Formeln für Juristen: Die über­be­wer­tete Mathe­matik

von Prof. Dr. Roland Schimmel

22.04.2017

2/2: Formeln ohne Ende

Es scheint also doch ein paar mehr juristische Formeln zu geben als zunächst angenommen. Und richtig: Sobald man eine Fachdatenbank fragt, erhält man Treffer zu Hunderten, viele davon mit Formeln des Europäischen Gerichtshofs, die das Gericht geradezu dutzendweise zu prägen scheint.  Mathematische Formeln sind das aber nur zum kleinsten Teil. Überwiegend sind es Abgrenzungs- oder Unterscheidungskriterien.  

Ist also die häufige Rede von der Formel auch ein Teil der juristischen Wissenschaftsmimikry, die man etwa an der beinahe inflationären Verwendung des Begriffs der "Theorie" noch für die harmlosesten kleinen Ideen erkennen kann? Ein bisschen vielleicht.

Denn ob die Rechtswissenschaft eine Wissenschaft ist, darüber kann man streiten. Der größte Teil dessen, was die meisten Juristen praktisch tun, ist Rechtsanwendung. Und wenn es Rechtssetzung ist, wird es allein dadurch auch noch nicht zur Wissenschaft. So ist es auch wenig erstaunlich, dass die Ausbildung an der Hochschule und die (Staats-)Prüfung fast ausschließlich auf Rechtsanwendungssituationen fokussieren.

Eine exakte Wissenschaft ist sie schon gar nicht. Mit Zahlen und Quantifizierungen hat sie wenig am Hut. Während Mathematiker ziemlich genau sagen können, wann ein Beweis geführt ist, ist das unter Juristen fast immer eine Wertungsfrage – und die unterlegene Prozesspartei hält die Wertung des Gerichts gern für falsch, rechtsfehlerhaft, angreifbar und revisibel. Ein bisschen naturwissenschaftliche Präzision im Gewand der Formel wäre da doch willkommen, oder?

Alles nur geklaut

Dass sie fast allenthalben als Formeln bezeichnet werden, passt zwar gut ins Bild der Wissenschaftsmimikry, hat aber doch einen anderen Grund. Der Begriff "Formel" hat schlicht mehr Bedeutungen als die eingangs genannte. Das verrät die Etymologie: Die Verwandtschaft von Formel und Formulierung ist leicht zu erkennen und auch Kluges Etymologisches Wörterbuch sagt, die gemeinsame Wurzel sei "Formula", was Gestalt, Form, Gesetz, Bestimmung, feste Wendung usw. bedeutet habe.

Das klingt bei der Zauber- und der Beschwörungsformel noch ziemlich deutlich durch. Und die Bedeutung als "Regelwerk" springt geradezu ins Auge, wenn man einmal dem vielleicht am weitesten verbreiteten Gebrauch des Begriffs nachgeht: Warum wird die Formel 1 eigentlich als Formel bezeichnet? Und so wird klar, dass die Formel etwas genuin Juristisches ist – die Mathematiker, Physiker und Chemiker haben sich das Ganze nur unter den Nagel gerissen.

Der Autor Prof. Dr. Roland Schimmel ist Professor für Wirtschaftsprivatrecht an der FH Frankfurt am Main.

Zitiervorschlag

Roland Schimmel, Formeln für Juristen: Die überbewertete Mathematik . In: Legal Tribune Online, 22.04.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22699/ (abgerufen am: 24.04.2024 )

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