Sind's gute Kind, sind's böse Kind?: Der Weih­nachts­mann im Wer­te­wandel

Gastbeitrag von Andreas Zöllner und Hendrik Schwager

24.12.2023

Ausgerechnet ein alter weißer Mann schwingt sich alle Jahre wieder zum Richter über "korrektes Verhalten" auf – und hat es heute schwerer denn je. Ob ihm das Recht beim Urteilen hilft, untersuchen Andreas Zöllner und Hendrik Schwager.

"Ich will auch immer artig sein", beschwören Kinder seit eh und je den lieben guten Weihnachtsmann. Zwar bleibt dieses Versprechen oft nur so lang im Gedächtnis wie ein Besuch bei der Warburg-Bank. Doch haben nicht nur die Kinderlein ihre Mühen, das ganze Jahr über folgsam zu sein. Dem richtenden Rauschebart, der die Kinder auf seiner berühmten Liste in Artig und Unartig einteilt, fällt es mittlerweile schwer, treffsicher zu urteilen, wer gefällig und wer zwider war. Denn so wie sich der gemeine weiße Vorstadt-Boomer in seinem Reihenendhaus täglich die Frage zu stellen scheint, was heutzutage noch "normal" ist, gerät auch der toxische Tugendwächter mit seinen binären Kategorien in Bedrängnis. Bringt der Woke-Wahnsinn nun etwa auch die winterliche Welt des sonst so wachsamen Weihnachts-Cis-Manns ins Wanken?

Das Recht erwies sich in der Vergangenheit stets als verlässliche Stütze, wenn sich der raubeinige Rutenplaner fragen musste, ob das Reisigbündel zu schwingen ist. § 1619 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) schreibt etwa vor, dass ein Kind im elterlichen Haushalt mithelfen muss, solange es dort wohnt. Wer also den Geschirrspüler nicht ausräumt oder den Hausflur nicht kehrt, der hat die Rute – mit dem Segen des Gesetzes – zweifellos verdient. Mittlerweile hält das Recht aber längst nicht mehr für jeden Lebensbereich verbürgte Antworten bereit. Justiz und Gesetzgeber haben jedenfalls die Dinge in jüngster Vergangenheit für den rotbemantelten Rechtsanwender nicht klarer gemacht.

Fridays for Future: Tausend Kindlein stehn und schwänzen 

Wer dem Schulunterricht fernbleibt, hat nicht nur einen blauen Brief zu fürchten. Obendrein mussten Schwänzer bisher damit rechnen, dass ihr Wunschzettel an den gewichtigen Geschenkboten postwendend als unzustellbar retourniert wird.

Wenn der grantige Onkel Günter mahnt, "Die Kinder sollen gefälligst zur Schule gehen", sobald er in seinem Audi Q7 von Fridays-for-Future-Demos hört, hat er damit grundsätzlich die Schulgesetze der Länder auf seiner Seite. Schulschwänzern drohen nämlich Zwangsmittel und – je nach Bundesland – sogar Geldbußen (z.B. § 42 BbgSchulG).  

Doch nur weil die launische Luisa anstelle des Karpfens den Freitag blaumacht, ist damit längst nicht mehr gesagt, dass ein Fall strafbewehrter Drückebergerei vorliegt. Trifft man sie stattdessen im Berliner Regierungsviertel beim Klimastreik an, kann das Fehlen durchaus entschuldigt sein. Auch wenn Klima-Aktivismus kein dauerhafter Freifahrtschein für ein verlängertes Wochenende ist, greift doch auch für die Kleinen schon das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit, das in Ausnahmefällen eine Befreiung vom Unterricht rechtfertigen kann. Der autoritäre Arktisbewohner wird sich deshalb überlegen müssen, ob er die Rute vor oder doch lieber im Kanzleramt schwingen möchte.

Andersherum sollte der Mann, dem die Polkappen bekannterweise unter seinem mächtigen Hintern wegschmelzen, übermäßigen Klimaprotest während der Schulzeit auch nicht kategorisch mit einem Extrasack Dinkelplätzchen belohnen. Denn wer Kinder zum Schwänzen verleitet, gerät beispielsweise in Hamburg selbst in die Fänge der Justiz (§ 113 HmbSG). Dass die Strafverfolgungsbehörden an der Waterkant nicht lang rumpimmeln, ist bekannt. 

Die "Letzte Generation": Morgen, Kinder, wird was kleben 

Noch drastischer liegt der Fall bei denen, die statt mit rotem Mantel und Zuckerguss an den Händen wegen Warnweste und Sekundenkleber in die Schlagzeilen geraten. Schulschwänzerei mag man als Kavaliersdelikt abtun, die Aktivisten der "Letzten Generation" aber haben womöglich veritable Straftaten auf dem klimaneutralen Kerbholz. 

In aller Regel erfüllt das Festkleben auf Straße, Gleis oder Rollfeld zumindest den Tatbestand der Nötigung. Doch scheiden sich die guten Geister an den Gerichten darüber, ob es – im Lichte der Versammlungsfreiheit – wirklich "verwerflich" i.S.d. § 240 Abs. 2 StGB sein kann, Umweltsäue zugunsten des Klimaschutzes zu blockieren. Teils vertritt sogar dasselbe Amtsgericht im gleichen Fall unterschiedliche Standpunkte. Da holt manch' Fischer im Recht zum klarstellenden Rutenhieb aus: Derartige Fernziele könnten – seien sie noch so edel – weder entschuldigend noch rechtfertigend wirken. Doch solange diese Erkenntnis nicht bis zur Front durchgedrungen ist, sucht nicht nur die eingekleisterte Aktivistenpatsche, sondern auch die Justiz nach einem guten Haftgrund. 

Cannabis-Legalisierung: Wie grün sind deine Blüten? 

Bei der Neukalibrierung seines Betragenskompasses braucht der mollige Mainstream-Missionar auf erhellende Gebote aus Berlin nicht zu hoffen, flackert die Ampel derzeit doch bekanntlich wie eine defekte Lichterkette. Während die Weisen aus dem Morgenland neben Weihrauch und Myrrhe auch Gold in den Stall zu Bethlehem trugen, stehen die Heiligen Drei Koalitionäre unter dem Joch der Schuldenbremse – und haben ihre Gaben an das Volk auf Räucherwerk beschränkt. Allerdings dürfte das neue Cannabisgesetz dem breiten Bartträger vom Nordpol ein ziemliches Pappmaul bereiten: Derzeit droht strafmündigen Teenagern noch der Jugendrichter, wenn sich die Kinderstube in eine harzige Duftwolke hüllt, obwohl die Weihnachtskiefer noch gar nicht aufgestellt ist. Ganz klar, dass auch der Runde in Rot dann nichts für die im Sack hat, die mit Grünzeug in der Tasche erwischt werden. Ganz so easy-peasy wird es künftig nicht mehr sein: Zwar ist Minderjährigen der Besitz des "Sünder-Grünkohls" weiterhin untersagt (§§ 2, 3 KCanG-E). Doch wie bei Erwachsenen bleibt auch bei Jugendlichen, die mit Eigenbedarfsmengen (nun wohl bis zu 60 Gramm) erwischt werden, das scharfe Schwert des Strafrechts künftig in der Scheide (vgl. § 7 Abs. 1 KCanG-E). Muss sich auch der kugelbäuchige Kaminschlüpfer diesem Wandel hingeben und seine Rute im Sack lassen?

Strafzumessung: Straffe Zügel oder lange Leine?

Hat der rentierreitende Richter den Lausbub Linus und die nörglerische Noelia dann einmal für unartig befunden, stellt ihn der im Herbst reformierte § 46 Abs. 2 StGB gleich vor die nächste quälende Entscheidung: Soll es bei einem mahnenden Winken mit der Rute bleiben oder führt die Missetat gar zu einer Zero-Geschenke-Politik?  

Urteilt der tadelnde Tiefflieger nach den allgemeinen Strafzumessungsregeln, hat er fortan "geschlechtsspezifische Beweggründe" schwerer zu gewichten. Was dem Strafrichter die besondere Schutzwürdigkeit von Frauen und Menschen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität in Erinnerung rufen soll, könnte den gesetzestreuen Grantler zu einem rigoroseren Vorgehen vor allem bei diskriminierenden Hänseleien verleiten.  

Hatte der pubertierende Paul "Mädchen sind doof" auf die Schulbank gekritzelt, war ein abgeschmackter Altherrenwitz des schlüpfrigen Schleckermauls bisher Strafe genug. Heute wird der woke Winterfreund diese Verfehlung vielleicht mit einem leeren Geschenkesack vergelten müssen. Und da das Recht keine Einbahnstraße ist, sollte auch die frivole Frida nicht mehr auf das Zepter der Barmherzigkeit hoffen, wenn aus dem Kinderzimmer "Mädchen gegen Jungs" in Endlosschleife schallt. 

Kinderrechte im Grundgesetz: Mädchen hört und Bübchen

Obendrein drohen dem selbstherrlichen Samtpelz strengere prozessuale Fesseln. Schließlich hat sich die "Fortschrittskoalition" vorgenommen, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern. Bereits das letzte Merkel-Kabinett wagte 2021 einen Anlauf: In Art. 6 GG sollte u.a. der "Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör" hervorgehoben werden. Würde die pauschale Frage, ob die hitzköpfige Hilda "auch immer schön artig war", dem wirklich gerecht?  

Doch muss sich der fleischige Festbringer darüber fürs Erste wohl keine Gedanken machen. Schon der erwähnte Entwurf aus den Ministerien von Knecht Lambrecht erwies sich ausnahmsweise nicht als Kracher – und auch der Ampel werden dafür kaum mehr Chancen eingeräumt. Das schnaufende Schwergewicht kann also vorerst aufatmen – zumindest solange kein fränkisches Väterchen Frost ins Kanzleramt einzieht. Denn in der bayerischen Landesverfassung sind Kinder, in gewohnter bajuwarischer Fortschrittlichkeit, bereits ausdrücklich bedacht: "Kinder sind das köstlichste Gut eines Volkes." – Na dann: An Guadn! 

Sprachvorgaben in Bayern: Die Gendersternlein traulich funkeln 

Offenbar nur knapp hinter Holden Knaben im lockigen Haar rangiert auf der Liste der freistaatlichen Köstlichkeiten die deutsche Sprache. Nach dem Artig-und-Unartig-Verständnis des obersten Hirten sind inklusive Schmierereien mit Genderstern und Binnen-I in der Geschichtsarbeit offenbar gnadenlos zu ahnden, während geschichtsvergessene Flugblätter im Schulranzen als lässliche Jugendsünden kurzerhand vergeben werden. 

Mit dem Gender-Verbot an Schulen folgt der größte Widersacher grüner Bevormundung den prohibitiven Beispielen aus Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein – und auch Sachsen, wo man unter Gendern bekanntlich ohnehin nur das seitliche Umkippen eines Bootes versteht. 

Gegenderte Wunschzettel wird der spitzbärtige Sprachhüter also künftig auf die strengen Vorgaben der Kultusministerien hin prüfen müssen. Die Regeln könnten jedoch den bulligen Bewegungslegastheniker selbst aufs Glatteis führen: Zwar steht der voluminöse Vollbärtige als Lehrbuchbeispiel eines alten weißen Mannes nicht im Verdacht, voreilig neuen Sprachtrends zu folgen. Doch sollte sich der schimpfende Schlittenlenker hüten, beim Schulbesuch in Schkopau, Schenefeld oder Schkeuditz an den falschen Stellen kurzatmig zu werden – nicht, dass man das Luftschnappen im Wort als Gendergap missdeutet. 

Weitere Sprechverbote für ergraute Eminenzen sind indes nicht bekannt. Das trifft sich, decken sich doch die Ansichten des mildtätigen Meckerlappens in teils frappierender Weise mit den weltpolitischen Einschätzungen, die Onkel Wolfgang ungefragt an der festtäglichen Tafel absondert – und die man nur deshalb erträgt, weil der arme Kerl auch dieses Jahr wieder den Besuch des kurzatmigen Kaventsmanns knapp verpasst hat, als er "kurz eine rauchen" war. 

Ist die Artig-und-Unartig-Liste ein Auslaufmodell?

Die Zeitenwende ist nun offensichtlich auch jenseits des nördlichen Wendekreises angelangt und bringt nicht nur vermeintlichen Woke-Wahnsinn mit sich, sondern auch einschneidenden rechtlichen Wandel. Wird die althergebrachte Artig-und-Unartig-Liste nun zum Auslaufmodell? Spätestens das neue Selbstbestimmungsgesetz wird den aufgeschlossenen Allheilsbringer ohnehin zwingen, ihr zumindest noch die eine oder andere Spalte hinzuzufügen, um nicht nur Mädchen und Buben richtig einzuordnen. 

Wer dadurch das Weihnachtsfest bedroht sieht, kennt den zeitlosen zentnerschweren Züchtiger schlecht. Wandel ist dem untersetzten Urgestein gewiss nicht neu – in den vergangenen Jahrhunderten hat er es stets verstanden, selbst aufgeweckte Neunmalkluge und Naseweise aller Generationen am Heiligen Abend mit einem strahlenden Lächeln zurückzulassen. 

Die Autoren Andreas Zöllner und Hendrik Schwager sind Wissenschaftliche Mitarbeiter an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg bei der Professur für Bürgerliches Recht, Handels-, Wirtschafts- und Arbeitsrecht. Sie forschen bereits seit Jahren zu Rechtsfragen rund um die Tätigkeit des Weihnachtsmannes.

Zitiervorschlag

Sind's gute Kind, sind's böse Kind?: Der Weihnachtsmann im Wertewandel . In: Legal Tribune Online, 24.12.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53492/ (abgerufen am: 29.04.2024 )

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