckung eigentlicher Probleme gesehen hat. Als wäre der Gesetzgeber zu scheu zu sagen, was er tatsächlich sagen will. Im Recht findet man diese Fiktionen deshalb in der Regel in den Gesetzbüchern, wie etwa das Beispiel des Ungebornen in § 1923 BGB.

"Das Ungeborne gilt als geboren" - zu literarisch für das Recht

Es gibt aber auch Fiktionen durch richterliche Rechtsfortbildung, die man allerdings nur im anglo-amerikanischen (und im antiken römischen Recht) findet. Ein Beispiel hierfür ist etwa die attractive nuisance-Doktrin: Wenn ein Kind sich auf einem Grundstück an einem gefährlichen Gegenstand verletzt, wird der Eigentümer des Grundstücks so behandelt, als ob er das Kind auf das Grundstück eingeladen hätte. In diesen Fällen geht es um Rechtsfortbildung zum Zweck der Billigkeit. Das ist etwas ganz anderes als die Fiktionen in den Gesetzbüchern. Man findet diese Art von Fiktion nur im anglo-amerikanischen Recht, da die RichterInnen dort mehr Spielraum zur Rechtsfortbildung haben.

Fiktionen in Gesetzestexten bringen zunächst auch einmal Nachteile mit sich, zum Beispiel machen sie die Verweisungstechnik komplizierter. Ändert sich das, worauf verwiesen wird, muss der Gesetzgeber auch bei der Fiktion nachbessern. Das ist natürlich fehleranfällig. Aber auch sprachlich ist die Verweisung manchmal komplexer als sie sein müsste. Anstatt zu schreiben "Ausnahmsweise haben unter den folgenden Bedingungen auch Ungeborene Rechte", schreiben die Gesetzgeber: "Unter den folgenden Bedingungen gelten Ungeborene als geboren". Das ist erstmal nicht schlimm, weil die meisten Gesetze nicht für juristische Laien geschrieben werden. Allerdings wirken Formulierungen wie "das Ungeborne gilt als geboren" einfach zu literarisch für das Recht; das sind sprachliche Fremdkörper.

Fiktionen bieten einen wesentlichen Vorteil. Der Gesetzgeber kann neben der Verweisung noch eine zweite Botschaft vermitteln: Er zeigt, dass ihm das höhere Rechtsprinzip, das mit der Fiktion durchbrochen wird, sehr wichtig ist. Beim Beispiel des Ungebornen (vgl. § 1923 Abs. 2 BGB) ist das die Regel: "Die Rechtsfähigkeit des Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt." (§ 1 BGB). Durch das "gilt als" gibt der Gesetzgeber die Durchbrechung auf der sprachlichen Ebene nicht direkt zu.

Der Unterschied ist rechtspolitischer Natur: Wenn die Gesetzgeber eine Ausnahme direkt ins Gesetz schreiben, dann öffnet das die Tür ein Stückchen weiter für weitere Ausnahmen. Die Fiktion ist einfach eine Nuance zurückhaltender. Da ich persönlich bei Gesetzeswerken aber sprachliche Klarheit und Eleganz bevorzuge, würde ich diese Fiktionen durch eine Umformulierung entfernen. Dann müsste man bei § 1 BGB ein "grundsätzlich" hinzufügen und § 1923 Abs. 2 BGB würde lauten: "Wer zur Zeit des Erbfalls noch nicht lebte, aber bereits gezeugt war, kann ebenfalls Erbe sein."

Wie nah sind die rechtlichen Fiktionen an Fiktionen der Literatur?

Rechtswissenschaft ist eine Normwissenschaft. Und der Zweck einer literarischen Fiktion ist ein ganz anderer als der einer Rechtsfiktion. Aber es gibt auch offensichtliche Parallelen: Wo uns dort in der griechischen Mythologie die Göttin Athene, das literarische Alter Ego von US-Schriftsteller Charles Bukowski Hank Chinaski oder Sherlock Holmes begegnen, finden wir im Recht den paterfamilias, den reasonable man oder der durchschnittlichen Verbraucher. Fruchtbar fand ich den Vergleich aber insbesondere bei der Frage, ob Fiktionen Lügen sind.

Die literarischen Fiktionen sind hierbei den gleichen Fragen ausgesetzt wie die rechtlichen Fiktionen: Wie können wir beispielsweise sagen, dass es wahr ist, dass Sherlock Holmes in 221 B Baker Street in London wohnt? Sowohl im heutigen als auch im historischen London hat dort niemals ein Mann mit diesem Namen gewohnt. Aussagen in literarischen Texten sind wie Normen nur indirekt der Wahrheit zugänglich. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Rechtsfiktionen, die sowohl wegen ihrer literarischen als auch wegen ihrer normativen Gestalt nur indirekt der Wahrheit zugänglich sind, in der Vergangenheit so oft als institutionalisierte Lügen bezeichnet wurden.

Wenn also Menorca durch englische Richter im Jahr 1773 einfach als Stadtteil Londons deklariert wird (um die Zuständigkeit an sich zu ziehen), dann wirkt das zunächst wie eine Lüge. In der Welt des Rechts ist es aber keine – bei Fiktionen liegt die Provokation in eben jenem facettenreichen Spiel der Bezüge auf die Welt des Rechts und unserer sozialen Wirklichkeit.

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Dr. Kristin Y. Albrecht hat Rechtswissenschaften an der Universität Heidelberg studiert und ist derzeit Senior Scientist an der Universität Salzburg.

Zitiervorschlag

Fiktionen im Recht: Wie die Insel Menorca zum Stadtteil Londons wurde . In: Legal Tribune Online, 29.08.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42623/ (abgerufen am: 29.03.2024 )

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