Schöngeist im Gerichtssaal: Ein Gene­ral­an­walt als Lite­ratur-Ver­führer

von Martin Rath

02.06.2024

In Reimform abgefasste Urteile gelten als Zeitverschwendung, auch schöngeistige Zitate sind oft fragwürdig. Einem spanischen Generalanwalt sind jedoch schöne Verweise auf die gemeineuropäische Kultur zu verdanken, etwa auf Baltasar Gracián.

Wie heikel es ist, sich im prozessualen Vortrag allein auf literaturhistorisch hochwertige Zitate zu verlassen, lernen Kinder bekanntlich, lange bevor sie auf den Gedanken kommen, später einmal selbst Jurist zu werden.

Der Fall: Nachdem er seinem im mondänen Lutetia, dem antiken Paris, lebenden Schwager angekündigt hatte, ihm ein Ragout vorzusetzen, das mit dem Lorbeerkranz des römischen Imperators Gaius Julius Cäsar zubereitet werde, entsendet der gallische Häuptling Majestix seine Stammesgenossen Asterix und Obelix nach Rom, um das begehrte Würzmittel zu beschaffen (Asterix-Band XIII, "Die Lorbeeren des Cäsar").

Von einem Sklaven, der eifersüchtig ist, weil sich die beiden gallischen Gefährten auf etwas unlautere Weise selbst in die Knechtschaft verkauft haben, werden Asterix und Obelix in Rom bei der römischen Palastpolizei denunziert, einen Anschlag auf den Imperator geplant zu haben.

In der öffentlichen Verhandlung ihrer Strafsache beginnt der Staatsanwalt seine Anklage in theatralischer Geste mit den ziemlich abwegigen Worten "Delenda Carthago, wie schon Cato der Ältere sagte …" vorzutragen – woraufhin der Anwalt der beiden Gallier mit hoch rotem Kopf einwendet, er selbst habe seine Verteidigung auf genau dieses Cato-Zitat aufbauen wollen. Er bittet um eine Pause, um sie neu gestalten zu können.

Generalanwalt zitierte sehr oft aus Klassikern

Die Szene kippt vollständig ins Absurde, als Asterix nun, um den Fortgang des Prozesses zu beschleunigen, eine bewegte Rede hält, in der er sich fälschlich selbst bezichtigt – hofft er doch, damit zügig den Löwen zum Fraß vorgeworfen, um bei dieser Gelegenheit dem Lorbeerkranz des Cäsar habhaft zu werden.

Diese improvisierte Selbstanklagerede des vorgeblichen Attentäters rührt Gericht wie Zuschauer zu Tränen – und ist damit rhetorisch weit effizienter als das ohne jeden erkennbaren juristischen Argumentationswert eingeführte Cato-Zitat.

Das Œuvre von René Goscinny (1926–1977), dem genialen Szenaristen unter anderem der "Asterix"- und "Isnogud"-Comics, zählte – soweit erkennbar – nicht zum Zitatenschatz des spanischen Juristen Dámaso Ruiz-Jarabo Colomer (1949–2009), der seit 1995 als Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof (EuGH) tätig war.

In seinen Schlussanträgen griff Ruiz-Jarabo Colomer aber außergewöhnlich oft auf Werke der europäischen Literatur und Philosophie zurück. Allein im kurzen Zeitraum zwischen dem 1. Januar 2007 und seinem Tod am 12. November 2009 referenzierte Ruiz-Jarabo Colomer teils mehrfach den spanischen Schriftsteller Miguel de Cervantes (1547–1616 – z.B. EuGH, Antr. v. 13.02.2007, Az. C-374/05), Honoré de Balzac (1799–1850, Antr. v. 08.04.2008, Az. C-132/07), Molière (1622–1673, Antr. v. 01.04.2008, Az. C-152/07), Thomas Morus (1478–1535, Antr. v. 20.03.2007, Az. C-11/06), George Orwell (1903–1950, Antr. v. 06.09.2007, Az. C-337/06) und viele weitere mehr.

Dem in Zwickau lehrenden Juraprofessor Joachim Gruber ist eine erste Untersuchung dieser Zitatpraxis zu verdanken. Er entdeckte dabei zwar einerseits keine vollständige oder gar absurde Vergeblichkeit der von Ruiz-Jarabo Colomer angeführten Klassiker-Phrasen in dem Stil, wie sie Goscinnys fiktive römische Juristen im "Lorbeerkranz"-Fall fabrizierten. Einen wesentlichen Beitrag zur argumentativen Belastbarkeit seiner Schlussanträge leisteten sie jedoch auch nicht, meist blieben sie in den Fußnoten versteckt – was Gruber veranlasste, über einen heimlichen Zweck nachzudenken: Womöglich habe der spanische Jurist den Übersetzungsdienst des EuGH dazu motivieren wollen, "auszugsweise auch juristische Texte aus Zeitschriften und Büchern zum Unionsrecht in alle Amtssprachen zu übersetzen".

Denn zur Tradition des Luxemburger Gerichtshof zähle, nicht aus der rechtswissenschaftlichen Fachliteratur zu zitieren. Wenn aber der Dienst teils sogar einigermaßen schwer greifbare Klassiker der europäischen Literatur übersetzen könne, warum nicht erst recht Zitate aus juristischen Werken?

Klassikerzitat im Kriegsgefangenenentschädigungsfall

Ob Übersetzungsübungen in schöngeistiger bzw. klassischer Literatur gut geeignet sind, die Richter zum Zitieren auch rechtswissenschaftlichen Schrifttums zu animieren, mag hier dahingestellt bleiben.

Es soll aber zunächst ein weiterer Fall angeführt werden, in dem Ruiz-Jarabo Colomer ein Klassikerzitat einigermaßen argumentativ nutzte – er liegt zeitlich vor dem von Gruber untersuchten Korpus der Jahre 2007 bis 2009.

Der Fall: Nachdem im Jahr 2000 in Österreich eine Entschädigungszahlung für ehemalige Kriegsgefangene eingeführt wurde, begehrte der frühere österreichische, inzwischen aber schwedische Staatsangehörige Josef Baldinger (Jahrgang 1927) von der Pensionsversicherungsanstalt seines Geburtslandes, in deren Genuss zu kommen, hatte er doch nach vier Monaten Dienst in der deutschen Wehrmacht, den er 1945 kurz vor Kriegsende zu leisten hatte, gut zweieinhalb Jahre in sowjetischer Kriegsgefangenschaft zugebracht.

Fraglich war, ob die Republik Österreich europarechtlich gut daran tat, diesen Anspruch auf ihre aktuellen Staatsangehörigen zu beschränken. Der Generalanwalt führte – prima facie insgesamt mehr rhetorisch denn dogmatisch abgesichert – die Idee materieller Gerechtigkeit ins Feld. Er leitete dies so ein: "Es empfiehlt sich, die von Baltasar Gracián, einem spanischen Schriftsteller des 17. Jahrhunderts, aufgestellte Maxime zu berücksichtigen, die an 'die gute Gesinnung gegen das launische Schicksal, die gute Natur gegen das rigorose Gesetz, die gute Kunst gegen die Unvollkommenheit und gutes Verständnis für alles' appelliert" (Antr. v. 11.12.2003, Az. C-386/02).

Richter, die aufgerufen sind, magische Kunst zu verrichten

Der Europäische Gerichtshof sah die Sache am Ende enger als Ruiz-Jarabo Colomer – es stand Österreich frei, besondere Wohltaten vom Typ der Kriegsgefangenenentschädigung nur aktuellen Staatsangehörigen zu leisten (Urt. v. 16.09.2004, Az. C-386/02).

Vielleicht hätte der spanische Generalanwalt mehr als nur das etwas karge Zitat aus dem Werk seines Landsmannes Baltasar Gracián (1601–1658) anführen sollen.

Denn zu seinen Lebzeiten war der Jesuit Baltasar Gracián als wirkungsmächtiger Prediger berühmt. Der Jesuitenorden, eine Neugründung in der Epoche der Gegenreformation, verlangte von seinen Mitgliedern einen soldatischen Habitus, war aber auch für Intellektualität und Entertainment bekannt – beispielsweise wurde an Jesuitenschulen das Theater gepflegt.

Dem Übersetzungsdienst des Gerichts lag 2003/2004 augenscheinlich nur das kurze Zitat aus Graciáns Roman "Das Kritikon" ("El Criticón") vor.

In diesem Roman aus den Jahren 1651 bis 1657, der – trotz Schiffbruch, exotischen Reisen und Magie – kaum den heutigen Lesererwartungen an Unterhaltungsliteratur entspricht, werden überreiche barocke Lebensweisheiten referiert.

Mit seiner Erwartung gegenüber den EuGH-Richtern, wonach "die gute Gesinnung gegen das launische Schicksal, die gute Natur gegen das rigorose Gesetz, die gute Kunst gegen die Unvollkommenheit" zu setzen sei, beginnt konkret ein Kapitel, das eine mächtige Magierin namens Artemia vorstellt, die – anders als die griechische Hexe Circe  – nicht Männer in Schweine, sondern umgekehrt Tiere in Menschen entzaubere: "Aus hirnlosen Tieren machte sie vernünftige Menschenwesen."

Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer schlug also den Richtern – so könnte man ihn verstehen – durch die Blume gesprochen nicht weniger vor, als einem barocken Wunderwesen namens Artemia gleichzutun und ein juristisches Kunstwerk der materiellen Gerechtigkeit zu zaubern.

Dass er nicht ausführlicher zitierte, mag auch prosaische Gründe gehabt haben. "El Criticón" wurde meist spät aus dem Spanischen übersetzt oder liegt überhaupt nicht in den EU-Amtssprachen vor. Die erste vollständige Verdeutschung wurde erst 2001 veröffentlicht und ist keine leichte Kost.  Und selbst im Fall eines ausführlicheren Zitats hätten sich die Richter in der Rechtssache "Baldinger" wohl kaum von diesem Werk inspiriert gefühlt. Barocker Überschwang liegt nicht jedem.

Handorakel – nicht nur für Menschen vor Gericht und auf hoher See

Ruiz-Jarabo Colomer regte aber zur juristischen Lektüre noch eines weiteren Werks von an: "Handorakel und Kunst der Weltklugheit" ("Oráculo manual y arte de prudencia") aus dem Jahr 1647.

In seinen Schlussanträgen zu einer zollrechtlichen Angelegenheit äußerte der Generalanwalt die Hoffnung, dass die nationalstaatlichen Gerichte sich in Vorlagefragen einer "Kunst der Klugheit" bedienten, die er dem Titel seines spanischen Landsmannes entlehne (EuGH, Antr. v. 30.06.2005, Az. C 461/03, Rn. 91).

Dass der Hinweis auf das "Handorakel" in dieser Rechtssache nur "Asterix"-Qualität hatte, schadet kaum. Denn im Vergleich zum wenig zugänglichen "Kritikon" hat dieses Werk jedenfalls in Deutschland eine beachtliche Rezeptionsgeschichte, sogar mit ausgesprochen dramatischen Wendungen.

Das "Handorakel" ist eine Sammlung von 300 kurzen, jeweils kommentierten Maximen, die zur Prüfung des eigenen Denkens und Handelns in einer als äußerst unsicher erlebten Welt anregen.

Übersetzt wurde dieses Werk Graciáns erstmals 1832 von Arthur Schopenhauer (1788–1860) und erlebte seither unzählige Auflagen bis hin zum Ratgeber-Ramschtisch. Eine Neuübersetzung durch den Romanisten Hans Ulrich Gumbrecht (1948–) wurde 2020 veröffentlicht und hat neben einem lesenswerten Essay zur Einführung den Vorzug, auf manche Glättungen und Paraphrasen zu verzichten, die Schopenhauer gegenüber dem sperrigen barocken Original vornahm.

Sprüche für die Krisen-PR wie für das Überleben in höchster Not

Manches mag im "Handorakel" zunächst allzu bekannt wirken. Die kluge Maxime "never complain, never explain", die meist auf den britischen Premierminister Benjamin Disraeli (1804–1881) zurückgeführt wird, findet sich beispielsweise schon bei Gracián. In der alten Schopenhauer-Fassung heißt es:

"Nie dem Rechenschaft geben, der sie nicht gefordert hat, und selbst wenn sie gefordert wird, ist es eine Art Vergehn, darin mehr als nöthig zu thun. Sich ehe Anlaß da ist entschuldigen, heißt sich anklagen; und sich bei voller Gesundheit zu Ader lassen, heißt dem Uebel, oder der Bosheit, zuwinken. Die von selbst gemachte Entschuldigung weckt das schlafende Mißtrauen. Auch soll der Kluge einen fremden Verdacht nicht zu merken scheinen: denn das hieße die Beleidigung aufsuchen; sondern er soll denselben alsdann durch die Rechtlichkeit seines Thuns widerlegen."

Das mag in seiner Alltäglichkeit zwar wenig beeindruckend sein. Kenner des "Handorakels" schreiben ihm aber eine kaum überbietbare Wirkungsmacht zu, nicht zuletzt in verzweifelter Lage, vor Gericht und auf hoher See.

Der Fall: Der Romanist Werner Krauss (1900–1976) war im Januar 1943 vom Reichskriegsgericht wegen Beihilfe zum Hochverrat zum Tod verurteilt worden. Während andere Angehörige der Widerstandsgruppe, darunter seine Geliebte Ursula Goetze (1916–1943), hingerichtet wurden, hielt sich Krauss in der Todeszelle mit dem "Handorakel" über mehr als anderthalb Jahre seelisch über Wasser, bis seine Strafe im September 1944 aufgrund psychiatrischer Gutachten und Fürsprache einflussreicher Freunde zu fünf Jahren Freiheitsentzug abgemildert wurde.

Ob man nun, ein solches Schicksal vor Augen, für die größtenteils harmlosen Herausforderungen unseres Alltags das unter Juristinnen und Juristen beliebte Argument "a maiore ad minus", den Schluss vom Größeren auf das Kleinere, anwenden sollte, ist wohl eine Geschmackssache – das könnte doch ein bisschen zu pathetisch wirken. Doch lohnt es sich, ins "Handorakel" zu schauen – denn auch zu solchen Fragen des guten Geschmacks gibt Gracián Rat.

Literatur & Quellen: Joachim Gruber: "Der Jurist als Kulturvermittler: Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer". Journal der Juristischen Zeitgeschichte 2017, S. 93–97. Baltasar Gracián: "Das Kritikon". Frankfurt am Main (Fischer) 2004 (1. Teil, 8. Krisis) und ders.: "Handorakel und Kunst der Klugheit". Ditzingen (Reclam) 2020 mit einem schönen Aufsatz von Gumbrecht über "die Faszination einer kühlen Konkretheit". Helmut Lethen: "Im reißenden Strom der Translationen. Der Gracián-Kick im 20. Jahrhundert". Komparatistik Online, 2014, und ders.: "Suche nach dem Handorakel. Ein Bericht". Göttingen (Wallstein) 2012. Albert Uderzo & René Goscinny: "Die Lorbeeren des Cäsar". Stuttgart (Delta) 1974.

Zitiervorschlag

Schöngeist im Gerichtssaal: . In: Legal Tribune Online, 02.06.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54666 (abgerufen am: 12.12.2024 )

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