BGH zum reformierten Sexualstrafrecht: Begriff der "schutz­losen Lage" bemisst sich rein objektiv

02.09.2020

Ob eine schutzlose Lage nur angenommen werden kann, wenn das Opfer weiß, dass es sich in einer solchen befindet, war unter Strafrechtlern umstritten. Nun hat der BGH das erste höchstrichterliche Urteil hierzu gefällt.

Das 2016 verschärfte Sexualstrafrecht soll Menschen besser vor sexueller Gewalt schützen. In einem am Mittwoch veröffentlichten Urteil stellte der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe höchstrichterlich klar, wann sich ein Opfer in einer "schutzlosen Lage" befindet (Urt. v. 02.07.2020 Az. 4 StR 678/19). Bisher war insbesondere umstritten, ob der Begriff der "schutzlosen Lage" rein objektiv zu bestimmen ist oder es einer subjektiven Zwangswirkung der Schutzlosigkeit auf das Tatopfer bedarf. Der BGH hält eine rein objektive Bewertung des Begriffs für ausreichend und hob entsprechend ein anderslautendes Urteil des Landgerichts (LG) Halle auf. 

Das durch das 50. Strafrechtsänderungsgesetz reformierte Sexualstrafrecht schütze, so der BGH, insbesondere die sexuelle Selbstbestimmung des Opfers, welches selbst über das "Ob", "Wann" und "Wie" eines sexuellen Kontakts bestimme. Im Rahmen dieses "Paradigmenwechsels" setze - entgegen der früheren Rechtslage - der überarbeitete § 177 Abs. 5 Strafgesetzbuch (StGB) keine Nötigung des Tatopfers mehr voraus.

Nach Auffassung des BGH reicht es damit aus, dass "sich das Opfer dem überlegenen Täter allein gegenübersieht und auf fremde Hilfe nicht rechnen kann". In der Literatur hatten Stimmen hingegen eine subjektive Zwangswirkung der schutzlosen Lage auf das Tatopfer für erforderlich erachtet. Dieser Auffassung hält der BGH nun entgegen, dass diese weder dem Wortlaut noch dem Willen des Gesetzgebers entspreche. Der Tatbestand solle Fälle erfassen, in denen das Opfer starr vor Angst ist und nur deshalb auf Widerstand verzichtet, weil es in einer hilflosen Lage ist und dieser gegen den überlegenen Täter aussichtslos erscheint.

In dem Fall vor dem LG Halle ging es um einen Mann, der 2018 zwei Mädchen sexuell missbraucht hatte. Das eine Kind hatte er unter einem Vorwand in ein leeres Gebäude auf einem Abbruchgelände gelockt. Das andere Kind überrumpelte er und führte es in eine Ruine. Das LG hatte den Täter 2019 zu drei Jahren Gefängnis verurteilt und dabei befunden, dass die Mädchen sich nicht in einer "schutzlosen Lage" befunden hätten. Das sieht der BGH nun anders. Dem Täter droht jetzt im Rahmen eines neuen Prozesses eine höhere Gesamtstrafe.

vbr/dpa/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

BGH zum reformierten Sexualstrafrecht: Begriff der "schutzlosen Lage" bemisst sich rein objektiv . In: Legal Tribune Online, 02.09.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/42674/ (abgerufen am: 29.04.2024 )

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