Rechtsgeschichten 1913: Kreise im afrikanischen Sand & ein halbes Staatsdienervorbild

von Martin Rath

13.01.2013

Staatsoberhäupter ohne, Gerichtsvollzieher mit Pensionsansprüchen

Auf dem alten Kontinent sollen sich – folgt man der Erzählung Illies’ – im Januar 1913 zwei Spaziergänger im Park von Schloss Schönbrunn begegnet sein. Der eine wohnte in einer konspirativen Wohnung in Parknähe, der georgische Bankräuber und spätere Politkriminelle Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili, später als Stalin bekannt. Ihm soll ein gewisser Adolf Hitler über den Weg gelaufen sein, jedenfalls waren sich die beiden Herren geographisch nie näher als im Januar 1913 in Wien.

Im Schloss Schönbrunn lebte in seinen letzten Jahren ein älterer Herr, den man sich in seinem Amt als eine Art frühen Vorläufer des EU-Ratspräsidenten vorstellen darf, Franz Joseph I. (1830-1916), von Gottes Gnaden Kaiser von Österreich, König von Ungarn und Böhmen, von Dalmatien, Kroatien, Slawonien, Galizien, Lodomerien und Illyrien; König von Jerusalem etc.; Erzherzog von Österreich; Großherzog von Toskana und Krakau; Herzog von Lothringen, von Salzburg, Steyer, Kärnten, Krain und der Bukowina; Großfürst von Siebenbürgen, Markgraf von Mähren; Herzog von Ober- und Niederschlesien, von Modena, Parma, Piacenza und Guastalla, von Auschwitz und Zator, von Teschen, Friaul, Ragusa und Zara; Gefürsteter Graf von Habsburg und Tirol, von Kyburg, Görz und Gradisca; Fürst von Trient und Brixen; Markgraf von Ober- und Niederlausitz und in Istrien; Graf von Hohenems, Feldkirch, Bregenz, Sonnenberg etc.; Herr von Triest, von Cattaro und auf der Windischen  Mark; Großwojwode der Wojwodschaft Serbien etc., etc.

Kurz: ein älterer Herr, der seit 1848 tat, was Staatsoberhäupter so tun, und der auch mit 65 Jahren Dienstzeit von einer Frühpensionierung nach Art neuerer deutscher Ersatz-Monarchen nur träumen konnte.

Mit einer im Vergleich zur k.u.k. Amtsmoral schwierigen Frage nach den Pensionsansprüchen eines preußischen Gerichtsvollziehers befasste sich – während Hitler und Dschughaschwili-Stalin im Wiener Park ihre letzte Chance verpassten, sich in Gewaltfreier Kommunikation  zu üben – das Reichsgericht zu Leipzig (Urt. 10.1.1913, Rep. III 235/12):

"Der Kläger wurde 1890 als Feldwebel pensioniert", beginnt das Reichsgerichtsurteil noch unschuldig, um dann in den frühen Abgründen des Rentenrechts zu versinken: Der Kriegsveteran erhielt monatlich einen bescheidenen Betrag von 33 Mark sowie "die Kriegszulage, weil er durch den Krieg von 1870/71 ganz invalide geworden war" von zunächst monatlich 6, dann 9 Mark, zudem eine Zulage von 9 Mark, weil er 24 Jahre bei der Truppe gewesen war. Nach 24 Jahren Dienst für König und Vaterland bezog der Invalide also 612 Mark jährlich, ungefähr 60 Prozent von dem, was ein gut verdienender Facharbeiter verdiente.

Mehr Geld für versehrte Veteranen

Ursula von der Leyen, die aktuelle Bundessozialministerin, würde angesichts solcher Beträge ganz gewiss lächeln. Dem pensionierten Feldwebel wurden indes per 1. Juni 1895 die 33 Mark Pension gestrichen, weil der Invalide zwischenzeitlich Verwendung als preußischer Gerichtsvollzieher fand. Seither bezog er nur die 9 Mark Kriegszulage weiter.

Am 1. Mai 1907 trat der Mann endgültig in den Ruhestand. Das Reichsgericht merkt etwas moralisch dazu an: "Die tatsächlich von ihm als Gerichtsvollzieher erdiente Pension betrug jährlich 2271 Mark, dagegen die für Gerichtsvollzieher in Preußen überhaupt erreichbare 2571 Mark."

Moralisch ist der Hinweis auf die – gemessen am Gerichtsvollzieherpensionshöchstanspruch – nicht geringe Pensionshöhe deshalb, weil den gewesenen Feldwebel und Gerichtsvollzieher sein Anspruch auf Nach- und erhöhte Zahlungen von Militärpensionen bis vor das Reichsgericht trieb – das Militärpensionsgesetz hatte zwischenzeitlich die diversen Teilanspruchsgrundlagen neu sortiert und ihre Voraussetzungen sprachlich umformuliert. Kurz: Das Kriegsministerium hatte dem Mann 1908 beschieden, dass ihm neben der Zivilpension und der Kriegszulage (inzwischen auf 15 Mark erhöht) noch ein weiterer Betrag von 42 Mark monatlich zu zahlen sei, der sich als Differenzbetrag aus alten und neuen Anspruchsgrundlagen ergab.

Rechtssoziologisches Negativ-, biographisches Positiv-Vorbild

Das genügte dem Mann nicht und er tat, was rechtssoziologisch für Menschen, die als Nicht-Juristen viel mit dem Apparat zu tun haben, nachvollziehbar ist: Er klagte.

Er klagte, obwohl seine Versorgungslage – gemessen an den erbärmlichen Rentenansprüchen schwerstarbeitender "Invaliden" aus Industrie, Landwirtschaft und Handwerk und auch den gewöhnlichen Lohn- und Erwerbschancen – durchaus günstig war: 2775 Mark jährlich, davon konnte der Normalrentner im Kaiserreich regelmäßig nur träumen. Hier würde auch Frau von der Leyen das Lächeln endgültig einfrieren.

Ein Fall mit Symbolwert

Der Münchener Arbeitsrechtsgelehrte Volker Rieble hat dieser Tage "erstaunt" darauf hingewiesen, dass die Weiterarbeit von alten Menschen "kaum als Element einer Lebensstandardsicherung im Alter" diskutiert werde (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 1 vom 6.1.2013, S. 43). Was noch schwerer wiege, als der Umstand, dass die Perspektive einer – körperlich und geistig gesunden Berufstätigkeit bis ins hohe Alter – den Betroffenen verschwiegen werde, seien die rechtlichen Hindernisse, die eine Weiterarbeit im sogenannten Pensionsalter erschwerten – so der volle Kündigungsschutz nach Erreichen der Altersgrenze.

Man wundert sich durchaus, dass in der politischen Diskussion ein Umbau der Altersbezüge in Richtung auf eine Art "Berufsunfähigkeitsrente qua Alter mit verminderter Kapital-/Umlageproblematik", worauf der Riebel’sche Gedanke hinauszulaufen scheint, so gar keine Rolle spielt. Vermutlich liegt dies darin begründet, dass in der Brust des quasi-verbeamteten Parlamentariers der Gegenwart zwei Herzen schlagen, übertragen auf die Moral im Urteil vom Januar 1913: Wie schön, dass ein invalider Soldat noch etwas nützlichen Staatsdienst verrichtet. Andererseits: Schon klar, dass er danach den Hals nicht vollbekommt.

Die Dienst- und Arbeitsmoral des greisen Kaisers Franz Joseph wünscht man sich derweil weder für den öffentlichen Dienst noch für die private Wirtschaft zurück. Dass in seinem Schlosspark zwei junge Hasardeure spazierten, deren Karriere als Politikverbrecher mit dem Zusammenbruch von Versicherungssystemen, wenn nicht der Geldwirtschaft überhaupt einherging, sollte doch zu denken geben. Der dienende, kriegsinvalide Gerichtsvollzieher wird da womöglich noch zum Vorbild für die Zukunft. 

Zitiervorschlag

Martin Rath, Rechtsgeschichten 1913: Kreise im afrikanischen Sand & ein halbes Staatsdienervorbild . In: Legal Tribune Online, 13.01.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7950/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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