Disney+-Serie "Deutsches Haus": "Ausch­witz war eine 24-Stunden-Hölle"

Gastbeitrag von Katharina Reisch

18.11.2023

Am Mittwoch ist die Mini-Serie "Deutsches Haus" bei Disney+ gestartet. Durch die Augen einer Dolmetscherin zeigt sie den Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963. Die Serie gibt den Holocaust-Opfern eine starke Stimme, meint Katharina Reisch.

Vergangenen Sonntag saß ich auf Einladung des Deutschen Anwaltvereins in einem Berliner Kino zu einer Preview. Nach der Vorführung wird ein Glas Sekt gereicht, doch so ganz leicht fällt das Anstoßen nicht.

Denn bis vor wenigen Minuten flimmerte hier ein Jahrhundertprozess über die Leinwand; eben gerade noch verlas ein junger Staatsanwalt seine unerträgliche Anklage, die der Angeklagte Nummer vier teilnahmslos zur Kenntnis nahm. Der Tatvorwurf: Er soll unzählige Menschen selektiert, verprügelt, misshandelt, gefoltert, totgeprügelt, erschossen, mit einer Latte erschlagen, totgetrampelt, getreten, zerquetscht und vergast haben. In den Baracken, auf der Lagerstraße, auf den Appellplätzen, vor der Hinrichtungsstätte, der sogenannten schwarzen Wand, in seinem Büro, im Krankenblock ¬– im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz.

(c) Disney+

"Deutsches Haus" heißt die Serie, deren erste zwei Folgen wir gerade gesehen haben. Sie ist die erste filmische Aufarbeitung des Frankfurter Auschwitz-Prozesses von 1963. "Deutsches Haus" beruht auf dem gleichnamigen Roman sowie Drehbuch von Grimme-Preisträgerin Anette Hess. Seit Mittwoch sind die fünf Folgen der deutsch-polnische Koproduktion bei dem Streamingdienst Disney+ verfügbar. Gefördert wurde sie vom Polish Film Institute und dem Ministry of Culture and National Heritage of the Republic of Poland.

"Lernen Sie alle denkbaren Worte dafür, wie man Menschen töten kann"

Die Serie nimmt ihren Anfang in Frankfurt. Es ist das Jahr 1963, kurz vor Weihnachten, als die junge Dolmetscherin Eva Bruhns kurzfristig einen Übersetzungsauftrag erhält, von dem sie rückblickend wohl sagen wird, dass er ihre Welt in ein Davor und ein Danach geteilt hat. Sie soll in einem der wichtigsten Strafprozesse der Nachkriegsgeschichte Zeugenaussagen aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzen. Es geht um den ersten Auschwitz-Prozess. Ein Mitarbeiter des leitenden Generalstaatsanwalts erteilt Eva einen gut gemeinten Rat für die Vorbereitung: "Lernen Sie […] alle denkbaren Worte dafür, wie man Menschen töten kann."

Angeklagt sind 22 Männer, die meisten von ihnen höflich und unscheinbar. Sie sind Diplom-Ingenieur, Landwirt, Hausmeister, Krankenpfleger, Zahnarzt, Apotheker oder Tischler. Diese Männer sind angeklagt, weil sie als SS-Offiziere schwere Verbrechen begangen haben – im Konzentrationslager Auschwitz. Ein Ort, von dem Dolmetscherin Eva noch nie etwas gehört hat und zu dem sie im Brockhaus lediglich einen Dreizeiler finden kann. "Dann kann es wohl nicht so wichtig sein", meint ihre Schwester. Schnell wird klar: Die Mauern des Schweigens sind dick in diesen Jahren. Die Schuld einer ganzen Generation wird mühevoll verdrängt. 

"Sie helfen mit, dass hier unbescholtene Menschen verleumdet werden!"

Entsprechend formiert sich enormer Widerstand gegen den Prozess: "70 Prozent der Deutschen wollen den Prozess nicht!", titelt eine Zeitung. Auf der Gerichtstoilette überschüttet eine Frau Eva mit Vorwürfen: "Da drin werden Lügen erzählt. Und Sie helfen mit, dass hier unbescholtene Menschen verleumdet werden!". Sie ist die Gattin des Hauptangeklagten, dem stellvertretenden Auschwitz-Kommandanten Robert Mulka, und kommt Eva seltsam bekannt vor.

Während die Übersetzungsarbeit sie das ganze Ausmaß der Massenvernichtung in Auschwitz erkennen lässt, werden Evas Eltern zusehends nervös. Sie betreiben eine Gastwirtschaft, das "Deutsche Haus". Natürlich kommt der Abend, an dem Eva der Frau von der Toilette mit ihrem Mann, dem Hauptangeklagten, im "Deutschen Haus" begegnet. Die beiden streiten mit Evas Mutter. Diese wird von Mulka als "Denunziantin" bespuckt. "Woher kennt ihr die? Woher kennt ihr Robert Mulka?", kann Eva gerade noch durch den Gastraum brüllen, bevor der Abspann ihre Frage verschluckt. Unheilvoll hängt sie über dem Kinosaal, wie so vieles aus dieser Zeit.

"Schlüsselmoment in der […] juristischen Aufarbeitung"

Evas Geschichte ist zwar fiktiv, doch der gezeigte Auschwitz-Prozess ist es nicht. Er begann vor knapp 60 Jahren, am 20. Dezember 1963 im Frankfurter Römer als erster von drei Auschwitz-Prozessen. Er war einer der größten Prozesse der deutschen Nachkriegszeit und das bis dahin wichtigste Verfahren gegen NS-Verbrecher in Deutschland. Die drei Prozesse gelten als "Schlüsselmoment in der […] juristischen Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen und der Erinnerung an den Holocaust." Die Frankfurter Auschwitz-Prozesse konnten erstmals aufzeigen, in welchem Ausmaß und mit welcher Systematik im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz Menschen getötet wurden. In dem Lager im deutsch besetzten Polen wurden zwischen 1940 und 1945 von den Nationalsozialisten mehr als eine Million Menschen – vor allem Jüdinnen und Juden – aus ganz Europa ermordet. 

Ohne den hartnäckigen Einsatz des Frankfurter Generalstaatsanwalt Fritz Bauer wäre die juristische Aufarbeitung dieses Menschheitsverbrechens wohl nicht möglich gewesen. Er gilt als zentraler Initiator der Strafprozesse. Seinen unnachgiebigen Kampf für die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechern zeigen die beiden deutschen Spielfilme "Im Labyrinth des Schweigens" (2014) und "Der Staat gegen Fritz Bauer" (2015). Sie erzählen quasi die Vorgeschichte zur aktuellen Mini-Serie "Deutsches Haus".

Aufnahmen aus KZ Bergen-Belsen gaben Anlass

Nach der Premiere erklärt die Autorin Anette Hess mit sehr persönlichen Worten, warum es ihr schon lange ein Herzensanliegen war, dieses Buch zu schreiben: Alles habe 1977 auf einer Klassenfahrt begonnen. Da war sie zehn Jahre alt und sah im Fernsehen einen Film über die Nürnberger Prozesse. Die dort gezeigten Originalaufnahmen von der Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen bewegten sie tief: "Seitdem fühl ich als Deutsche ein ganz starkes Verantwortungsgefühl, auch Schuldgefühle." Sie erzählt von ihrem Großvater, der im Zweiten Weltkrieg Polizist und auch in Polen stationiert gewesen sei. Natürlich habe er nie über diese Zeit gesprochen und sie immer viele Fragen gehabt.

Für ihren 2018 veröffentlichten Roman "Deutsches Haus" wertete sie nicht nur die Prozessakten, sondern auch die über 400 Stunden umfassenden Tonband-Aufnahmen vom Frankfurter Auschwitz-Prozess aus. Das Fritz Bauer Institut stellt diese Aufzeichnungen seit einigen Jahren im Internet zur Verfügung. Wieder und wieder hörte Anette Hess, was die 300 Zeuginnen und Zeugen über Auschwitz zu sagen hatten; Aussagen, die kaum auszuhalten sind. Nach der Premiere erklärt sie, dass sie glaubte, alles über Auschwitz zu wissen. Bis sie diese O-Töne hörte. Erst da habe sie so richtig begriffen: "Ausschwitz war eine 24-Stunden Hölle." Die Serie gibt die Aussagen zum Großteil originalgetreu wieder und vermag durch diese erschreckende Authentizität bis ins Mark zu erschüttern. 

Tief ins dunkelste Kapitel deutscher Geschichte eingetaucht

Dass die Autorin tief in das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte eingetaucht ist, merkt man nicht nur ihrem Roman, sondern auch der komplett in Polen gedrehten Serie deutlich an. "Deutsches Haus" ist echt, ohne ins voyeuristische abzugleiten; die Serie ist schonungslos und ehrlich; anklagend, ohne anzuklagen. Ihr gelingt auf dem schmalen Grat zwischen spannendem Filmdrama und sensibler Erzählung eine akrobatische Meisterleistung. Sie ist ein wichtiger Beitrag zur Erinnerungskultur in Deutschland.

"Deutsches Haus" besticht nicht nur durch ein ganz erstaunliches Star-Ensemble (u.a. Katharina Stark, Iris Berben, Heiner Lauterbach, Anke Engelke, Max von der Groeben, Henry Hübchen und Sabin Tambrea), sondern auch durch die Protagonistin Eva Bruhns. Sie verleiht den Millionen Opfern der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft und ihren Hinterbliebenen eine starke Stimme. Während Jüdinnen und Juden auch hierzulande gerade, wieder einmal, in Angst leben, entfaltet die Serie eine unheimliche Aktualität. 

Gleichwohl gelingt es ihr, nicht in Schwermut zu versinken. Wohldosiert lässt die Autorin ihren feinen Sinn für Humor einfließen, etwa dann, wenn sie Evas Mutter vor ihrer ersten Waschmaschine die vermeintliche Schnelllebigkeit der 1960er Jahre beklagen lässt: "Alles verändert sich! Ich komme gar nicht mehr mit." Am lautesten lacht das offenbar justizerfahrene Publikum aber, als sich ein Justizwachtmeister mit einem übervoll beladenen Aktenwagen durch die langen Flure der Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft kämpft. Ein Kinobesucher raunt seiner Begleitung unverhohlen zu: "Da hat sich nichts verändert."

"Die Zivilisation [ist] nur eine sehr dünne Decke"

Ich stelle mein Sektglas ab und verlasse das Kino. Gehe an der Popcorn-Maschine vorbei, ins Treppenhaus. Es ist denkmalgeschützt, das ganze Gebäude. Eine ältere Dame hält mir die Tür auf. Viele kleine Selbstverständlichkeiten, die keine sind. Denn das alles hier, es könnte so anders sein. Unsere Zivilisation, sie ist zerbrechlich. Gestern, heute und zu jeder Zeit. Oder, um es mit den Worten Fritz Bauers zu sagen: "Die Zivilisation [ist] nur eine sehr dünne Decke […], die sehr schnell abblättert." Ich mache meine Jacke zu. Es ist kalt geworden in Deutschland.

Autorin Dipl. Jur. Katharina Reisch promoviert am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Rechtssoziologie an der Universität Leipzig bei Prof. Dr. Katrin Höffler und ist zugleich wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht von Prof. Dr. Uwe Murmann an der Georg-August-Universität Göttingen.

Zitiervorschlag

Disney+-Serie "Deutsches Haus": "Auschwitz war eine 24-Stunden-Hölle" . In: Legal Tribune Online, 18.11.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53205/ (abgerufen am: 27.04.2024 )

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