ECCHR reicht Strafanzeige bei der Bundesanwaltschaft ein: Sexua­li­sierte Kriegs­ge­walt vor deut­schen Gerichten

Gastbeitrag von Susann Aboueldahab

19.06.2020

Die Bundesanwaltschaft ist eine Vorreiterin bei der Verfolgung internationaler Verbrechen. Das gilt jedoch nicht für sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt. Diese Lücke in der Ermittlungsstrategie bedeutet einen Rückschritt, meint Susann Aboueldahab.

Im Juni 2018 erregte die Bundesanwaltschaft Aufsehen, indem sie beim Bundesgerichtshof (BGH) einen Haftbefehl gegen Jamil Hassan erwirkte. Sie wirft dem ehemaligen Leiter des syrischen Luftwaffengeheimdienstes vor, mitverantwortlich zu sein für die Folter und unmenschliche Behandlung von mehreren tausend Gefangenen in den Haftanstalten des Geheimdienstes in den Jahren 2011 bis 2013.

Was der Haftbefehl laut Angaben der Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) nicht enthält, ist der Vorwurf sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt. Mit einer Strafanzeige im Namen von sieben Überlebenden gegen Hassan will das ECCHR nun erreichen, dass das laufende Ermittlungsverfahren erweitert wird: um sexuelle Nötigung, Vergewaltigung sowie weitere Formen sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt und zwar als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gem. § 7 Abs. 1 Nr. 6 Völkerstrafgesetzbuch (VStGB). Auch der Haftbefehl soll angepasst werden.

Völkerstrafrechtsprozesse auf nationaler Ebene

Der 2018 international ausgeschriebene Haftbefehl aus Deutschland gegen Jamil Hassan war ein Paukenschlag. Zum ersten Mal seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2011 wird ein ehemals hochrangiger Mitarbeiter des Assad-Regimes per Fahndungsnotiz von Interpol gesucht. Deutschland setzt damit ein wichtiges Zeichen: Selbst höchste Vertreter eines Unrechtsregimes sind nicht vor Strafverfolgung sicher.

Die rechtliche Grundlage für diesen außergewöhnlichen Vorgang ist das in § 1 VStGB niedergelegte Weltrechtsprinzip. Es ermöglicht deutschen Gerichten völkerrechtliche Verbrechen auch dann zu verfolgen, "wenn die Tat im Ausland begangen wurde und keinen Bezug zum Inland aufweist".

Völkerstrafrechtsverfahren sind in Deutschland kein Novum. Derzeit führt die Bundesanwaltschaft in ihren beiden Völkerstrafrechtsreferaten zehn sog. Strukturermittlungsverfahren zu unterschiedlichen Konfliktsituationen und über achtzig personenbezogene Ermittlungsverfahren durch. Unterstützt wird sie dabei von der eigens für diese Zwecke eingerichteten Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen (ZBKV) beim Bundeskriminalamt.

Worum es in der Strafanzeige geht

Erfahrene Staatsanwälte und Ermittler gehen also gegen eine zentrale Figur des Assad-Regimes vor. Dennoch sieht das ECCHR mit seiner Anzeige Nachbesserungsbedarf.

Laut der Berliner Organisation ermittelt die Bundesanwaltschaft im Fall Hassan zwar sexualisierte Folter als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gem. § 7 Abs. 1 Nr. 5 VStGB. Andere Fälle sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt würden jedoch nicht verfolgt. Dabei gäbe es genug Erkenntnisse, die auf weitere Fälle hindeuteten – nicht zuletzt bisher unberücksichtigte Aussagen von Opferzeugen.

Mosaiksteine in der Aufarbeitung des syrischen Bürgerkriegs

Nun mögen sich manche fragen, ob eine solche vermeintliche Detailfrage ein derart großes Aufsehen verdient; obendrein zu einem Zeitpunkt, in dem sich der Gesuchte in Syrien aufhält und ein möglicher Prozess in denkbar weiter Ferne liegt. Es geht hier aber um mehr als Details.

Mit der Verabschiedung des VStGB wollte der Gesetzgeber die Straflosigkeit völkerrechtlicher Verbrechen bekämpfen. Dem ist die Bundesanwaltschaft verpflichtet. Überdies dienen Völkerstrafrechtsverfahren in den Worten der ZBKV dazu, "den in Deutschland lebenden Opfern eine rechtskonforme Aufarbeitung ihrer erlebten Verfolgung zu ermöglichen".

Die Bedeutung des Verfahrens gegen Hassan geht über eine eventuelle Bestrafung des Täters und Opferbeteiligung hinaus. Seit Jahren dokumentieren zahlreiche internationale wie syrische Organisationen den systematischen Einsatz sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt in den Haftanstalten der syrischen Geheimdienste. Zuletzt belegte die Commission of Inquiry for Syria (CoI) der Vereinten Nationen u.a. invasive Leibesvisitationen, erzwungenes Nacktsein, Elektroschocks im Genitalbereich, (Androhungen von) Vergewaltigungen und Genitalverstümmelung bei Frauen, Männern oder Kindern.

Sollte dem Haftbefehl gegen Jamil Hassan irgendwann ein Prozess folgen, wird gerichtlich festgestellt werden, was zu einer bestimmten Zeit in den Haftanstalten des Luftwaffengeheimdienstes geschehen ist. Solche Mosaiksteine in der Aufarbeitung des syrischen Bürgerkrieges entfalten einen Mehrwert, weit über das einzelne Verfahren hinaus. Einmal festgeschrieben sind sie in der Welt; sie anzuzweifeln oder umzudeuten wird schwierig.

Es ist deswegen nicht egal, welchen Ausschnitt des syrischen Bürgerkriegs ein deutsches Gericht vielleicht irgendwann dokumentiert und rechtlich aufarbeitet.

Versäumnisse bei der völkerstrafrechtlichen Aufarbeitung

Hinzu kommt, dass sich die Vernachlässigung sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt in eine Kette von Versäumnissen einreiht. Lange ignorierten internationale Gerichte diese spezifische Gewaltform. Erst in den 90er Jahren änderte sich dies mit der Rechtsprechung der beiden ad-hoc Tribunale für Ruanda und das ehemalige Jugoslawien. Sie analysierten, wie eng sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt mit den Begebenheiten der Konflikte verknüpft war und wie die Konfliktparteien sie teilweise strategisch einsetzten.

Doch trotz dieser und weiterer Fortschritte übersah auch der 1998 gegründete Internationale Strafgerichtshof (IStGH) das Phänomen über viele Jahre. Überlebende wurden nicht ausreichend befragt, den Mitarbeitern des Gerichts mangelte es an einer Sensibilisierung für das Thema. Schließlich unterblieben Anklagen, weil die Beweisführung als zu aufwändig oder nicht zielführend galt. Eine Korrektur dieser Ermittlungsfehler im weiteren Verfahrensverlauf scheiterte meist. Erst in den letzten Jahren vollzog die Anklagebehörde am IStGH eine Kehrtwende und rückte das Thema in den Mittelpunkt ihrer Arbeit, wie insbesondere ihre angepasste Ermittlungsstrategie zeigt.

Die internationale Völkerstrafrechtsgemeinschaft hat aus ihrer vielfach kritisierten "Gender-Blindheit" gelernt. Ihre Überwindung ist ein Schwerpunkt der internationalen Ermittlungsarbeit zu Syrien. Diesem Kontext können und dürfen sich Bundesanwaltschaft und ZBKV nicht entziehen.

Ein internationaler Rückschritt?

Ohne Akteneinsicht lässt sich nicht beurteilen, ob die aktuelle Beweislage im Fall Hassan eine Verfolgung nach § 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB erfordert oder überhaupt zulässt. Glaubt man den Angaben des ECCHR, deutet sich über diesen Fall hinaus aber eine Tendenz in der Ermittlungsarbeit der Bundesanwaltschaft beim Umgang mit sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt an.

Im März begann am Oberlandesgericht (OLG) Koblenz ein Prozess gegen zwei mutmaßliche Mitarbeiter des syrischen Allgemeinen Geheimdienstes, denen Mittäterschaft bzw. Beihilfe zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen wird. Im Gegensatz zum Haftbefehl gegen Hassan benennt die Anklageschrift in diesem Verfahren zwar neben Folter auch explizit Vergewaltigung und sexuelle Nötigung. Jedoch werden diese Tatvorwürfe nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit (gem. § 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB) verfolgt, sondern als Vergewaltigung und schwere sexuelle Nötigung gem. § 177 StGB a.F.

Wieder ist diese Einstufung kein belangloses Detail. Verbrechen gegen die Menschlichkeit setzen voraus, dass einzelne Tathandlungen (etwa die Vergewaltigung in Haftanstalten) im Zusammenhang mit einem systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung (hier i.R. der Unterdrückungspolitik der syrischen Regierung) begangen wurden. Dadurch, dass die Bundesanwaltschaft sexualisierte und geschlechtsbezogene Gewalt nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einstuft, droht also wieder ihr fallübergreifender Charakter unter den Tisch zu fallen.

Es scheint so, als würde die Ermittlungsstrategie der Bundesanwaltschaft bei der Aufarbeitung von Verbrechen in syrischen Haftanstalten zwei Prämissen folgen. Erstens: Sexualisierte Folter wurde im Zusammenhang mit einem systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung begangen. Zweitens: Andere Formen sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt stellen isolierte, vom Angriff losgelöste Taten dar. Das widerspräche derzeitigen Erkenntnissen und würde international einen Rückschritt bedeuten.

Die Welt schaut auf Deutschland

Überlebende sowie Angehörige der noch immer Vermissten hoffen auf die deutsche Justiz. Ein Prozess gegen Jamil Hassan könnte zum Vorbild für weitere Verfahren in Deutschland aber auch über die nationalen Grenzen hinaus werden. Das außerordentliche Engagement der deutschen Justiz würde jedoch geschmälert, sollte die Bundesanwaltschaft die Fehler internationaler Gerichte im Umgang mit sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt wiederholen.

Gerade am heutigen Internationalen Tag für die Beseitigung sexualisierter Gewalt in Konflikten bleibt zu hoffen, dass sich die Ermittlungsstrategie der Bundesanwaltschaft entgegen der sich bisher abzeichnenden Tendenz sowie früherer Versäumnisse als sensibel für einen differenzierten Umgang mit dieser spezifischen Gewaltform herausstellt.

Susann Aboueldahab ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung für ausländisches und internationales Strafrecht der Georg-August-Universität Göttingen sowie bei der ebenfalls dort angesiedelten Forschungsstelle für Lateinamerikanisches Straf- und Strafprozessrecht (CEDPAL). Sie forscht zu sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt im Völkerstrafrecht.

Anmerkung: Von 2016 bis 2017 arbeitete die Autorin beim ECCHR. An der Erarbeitung der am 17. Juni 2020 bei der Bundesanwaltschaft eingereichten Strafanzeige war sie in keiner Weise beteiligt.

Zitiervorschlag

ECCHR reicht Strafanzeige bei der Bundesanwaltschaft ein: Sexualisierte Kriegsgewalt vor deutschen Gerichten . In: Legal Tribune Online, 19.06.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/41945/ (abgerufen am: 23.04.2024 )

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