BVerfG verhandelte zur Gefangenenvergütung: Min­dest­lohn im Gefängnis unwahr­schein­lich

von Hasso Suliak

29.04.2022

Entspricht der aktuelle Arbeitslohn für Strafgefangene noch dem Resozialisierungsgebot der Verfassung? Zwei Tage hat das BVerfG hierzu verhandelt. Radikale Änderungen des bisherigen Systems sind nicht zu erwarten.

Ausgerechnet am Tag, an dem der Deutsche Bundestag eine Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro beschloss, beendete das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) seine Erörterungen zu der Frage, ob der Stundenlohn für Strafgefangene noch dem Resozialisierungsgrundsatz aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG genügt. Aktuell beträgt er je nach Leistung und Qualifikation gerade einmal zwischen 1,37 und 2,30 Euro. Ist diese Vergütung in Ergänzung mit den in fast allen Ländern für kontinuierliches Arbeiten gewährten sechs bis acht Freistellungstagen pro Jahr, die am Ende die Haftdauer verkürzen können, verfassungskonform? Oder sollte sich auch der Gefangenenlohn z.B. am gesetzlichen Mindestlohn orientieren?

Der Verhandlung lagen zwei Verfassungsbeschwerden von Strafgefangenen aus Bayern und Nordrhein-Westfalen (NRW) zugrunde – beide zu mehreren Jahren Haft verurteilt. Ob sie – und weitere rund 60 Prozent der 45.000 Strafgefangenen, die derzeit in deutschen Justizvollzugsanstalten (JVA) arbeiten – demnächst mit einem höheren Lohn rechnen können, ist offen.

In die Karten schauen ließen sich die Richter:innen des Zweiten Senates am Mittwoch und Donnerstag nicht. Aber allein, dass sich das Gericht für das komplexe Thema zwei volle Tage nahm, um mit Anstaltsleiter:innen, Kriminolog:innen und Gefangenorganisationen die komplexe Thematik gründlich zu erörtern, wird als Indiz gewertet, dass Karlsruhe die derzeitige Praxis und Resozialisierungskonzepte der Länder nicht unbeanstandet lässt.

Zumal: In Zugzwang dürfte den Zweiten Senat unter Vorsitz von Vizepräsidentin Prof. Dr. Doris König die eigene Rechtsprechung bringen. 20 Jahre ist es schon her, dass das BVerfG die bis heute grundsätzlich unveränderte Rechtslage gerade noch als verfassungsrechtlich vertretbar angesehen hatte. Seit 2001 beträgt die Berechnungsgrundlage für das "Gehalt" der Gefangenen neun Prozent des durchschnittlichen Arbeitsentgeltes aller gesetzlich Rentenversicherten (§ 18 Abs. 2 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch).

In einem Beschluss vom 23. April 2002 hatte das Gericht Maßstäbe für die Höhe der Vergütung aufgestellt. Diese sei erst dann nicht grundrechtskonform, wenn sie zusammen mit den anderen für die Gefangenenarbeit gewährten Vorteilen offensichtlich nicht geeignet sei, den Gefangenen im gebotenen Mindestmaß von der Sinnhaftigkeit der Erwerbstätigkeit zur Herstellung einer Lebensgrundlage zu überzeugen. Allerdings, so das BVerfG, bleibe der Gesetzgeber aufgefordert, die Bezugsgröße nicht festzuschreiben, sondern einer steten Prüfung zu unterziehen (2 BvR 2175/01).

"Strafvollzug ist nicht sexy"

Insbesondere die vom BVerfG eingeforderte Evaluierung hat es in all den Jahren offensichtlich nicht gegeben. In der Verhandlung äußerten die Richter:innen daher immer wieder ihren Unmut darüber, dass es die Politik bislang nicht geschafft habe, valide Studien in Auftrag zu geben, um z.B. herauszufinden, ob und wie die Arbeit in Haft zur Resozialisierung beiträgt. Es herrsche hier "ein riesiges Wissenschaftsdefizit", beklagte nicht nur Verfassungsrichter Peter Müller. Allerdings scheint auch die Bereitschaft der Kriminologen, von sich aus derartige Forschung zu betreiben, begrenzt. "Strafvollzug ist nicht sexy", erläuterte der Göttinger Kriminologe Prof. Dr. Jörg-Martin Jehle dem Gericht die Zurückhaltung der eigenen Zunft.  

Zu der wesentlichen Frage, ob die aktuelle Vergütung die Gefangenen "im gebotenen Mindestmaß" überzeuge, dass Erwerbstätigkeit zur Herstellung einer Lebensgrundlage sinnvoll sei, verlief die Diskussion anhand der bekannten Argumente der sich gegenüberstehenden Lager: Diejenigen (vor allem Ländervertreter), die mehr oder weniger auf dem Status Quo beharren, betonten, dass nach ihrer Erfahrung für die Gefangenen der Lohn gar nicht so wichtig sei, vielmehr sei das Arbeiten an sich schon ein Mehrwert (Raus aus der Zelle, Kontakt mit Mitgefangenen etc.). Dagegen lautet die Einschätzung derjenigen, die die Interessen der Gefangenen vertraten: "Ja, arbeiten gehen sie gerne, aber die Höhe des Lohnes wird als Demütigung empfunden."

"Es bleibt nur die Privatinsolvenz"

Die Prozessvertreter:innen des in Bayern einsitzenden Beschwerdeführers verlasen eine Erklärung ihres Mandanten, in dem dieser auf die Folgen der niedrigen Vergütung hinwies: 34.000 Euro Gerichtskosten könnten nicht beglichen werden, auch eine Opfer-Wiedergutmachung sei davon nicht leistbar. Opfer von Straftaten würde also ebenso unter der geringen Vergütung der Täter leiden. Dem zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilten Beschwerdeführer selbst war die Teilnahme an der Verhandlung in Karlsruhe untersagt worden, auch ein entsprechender Eilantrag blieb erfolglos.

 "Die Betroffenen selbst wollte hier keiner hören", kritisierte Manuel Matzke von der Gefangenengewerkschaft GG/BO gegenüber LTO.  Matzke, der selbst einmal inhaftiert war, bezeichnete das Angebot von Arbeit im Strafvollzug in der Verhandlung als "wichtiges Element der Resozialisierung". Gefangene gingen arbeiten, weil sie die Zelle verlassen, einkaufen wollten, aber auch um Schulden abbauen zu können. Mit der aktuellen Vergütung sei insbesondere letzteres jedoch unmöglich. "Nach der Haft bleibt für viele nur der Weg in die Privatinsolvenz."

Der Vertreter des Beschwerdeführers aus NRW, Rechtsanwalt Dr. Ingo-Jens Tegebauer, verwies ergänzend darauf, dass auch nicht-monetäre Elemente wie zusätzliche Urlaubstage den unangemessen niedrigen Arbeitslohn nicht aufwiegen würde: Urlaub in der JVA habe nun einmal nicht denselben Wert wie Urlaub in Freiheit.

Rund 170 Euro Haftkosten am Tag

Demgegenüber warnten vor allem die Vertreter Bayerns und NRWs vor einer weiteren Erhöhung der monetären Vergütung – vor allem aus Kostengründen.

Caroline Ströttchen aus dem NRW-Justizministerium nannte einen Betrag in Höhe von knapp 170 Euro, die ein Haftplatz pro Tag koste. An den Haftkosten indes müssten sich die Gefangenen nicht beteiligen, bekämen vielmehr "alles zur Verfügung gestellt". Leitmotiv der Arbeit im Gefängnis sei allein die spätere Wiedereingliederung, bei der auch die Höhe der Entlohnung nur von untergeordneter Bedeutung sei.  

Bayerns Vertreter verwies vor allem darauf, dass eine Angleichung der Löhne an die außerhalb der Gefängnismauern, wie z.B. an den gesetzlichen Mindestlohn, schon deshalb nicht gerechtfertigt sei, weil die Produktivität von arbeitenden Gefangenen mit denen von Arbeitnehmer:innen "draußen" nicht vergleichbar sei. Auch andere Sachverständige bestätigten, dass die Qualität der Arbeit hinter Gittern in jüngster Zeit immer weiter abgenommen habe. "Die Produktivität ist gesunken, die Gefangenenarbeit ist alles andere als wirtschaftlich", so der Vertreter des bayerischen Justizministeriums, Dr. Marc Meyer. Zu tun habe das bei vielen Gefangenen mit einer Suchtproblematik und/oder mangelnder schulischer bzw. beruflicher Qualifikation. In Bayern stünden Ausgaben in Höhe von rund 500 Millionen Euro nur 35 Millionen Einnahmen aus der Gefangenenarbeit gegenüber. Laut dem Beamten sind auch die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung, die das Land für die Gefangenen leiste, in den letzten Jahren gestiegen. Angesichts finanzieller Belastungen, die u.a. infolge des Ukraine-Krieges drohten, sei jedenfalls für eine Erhöhung des Gefangenenlohnes im Landeshaushalt kein Spielraum.  

Ganz im Sinne "seines" Ministeriums sprach sich auch der Leiter der JVA Bernau für eine kostenschonende Lösung aus: Statt den Stundenlohn zu erhöhen, sollte eher über eine Verdoppelung der Freistellungstage nachgedacht werden, mit der sich die Haft verkürzen ließe.

Bruttoprinzip angemessener?

Ob diese Forderung indes überhaupt noch in die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder für den Strafvollzug fällt, erschien den Richter:innen des Zweiten Senates zumindest diskutabel. Geht es da nicht vielleicht um den Bereich Strafvollstreckung, für den der Bund zuständig ist? Verfassungsrichterin Dr. Sibylle Kessel-Wulff zeigte sich jedenfalls einigermaßen irritiert, wenn Arbeit zur Verkürzung der Haftzeit beitragen soll. "Das Abarbeiten von Freiheitsstrafen sieht das Sanktionensystem nicht vor." Das wäre ein Systembruch, so die Richterin.

Als Systembruch würde man es wohl auch bezeichnen, wenn der Gesetzgeber, wie in der Verhandlung angeregt, sich bei der Entlohnung hinter Gittern vom bisherigen Nettoprinzip verabschiedet. Arbeitende Gefangene erhalten aktuell eine monatliche Vergütung zwischen 200 und 300 Euro. Unter anderem ein Teil davon fließt in das sogenannte Überbrückungsgeld, mit dem erste Ausgaben nach der Entlassung bestritten werden können.

Mehrere Sachverständige regten nunmehr an, wie bei den Beschäftigten außerhalb des Gefängnisses (oder auch Freigängern, die "draußen" einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nachgehen), die Entlohnung auf das Bruttoprinzip umzustellen. Als Bezugsgröße könne dabei der gesetzliche Mindestlohn zugrunde gelegt werden, so der Vorschlag. Von dem insoweit erhöhten Lohn würden dann Haftkosten abgezogen, Schulden beglichen und ggf. sogar in die Sozialversicherung eingezahlt – z.B. in die gesetzliche Rentenversicherung.  Auch, wenn der Gefangene am Ende nicht mehr in der Tasche hat als jetzt: Er würde damit besser auf ein späteres Erwerbsleben vorbereitet, beteilige sich an den Kosten und betreibe Schuldenabbau.

Mehr Transparenz bei der Gehaltsabrechnung

Indes: Dass das Gericht am Ende den Ländern diesen radikalen Systemwechsel ins Stammbuch schreiben wird, ist kaum zu erwarten. Möglich erscheint aber, dass das BVerfG mehr Transparenz anmahnt und den Gefangenen künftig besser erklärt werden könnte, warum sie so wenig verdienen.  Aktuell sind den Gehaltszetteln Erläuterungen, welche Kosten z.B. die Anstalt monatlich für sie aufbringt, nicht zu entnehmen.

Bei einer Erhöhung des Stundenlohns oder gar einer Umstellung auf das Bruttoprinzip wird das Gericht ohnehin auch abwägen müssen, inwieweit dies möglicherweise zu einer Verringerung von Arbeitsangeboten in den Haftanstalten führen könnte, weil sich für Unternehmen und externe Auftraggeber die Produktion dort dann nicht mehr lohnt. Schon jetzt verfügen viele Haftanstalten nicht über ausreichende Arbeitsangebote für arbeitswillige Gefangene. Arbeit als Mittel zur Resozialisierung scheidet für diese Gefangenen aus.

Wie auch immer das BVerfG in einigen Monaten entscheiden wird: Eine Art rechtspolitisches "Wünsch-Dir-was" schmeckte vor allem den Verfassungsrichtern Prof. Dr. Huber und Peter Müller in der mündlichen Verhandlung so gar nicht: Eine Orientierung am gesetzlichen Mindestlohn würde zu einer "deutlichen Subventionierung" der Gefangenen führen, gab Huber zu bedenken. Und der ehemalige saarländische CDU-Ministerpräsident Müller stellte klar: "Dass man etwas besser machen kann, heißt nicht, dass es auch von der Verfassung geboten ist."

Enttäuschungen dürften also vorprogrammiert sein.

Zitiervorschlag

BVerfG verhandelte zur Gefangenenvergütung: Mindestlohn im Gefängnis unwahrscheinlich . In: Legal Tribune Online, 29.04.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48293/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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