Europarechtler nach dem Brexit-Referendum: "Und alle fragten sich 'Oh my god, what have we done?'"

von Pia Lorenz

30.06.2016

2/2: "Es kann kein Cherry Picking für die Briten geben"

LTO: Dabei waren weniger EU-Ausländer und weniger Immigration vorherrschende Themen bei der Brexit-Kampagne. Für wie wahrscheinlich halten Sie es, dass die EU den Briten einerseits den Zutritt zum gemeinsamen Markt gewähren, andererseits aber Einschränkungen des freien Personenverkehrs dulden würde?

Türk: Für nicht sehr realistisch. Es wird, wie auch schon Angela Merkel sagte, kein cherry picking für die Briten geben. Das schon deshalb, weil die EU schließlich mit vielen Drittstaaten verhandelt und bislang, wie zum Beispiel gegenüber der Schweiz oder Norwegen, eine klare Linie vertreten hat, bei der sie bleiben muss: Drittstaaten, die dem Wirtschaftsraum beitreten wollen, müssen die Freiheit des Personenverkehrs anerkennen. Und sie müssen auch zahlen und die Regeln des EWR einhalten, zum Beispiel im Finanzverkehr – und das wollen die Briten ja auch nicht. Das betrifft aber nicht nur den Finanzverkehr, sondern auch Bereiche wie Forschungsgelder, ausländische Studenten, Beiträge zum Umweltschutz oder EU-Regeln zu Arbeiterrechten.

Die Frage der Immigration ist völlig unklar. In der Leave-Kampagne wurden hauptsächlich EU-Ausländer zum Thema gemacht. Aber es wurde keine echte Abgrenzung zum Beispiel zu Flüchtlingen vorgenommen. Dabei ist das ein Problem, das die Briten seit Jahren nicht in den Griff bekommen: 330.000 Menschen sind letztes Jahr netto zugewandert, 150.000 davon waren nicht aus der EU. Die Regierung hat es nicht geschafft, das zu reduzieren, dazu wären auch drastische Methoden nötig. Selbst wenn man, wie Johnson zuletzt sagte, "Kontrolle über Immigration ausüben" will, weiß niemand, wie das, derzeit funktionieren soll – zumal mit Blick auf die Flüchtlingskrise.

"Ein Referendum in Schottland wäre gut möglich"

LTO: Die schottische Staatschefin hat unmittelbar nach dem Referendum angekündigt, ein eigenes in Schottland halten zu wollen, um in der EU bleiben zu können. Um dieses Vorhaben ist es in den vergangenen Tagen allerdings etwas ruhiger geworden. Wäre eine solche Abstimmung möglich, nachdem sich vor erst 18 Monaten die Schotten per Referendum gegen eine Abspaltung von den Briten ausgesprochen haben?

Türk: Möglich wäre das. Man hat sich nach dem letzten Referendum, bei dem sich keine Mehrheit für eine Abspaltung von Großbritannien fand, darauf geeinigt, eine erneute Abstimmung durchzuführen, wenn drastische Veränderungen eintreten. Der Ausstieg des Königsreichs wäre sicherlich eine solche Änderung. Für die Scottish National Party, der Nicola Sturgeon vorsteht, wäre das ein guter Vorwand für ein zweites Referendum.

Voraussetzung wäre also, dass das Königreich aus der EU austritt. Dann könnte Schottland sich abspalten und der EU beitreten. Für Letzteres bräuchte es vielleicht gar nicht unbedingt nochmals ein Referendum, da die Mehrheit der Schotten in der vergangenen Woche klar gegen den Brexit gestimmt hat. Aber für den Austritt aus Großbritannien schon, denn dafür ist eine Mehrheit keineswegs sicher. Aus dem Grund hat Sturgeon das Thema zuletzt wohl nicht mehr so forciert: Sie kann sich derzeit nicht sicher sein, ob sie das Referendum gewinnen würde. Außerdem gibt es nicht nur politische, sondern auch wirtschaftliche Fragen: Der Öl- und Gaspreis sind gefallen, man wird wohl rechnen, ob Schottland sich das leisten kann.

"Großbritannien wird intellektuell und kulturell ärmer werden"

LTO: Welche wären für Sie die vermutlich gravierendsten Folgen eines Brexit?

Türk: Es gibt natürlich die ganz konkreten Fragen, die alle beschäftigen: Was passiert mit dem Warenverkehr, den Finanzdienstleistungen, ausländischen Studenten? Wie wird man künftig in London arbeiten, zu welchen Preisen wohnen können?

Aber die Konsequenzen gehen darüber hinaus: Eine der Grundannahmen von Europa ist im Vereinigten Königreich zerbrochen: zusammen zu arbeiten und gemeinsame Lösungen zu finden. Davon hat sich Großbritannien mit dem Referendum verabschiedet.

Ab jetzt gibt es nur noch ein sehr enges Verständnis von Nationalinteresse. Die Briten sind nur noch interessiert an der eigenen, nicht mehr an der besten Lösung. Wenn man keine gemeinsame Lösungsfindung mehr will, wird man ärmer, weil die gefundenen Lösungen nicht mit anderen diskutiert wurden. Die Verhandlungen werden eher ein Feilschen sein als der Versuch, gemeinsam eine Lösung zu finden.

Mittelfristig wird Großbritannien auch intellektuell und kulturell ärmer werden. Ein auf sich allein gestelltes Königreich wird nicht mehr die Anziehungskraft auf Intellektuelle und Akademiker haben, die es hatte, als es noch Teil der EU war.

"Ich mag die Engländer einfach zu gern"

LTO: Sehen Sie auch für sich persönlich Konsequenzen? Denken Sie als Deutscher womöglich sogar darüber nach, das Königreich zu verlassen?

Türk: Als Professor für Europarecht frage ich mich natürlich, wie es mit dem Fach in diesem Land weiter geht – und was das vielleicht für mich bedeutet. Derzeit ist Europarecht ein Pflichtfach im englischen Jurastudium. Das wird in zwei Jahren wohl nicht mehr der Fall sein, sondern es wird, wenn die zuständige Behörde es nicht mehr abprüft, nur noch ein Angebot an Studenten darstellen. Das wirft natürlich Fragen für die eigene Laufbahn auf: Was kann man anbieten, worauf sich spezialisieren?
Aber ich möchte in Großbritannien bleiben. Ich denke nicht, dass die Dinge sich allzu sehr verändern werden in den nächsten Jahren. Es wird nicht das totale Chaos ausbrechen und Großbritannien im Atlantik versinken.

Ich gehe sogar davon aus, dass der Brexit einen Beitrag zur sehr ausgeprägten Debattenkultur in England leisten wird: Wenn die Debatte wieder mehr an Gehalt und Substanz gewinnt, kann sich herausstellen, dass die EU gar nicht so schlecht war. In aller Ruhe wird man in einigen Jahren analysieren und diskutieren, was die Vor- und Nachteile waren – und dann, auf Grundlage einer rationalen, gut informierten Entscheidung vermutlich beschließen, dass die Briten wieder mitmachen wollen im Club. Und auch wenn das Land bis dahin in finanzieller, intellektueller und kultureller Hinsicht verarmen wird: Ich mag die Engländer einfach zu gern.

LTO: Herr Professor Türk, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Professor Alexander Türk lehrt Europarecht am King’s College in London. Der gebürtige Augsburger lebt und lehrt seit 20 Jahren in Großbritannien. 

Das Gespräch führte Pia Lorenz.

Zitiervorschlag

Pia Lorenz, Europarechtler nach dem Brexit-Referendum: "Und alle fragten sich 'Oh my god, what have we done?'" . In: Legal Tribune Online, 30.06.2016 , https://www.lto.de/persistent/a_id/19844/ (abgerufen am: 27.04.2024 )

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