BVerfG verhandelt BGH-Vorlage: Zwangs­be­hand­lung auch zuhause?

16.07.2024

Patienten zwangsweise zu behandeln, darf nur das letzte Mittel sein. Das muss bisher immer in einem Krankenhaus geschehen. Das BVerfG verhandelte nun zur Verfassungsmäßigkeit der einschlägigen BGB-Vorschrift. Und nimmt Alternativen in den Blick.

Spritzen setzen, Blut abnehmen, Medikamente verabreichen - und all das gegen den Willen der Betroffenen. Das ist manchmal nötig - und als Ultima Ratio auch rechtlich erlaubt. Dabei geht es um Menschen, die etwa aufgrund einer psychischen Krankheit, einer geistigen oder seelischen Behinderung die Notwendigkeit einer Behandlung nicht erkennen und danach handeln können; beispielsweise bei Fällen von Demenz.

Gemäß § 1832 Abs. 1 Nr. 7 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)* dürfen ärztliche Zwangsmaßnahmen nur in Krankenhäusern durchgeführt werden, nicht aber in spezialisierten ambulanten Zentren, in Pflegeheimen oder im häuslichen Umfeld. Das gilt selbst dann, wenn Betroffene durch den Transport ins Krankenhaus gesundheitlich beeinträchtigt werden. 

BGH bezweifelt Vereinbarkeit mit Grundgesetz

Im konkreten Fall erlitt eine Frau aus Nordrhein-Westfalen, die laut dem Bundesgerichtshof (BGH) unter anderem an paranoider Schizophrenie erkrankt ist, Retraumatisierungen. Sie habe für manche Transporte in die Klinik fixiert werden müssen. Ihr Betreuer beantragte, der Patientin ein Medikament auf der Station des Wohnverbundes zu verabreichen, in dem sie lebte. 

Die Instanzgerichten lehnten dies bisher ab, sodass der Fall beim BGH landete. Dieser hält die Rechtslage für unvereinbar mit der aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 Grundgesetz (GG) folgenden Schutzpflicht des Staates vor Beeinträchtigungen der körperlichen Unversehrtheit und der Gesundheit. Das prüft nun das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) in Karlsruhe (Az. 1 BvL 1/24).

Der Vorsitzende des Ersten Senats, der Präsident des BVerfG Stephan Harbarth, sagte zu Beginn der Verhandlung, das Thema betreffe einen der "grundrechtssensibelsten Bereiche des Erwachsenenschutzes". Einerseits müsse ein angemessener Schutz der Betreuten sichergestellt sein, andererseits dürfe aber nicht unverhältnismäßig in ihre Freiheitsrechte eingegriffen werden. "In diesem Spannungsfeld bewegt sich auch die gesetzgeberische Entscheidung, an welchem Ort - oder an welchen Orten - ärztliche Zwangsmaßnahmen durchgeführt werden können". Ein Urteil des Ersten Senats wird erst in einigen Monaten erwartet.

Gravierende gesundheitliche Folgen möglich

Thomas Pollmächer von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) machte deutlich, dass ein Transport ins Krankenhaus eine erhebliche Belastung für die Betroffenen bedeuten könne. Allein die Fahrt dauere manchmal 20 bis 30 Minuten, die der Patient in der Regel bewusst mitbekomme. 

Bei Fixierungen könnten Menschen verletzt werden. Und solceh Verletzungen könnten bei einem Transport schwerer ausfallen, als bei einer kurzfristigen Fixierung etwa zur Medikamentengabe zuhause. Im Einzelfall könnten die Einsätze gravierende körperliche oder psychische Folgen haben, sagte er. Lebe jemand beispielsweise in der Vorstellung, gefoltert zu werden, könne der Eindruck verstärkt werden. 

Wenige Stimmen für Ausnahmen

Die Bundesregierung will die bestehende Regelung beibehalten, machte Ministerialdirektorin Ruth Schröder aus dem Bundesjustizministerium (BMJ) deutlich. Es sei nicht möglich, Ausnahmen im Gesetz allgemein zu regeln, ohne dass Tür und Tor für Zwangsmaßnahmen geöffnet würden. Ein kleines Loch in der Schutzmauer könnte einen Dammbruch auslösen. Gerade in das private Umfeld der Menschen sollten Zwangsmaßnahmen aber nicht eingreifen. Auch könnten in Krankenhäusern multiprofessionelle Teams ihre Expertise einbringen.

Diese Position unterstützen auch Fachleute etwa des Deutschen Richterbundes (DRB) sowie der Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen (BAG Selbsthilfe). Hingegen sprach sich Kay Lütgens vom Bundesverband der Berufsbetreuer*innen (BdB) für Ausnahmen für Einzelfälle aus.

Unter anderem Ulrich Langenberg von der Bundesärztekammer (BÄK) machte deutlich, wie individuell unterschiedlich sich Behandlungsorte und -maßnahmen auf Betroffene auswirken können. Belaste es den einen, wenn in den eigenen vier Wänden Zwang gegen ihn ausgeübt wird, werde ein anderer traumatisiert, wenn aus dem vertrauten Umfeld gerissen wird. Auch griffen stationäre und ambulante Versorgung ineinander, sagte Langenberg. Es sei nicht so, dass eine gute Versorgung nur in Kliniken möglich sei. Der Bevollmächtigte der Bundesregierung, Prof. Volker Lipp (Uni Göttingen), machte in der Diskussion um Alternativen am Beispiel von Vorsorgevollmachten deutlich, dass Menschen in der Regel bestimmte Behandlungen ausschließen würden und nicht bestimmte Behandlungsorte wie Krankenhäuser. 

Defizitäre Datenlage

Grundsätzlich gilt, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen gegen den Willen Betroffener nur das letzte Mittel sein dürfen. Davor gibt es ein mehrstufiges Prüfverfahren. Der Gesetzgeber kam so einer Entscheidung des BVerfG aus dem Jahr 2016 nach. Damals hatte das Gericht entschieden, dass der Staat nicht einwilligungsfähige Betreute nicht sich selbst überlassen darf.

Deutlich wurde in der Verhandlung am Dienstag, dass Daten etwa zu Auffälligkeiten bei Zwangsbehandlungen fehlen und selbst Fachbetreuer häufig für die spezielle Problematik nicht geschult sind. 

Eine Entscheidung des BVerfG wird erst in einigen Monaten erwartet.

dpa/jb/LTO-Redaktion

* Korrigiert am 22.07.2024, 11:10 (Red.). Vorher war hier auf § 1906a BGB verwiesen worden, der aber zum 1. Januar 2023 von § 1832 BGB abgelöst wurde.

Zitiervorschlag

BVerfG verhandelt BGH-Vorlage: . In: Legal Tribune Online, 16.07.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/55009 (abgerufen am: 12.12.2024 )

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