Justizreform in Ungarn: Orbáns ferngesteuerte Richter

von Dr. Oliver Daum

26.03.2012

Die ungarische Regierung um Ministerpräsident Viktor Orbán steht erneut am europäischen Pranger. Der Europarat meldet massive Bedenken an der Justizreform an und sieht Mindeststandards der EMRK verletzt. Wie Ungarns eigenwilliges Verständnis der Gewaltenteilung das Gerichtswesen aus der Fassung bringt und die Unabhängigkeit der Justiz gefährdet, erläutert Oliver Daum.

Seit Mai 2010 hat der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán mehrere Reformpakete geschnürt. Sein jüngstes Gesetz betrifft den sensiblen Bereich der Unabhängigkeit der Gerichte. Kritiker sind besorgt über den zunehmenden Einfluss der Politik auf die Justiz des Landes, die sich vor allem in der Person des Präsidenten des Nationalen Richteramtes (NRA) manifestiert. Nicht zuletzt deshalb wurde die Venedig Kommission des Europarates alarmiert, die den Plänen Orbáns ein verheerendes Urteil ausstellte.

Dieses Gremium, das eigentlich Europäische Kommission für Demokratie durch Recht heißt, unterzieht die Verfassungen der 58 Mitgliedstaaten einem juristischen Stresstest und vergibt ein Prüfsiegel, wenn sie mit Europäischen Recht vereinbar sind. Wie der kürzlich veröffentlichte Bericht der Kommission offenbart, hat die ungarische Justizreform den Test nicht bestanden. Und das Wort des Ausschusses hat Gewicht, er ist weltweit anerkannt. Nicht nur europäische Staaten, sondern auch Länder wie Brasilien, Algerien und Südkorea folgen seinem Appell.

Der wichtigste Prüfungsmaßstab für die Kommission ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Deren Art. 6 soll ein faires Verfahren sicherstellen, das heißt derjenige, der ein Recht hat, soll es auch bekommen. Ein Richter darf sich bei seiner Urteilsentscheidung nur nach dem Gesetz und nicht nach seinem persönlichen Dafürhalten richten. Im Idealfall kämen also alle Richter in einem Rechtsstaat in ein und demselben Fall zum gleichen Ergebnis.

Die Reform gefährdet die Unabhängigkeit der Gerichte

Genau diesen Grundsatz sieht die Venedig Kommission durch die ungarische Justizreform verletzt. Das in der ungarischen Rechtsordnung verankerte Recht auf ein faires Verfahren entspräche nicht dem Mindeststandard des Art. 6 EMRK, an dem die Gesetzesänderungen gemessen werden. Die Unabhängigkeit des gesamten Gerichtswesens und besonders die Unabhängigkeit der einzelnen Richter seien gefährdet, so das Urteil des Ausschusses.

Die Gesetze lesen sich zudem teilweise wie ein verirrter Witz. So wird dem Präsidenten des Obersten Gerichts per Gesetz zugesichert, dass er die Flughafenlounge benutzen darf. Und seiner Ehefrau wird ein Zutrittsrecht zur Ferienanlage der Regierung eingeräumt. Diese Privilegien scheinen harmlos, fast unterhaltsam, ganz im Gegensatz zu den anderen gesetzlichen Änderungen.

Durch die Justizreform wurde etwa auch das Amt des Präsidenten des NRA geschaffen. Er bündelt in ungewöhnlicher Weise so viel Macht in einer Person, wie sie vorher nur ein ganzes Gremium zusammen ausüben konnte. Er kommt einem Über-Richter gleich, der fast keiner juristischen Kontrolle unterliegt. Das zu seiner Überwachung eingerichtete Organ ist dermaßen machtlos, dass die Venedig Kommission es als „kaum effektiv“ einstuft.

Ein Über-Richter steuert die Justiz

Der Präsident des NRA hat zum Beispiel bei der Besetzung eines Richterpostens ein Veto-Recht und kann so missliebige Richter verhindern. Außerdem kann er laufende Verfahren an andere Gerichte verweisen und sie so einem gleichgesinnten Richter zuspielen. Wann der Präsident seine Befugnisse nutzen kann und soll, beschreibt das neue Gesetz nur unzureichend. Die Venedig Kommission kommt daher zu dem Schluss, dass der Präsident geradezu "willkürlich" handeln kann.

Es wird zwar betont, dass der Präsident des NRA keinen Einfluss auf den Ausgang eines Verfahrens nehmen kann. Doch ein Überblick über seinen Machtumfang lässt etwas anderes befürchten.

So wäre es denkbar, dass der Präsident einen unliebsamen Strafrichter absetzt, wenn dieser als zu milde gilt. Zudem könnte er auch direkt auf einen Richter einwirken, indem er ihn mit einem Disziplinarverfahren überzieht oder seine dienstliche Beurteilung beeinflusst und so Karrierechancen verbaut. Die richterliche Unabhängigkeit könnte auch dadurch gefährdet sein, dass der Präsident des NRA durch die örtlichen Gerichtspräsidenten, die vom Präsidenten eingesetzt werden, auf einen Richter einwirkt. Richter im ganzen Land könnten so aus Budapest ferngesteuert werden.

Empfindliche Angriffe auf die Gewaltenteilung

Die Kommission stellt allerdings fest, dass diese weitreichenden Kompetenzen auch in anderen Ländern durchaus üblich sind. Es sind die Konzentration in einer Person und die scheinbar willkürliche Anwendung der Befugnisse, die das neue System Ungarns so "einzigartig in Europa" machen.

Der Bericht des Europarates ist aber nicht so zu verstehen, dass es in Ungarns Rechtsprechung keine gerechten Verfahren mehr geben wird. Der Präsident hat lediglich die Möglichkeit, die Verfahren in erheblicher Weise zu beeinflussen. Die Rüge der Kommission jedoch zeigt, mit welcher Empfindsamkeit sie die wehrlose Rechtsprechung vor Eingriffen der Politik schützt. Und die Rechtsprechung muss geschützt werden, um das Recht auf ein sicheres Verfahren in einem zusammenwachsenden Europa sicherzustellen.

Übrigens: Der Präsident des NRA ist eine Frau und heißt Tünde Handó. Sie ist mit einem Gründungsmitglied der regierenden national-konservativen Fidesz-Partei von Viktor Orbán verheiratet. Zudem gilt sie als gute Freundin von dessen Ehefrau. Unabhängigkeit sieht anders aus!

Oliver Daum ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insbesondere Völker- und Europarecht der Universität Trier (Prof. Dr. Alexander Proelß).

Zitiervorschlag

Oliver Daum, Justizreform in Ungarn: Orbáns ferngesteuerte Richter . In: Legal Tribune Online, 26.03.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/5867/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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