Juristische Lehre vom Loch: Am bestän­digsten ist der Rand

von Martin Rath

19.06.2022

Mit Lücken beschäftigt sich die Jurisprudenz bekanntlich fast so leidenschaftlich wie die Musikwissenschaft mit der Fuge. Ein neues Büchlein zeigt aber, wie groß der juristische Forschungsbedarf zu etwas anderem ist: zum Phänomen "Loch". 

In einer wunderbaren kleinen Geschichte erzählt Kurt Tucholsky (1890–1935) den Lesern der "Vossischen Zeitung" 1929 davon, wie die hartnäckige Kinderfrage nach dem Ursprung der Löcher im Käse eine gemütliche Abendgesellschaft in vielfältige juristische Streitfälle zerspringen lässt – jedoch ohne eine zufriedenstellende Antwort gefunden zu haben, denn Tucholsky schließt: 

"Auf dem Schauplatz bleiben zurück ein trauriger Emmentaler und ein kleiner Junge, der die dicken Arme zum Himmel hebt und, den Kosmos anklagend, weithinhallend ruft: 'Mama! Wo kommen die Löcher im Käse her –?'" 

Mit seinem kleinen Werk "Das Loch. Beobachtungen zum Schwinden des Seins" erinnert der Kultur- und Medienwissenschaftler Wolfgang Hagen (1950–2022) u. a. an die herausragende Bedeutung, die Tucholsky für die Lehre vom Loch in Deutschland hatte. 
Denn zwei Jahre nach der heiter-schaurigen Geschichte zur entgleisten Abendgesellschaft schrieb der promovierte Jurist Tucholsky auch noch den kurzen, aber ziemlich einmaligen Text "Zur psychologischen Soziologie der Löcher". 

Mehr als ein kulturwissenschaftlicher Theorie-Spaß? 

Nicht immer findet sich da, wo ein Witz gemacht wird, auch ein Problem. Aber der Blick in die "Weltbühne" des Jahres 1931 lässt verstehen, wie Tucholsky dem scheinbar albernen Loch verfallen konnte: 
"Das Loch ist ein ewiger Kompagnon des Nicht-Lochs: Loch allein kommt nicht vor, so leid es mir tut. Wäre überall etwas, gäbe es kein Loch, aber auch keine Philosophie und erst recht keine Religion, als welche aus dem Loch kommt. Die Maus könnte nicht leben ohne es, der Mensch auch nicht: es ist beider letzte Rettung, wenn sie von der Materie bedrängt werden. Loch ist immer gut." 

Zum existenziellen gesellt sich noch ein phänomenologischer Witz: 
"Das merkwürdigste an einem Loch ist der Rand. Er gehört zum Etwas, sieht aber beständig in das Nichts, eine Grenzwache der Materie. Das Nichts hat keine Grenzwache: während den Molekülen am Rande eines Lochs schwindlig wird, weil sie in das Loch sehen, wird den Molekülen des Loches … festlig? Dafür gibt es kein Wort. Denn unsere Sprache ist von den Etwas-Leuten gemacht; die Loch-Leute sprechen ihre eigene." 

In seiner kleinen kulturwissenschaftlichen Schrift erklärt Wolfgang Hagen zudem, welche zivilisatorischen Errungenschaften mit dem Loch zusammenhängen. So beruhe die Entdeckung der Zentralperspektive – die grandiose Innovation der europäischen Kunst- und Mediengeschichte – auf dem Loch-Blick der Camera obscura

Sogar der gewaltige technische und ökonomische Umbruch der Gegenwart verweise auf ein Loch- und Nicht-Loch, nämlich die Nullen und Einsen des binären Codes. 

Juristische Löcher-Lehre hätte viel Aufholbedarf 

Dass mit Tucholsky einer ihrer Standesgenossen die Frage nach dem "Loch" aufgebracht hat, wird Juristinnen und Juristen nicht unbedingt davon überzeugen, dass sie auch relevant ist – in dieser Beziehung sind sie bekanntlich "Etwas-Leute". 

Ein Blick in die Rechtsprechung zeigt jedoch, dass hier nicht etwa ein Nichts vorliegt, sondern durchaus ein Etwas – das vielleicht einfach nur auf seine rechtswissenschaftliche Durchdringung und Systematisierung wartet. 

Bereits das Reichsgericht hatte sich beispielsweise mit der Frage zu beschäftigen, in welcher Weise das Herophon, also eine Maschine, die durch das Auslesen von Lochkarten ein Musikstück wiedergeben kann, womöglich das Urheberrecht des Komponisten an seinen Noten verletze, wobei das Gericht das ökonomisch-ästhetische Problem des Musikers, ob diese Vorstufe der Digitalisierung seine gesetzlich oder gar völkerrechtlich verbrieften Rechte berühre, in einem der schönsten der deutschen Sprache, einem nicht weniger als 145 Wörter verbindenden Kettensatz zusammenfasste, und wenngleich das "Loch" im Urteil vom 19. Dezember 1888 noch nicht in der existenziellen Dimension Tucholskys auftritt, mag ihm das Unbehagen an einer nicht durch konventionelle Schrift, sondern durch Löcher gestalteten, hier musikalischen Materie schon zu entnehmen sein (Az. I 287/88). 

Doch nicht nur in kosmischen Klängen der Musik, ganz unmittelbar im Justizbetrieb haben Löcher ihr Gewicht. Diese Anliegen reichen von der Frage an den Bundesgerichtshof (BGH), wann eine neue Anordnung von Löchern in einem Grundbuch-Loseblattsystem patentrechtlich schützenswert ist (BGH, Urt. v. 23.10.1973, Az. X ZR 47/70), bis zum anschaulichen Beweis, dass dort, wo nur Löcher im Papier sind, ein unter Anwälten zugestelltes Dokument zuvor womöglich aus mehr als einem Blatt bestanden haben mag (BGH, Urt. v. 12.05.1975, Az. II ZR 8/75). 

Tucholskys scheinbar triviale Erkenntnis, die Hagen etymologisch absichert, dass ein Loch nur da sein kann, wo ein Etwas sein könnte, deutet auch das Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt einmal an – hier verweist das englische Wort "lock" auf diesen Umstand (Entsch. v. 12.12.2005, Az. R 132/2005-1).  

Das mag noch nicht von Relevanz überzeugen, indiziert aber juristische Qualifikation. Denn z. B. ein bisschen verharmlosend von einem "Loch" zu sprechen, wenn an sich ehrenwerte Menschen – Beamte, die in die Kasse greifen, Anwälte, die sich überschulden – vor das Problem eines Etwas gestellt sind, das eigentlich da zu sein hat, es aber nicht ist, findet sich einerseits zwar als gut etablierte juristische Rhetorik. Bankräuber hingegen hinterlassen kein "Loch", jedenfalls nicht in der Kasse. Erfindet andererseits aber ein Gericht, um das verharmlosende Loch dann doch wieder dramatischer wirken zu lassen, ein etwas obskures "Loch-auf-Loch-zu-Prinzip", deutet der BGH zarte semantische Vorbehalte an (Beschl. v. 25.07.2002, Az. 1 StR 192/02). 

Löcher aller Art sind Sache der Justiz 

Oft ist die Justiz auch dazu berufen, über die sittliche Qualität von Löchern zu urteilen. 
Das reicht von hoffentlich historischen Löchern in öffentlichen Toiletten, die zu homosexuellen Verrichtungen dienten – z. B. einem Unteroffizier, der, weil uniformiert, das Ruhestandsgehalt verliert (Bundesdisziplinarhof, BDH, Urt. v. 06.08.1964, Az. II WD 35/64) – bis zu einer privat aus Holz gedrechselten Loch-Apparatur im Haushalt eines Soldaten mit ähnlicher Funktion und vergleichbarer dienstrechtlicher Konsequenz (Bundesverwaltungsgericht, Urt. v. 15.01.1992, Az. 2 WD 41.91). 

Von der Unschuld der im Zollamt zur Probenentnahme in Kaffeesäcke gebohrten Löcher muss sich das Gericht überzeugen, wenn sich der Beamte die vom Boden aufgekehrten Bohnen aneignet (BDH, Urt. v. 18.10.1961, Az. II D 85/60). Ein Loch im Stacheldrahtzaun will danach beurteilt werden, ob es auf dem Weg zum Diebesgut zu durchschreiten oder durchkriechen war (BGH, Urt. 23.10.1953, Az. 2 StR 470/53). Der rechtsmedizinische Fortschritt drückt sich darin aus, dass im Fall eines Arztfehlers jedes Loch im Darm vom Richter gezählt wird (BGH, Urt. v. 29.06.1953, Az. VI ZR 88/52), während die einst ehrwürdige Trepanation – das Bohren eines Lochs in den Schädel, durch das etwa die Göttin Athene geboren wird – in modernen Zeiten auf einen wenig zärtlichen Umgang in der Familie hinweist (BGH, Urt. v. 20.03.1963, Az. V ZR 85/61). 

Kein Geringerer als Helmut Kohl (1930–2017) falsifizierte übrigens einen Aspekt der älteren Löcher-Lehre: Ging Tucholsky noch davon aus, dass Proletarier in Löchern hausten, soll Kohl auch Parlamentarier in wenig wohnlichen "Löchern" angetroffen haben, der sparsame Heiner Geißler habe sogar in einer Abstellkammer gelebt (BGH, Urt. v. 29.11.2021, Az. VI ZR 248/18). 

Ad astra! 

Eine juristische Lehre vom Loch muss aber nicht in diesen Niederungen verbleiben. 
Zu astrophysikalischen Höhen aufschwingen konnte sich beispielsweise der BGH im Streit um die Frage, ob die Sonnenflecken als Löcher in der Oberfläche unseres Sterns zu betrachten seien, die einen Blick auf jene Vegetation erlauben müssten, die auf der Sonne wachse. 

Der Ingenieur Godfried Bueren war davon überzeugt, dass es sich bei den Sonnenflecken um solche Löcher handele und lobte 1949 einen hoch dotierten Preis aus, sollte es jemand gelingen, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Weil selbst das hochkarätig besetzte Preisgericht unter Vorsitz von Werner Heisenberg (1901–1976) das nicht schaffte, hatte der BGH die Sache mit einer Autorität zu richten, die sich nicht in den Astronomie-Lehrbüchern findet (Urt. v. 14.06.1955, Az. V ZR 120/53). 

Sogar das "Loch aller Löcher" kennt eine sowohl juristische als auch astrophysikalische Semantik. Bis in die 1970er Jahre war das bekannteste "Schwarze Loch" das "Black Hole" in Kalkutta. In dieser 23 Quadratmeter kleinen Gefängniszelle wurden der Legende nach in einer Sommernacht des Jahres 1756 bis zu 146 Gefangene festgehalten, von denen 123 verstorben seien – ein Skandal des britischen Imperiums, weil ein Teil der Häftlinge Briten waren und der später hingerichtete bengalische Fürst Mirza Muhammad Siraj-ud-Daulah als Haupttäter galt (1733–1757). 

Zwar wurde das Bundesverfassungsgericht schon mit der Sorge konfrontiert, dass ein Schwarzes Loch von astrophysikalischer Qualität in der Schweiz gefertigt werden könnte (Beschl. v. 18.02.2010, Az. 2 BvR 2502/08), doch wird diese kosmische Gravitationsgewalt heute meist in metaphorischer Form in den Justizbetrieb zurückgeholt: Hielten sich Staaten der Europäischen Union nicht an das gemeinsame Recht oder entstünden im "Krieg gegen den Terror" rechtsfreie Räume, handele es sich um "Schwarze Löcher" (Europäischer Gerichtshof, Schlussanträge v. 16.01.2008, Az. C-402/05 bzw. v. 20.05.2021, Az. C-746/19). 

Selbst wenn also die Beschäftigung mit Löchern nur in einer kuriosen Systematik möglich sein sollte: Möglicherweise muss der Mensch, der die Moleküle der Welt vor dem Sturz retten will, Robe tragen. 

Tipp: Wolfgang Hagen: "Das Loch". Leipzig (Merve) 2022, 96 S., 12 Euro 
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Autor in Ohligs, zurzeit an Fragen der 'Pataphysik. 

Zitiervorschlag

Juristische Lehre vom Loch: Am beständigsten ist der Rand . In: Legal Tribune Online, 19.06.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/48780/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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