Iudex non calculat? Sicher nicht so viel wie Naturwissenschaftler, aber ganz ohne Zahlen kommen auch Juristen nicht aus. Roland Schimmel zu ihren Berührungspunkten mit der Mathematik und ihrem ganz eigenen Verhältnis zu Formeln.
Es gibt kaum ein verbreiteteres Bild für die Wissenschaft und den Wissenschaftler als die Formel, abgesehen vom Einstein-inspirierten Klischee des leicht verwirrten Professors mit weißem Haar vielleicht. Besonders deutlich zeigen das die fiktionalen Vertreter der Zunft:
Daniel Düsentrieb als Ingenieur und Erfinder oder die zahllosen Hollywood-Bilder von mehr oder minder verrückten Wissenschaftlern, zum Beispiel Dr. Emmett L. Brown aus "Zurück in die Zukunft", dem wir den Flux-Kompensator zu verdanken haben.
Alle diese Bilder zeigen neben Professoren mit seltsamen Frisuren Tafeln oder Notizbücher voller Formeln. Die Formel ist dabei in aller Regel eine mathematische oder chemische, in der Regel füllt sie eine ganze Tafel im Hörsaal – und meist ist sie gleichermaßen unverständlich wie unvollständig.
Was geht das Juristen an?
Da Juristen angeblich wenig und ungern rechnen, sollte man annehmen, sie bräuchten keine Formeln. Das stimmt aber nur auf den ersten Blick – und selbst da nur teilweise. Zum einen tauchen die Formeln im Recht gut versteckt auf, etwa in § 441 III Bürgerliches Gesetzbuch (BGB). Die Norm enthält einen simplen Dreisatz, den aber die meisten Leser erst erkennen, wenn er formelhaft vor ihnen steht, so zu lesen etwa im MüKo zum BGB, § 441, Rn. 12.
Im Palandt soll hingegen eine Beispielberechnung den Gedanken klar werden lassen. §441 III BGB scheint durch die sprachliche Form den Zugriff auf den Inhalt der Regelung jedenfalls eher zu erschweren – aber eine "richtige" Formel ist im Gesetz einfach unüblich.
Auf den zweiten Blick gibt es im Recht aber eine ganze Reihe von Formeln. Die meisten stehen nicht im Gesetz, sondern sind von der Rechtsprechung oder der Rechtswissenschaft entwickelt worden. Man frage nur einmal herum. Je nach Ausbildungsstand des Befragten wird man verschiedene Kandidaten genannt bekommen.
Das Ö-Recht: die Mutter aller Formeln
Schon Studenten im zweiten Semester kennen die Radbruch'sche Formel. Die braucht, wer wissen will, wann ausnahmsweise ein Richter nicht an ein Gesetz gebunden ist, weil er es für ungerecht hält. Das Problem ist heikel und wird meist nur in Grundlagenveranstaltungen zur Rechtsphilosophie erörtert. Praktische Bedeutung erlangt es selten, am ehesten bei der juristischen Bewältigung und Abwicklung von Unrechtsregimen. Hierzulande kommt das nur alle paar Jahrzehnte vor, glücklicherweise.
Wer die Anfängerübung im Öffentlichen Recht hinter sich gebracht hat, kennt die Neue Formel (auch: Katzenstein-Formel) des Bundesverfassungsgerichts, ohne die man den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 I Grundgesetz (GG) kaum auf dem heutigen Stand der Dogmatik anwenden kann.
Weiter im Öffentlichen Recht, aber vielleicht schon jenseits des Standardwissens: Mit der Heck'schen Formel und der Schumann'schen Formel grenzt man die Prüfungsbefugnis des Bundesverfassungsgerichts gegenüber derjenigen der Fachgerichte ab. Und sobald man einen Schritt ins Europarecht tut, kommen etliche Formeln hinzu, so etwa die Keck-Formel und die Canon-Formel oder die Dassonville-Formel.
Speziell, aber praktisch
Im Zivilrecht könnte der über den Kurzlehrbuch-Tellerrand hinaus Interessierte über die Learned-Hand-Formel gestolpert sein, wenn er sich ein wenig mit der ökonomischen Analyse des Rechts beschäftigt hat. Man kann sie benutzen, um den unbestimmten Rechtsbegriff der Fahrlässigkeit besser anwendbar zu definieren. Oder zumindest auf seinen wirtschaftlichen Sinn hin zu betrachten.
Mit der Baumbach'schen Formel kommt man wahrscheinlich erst als Rechtsreferendar in Berührung. Sie hilft, ein in der zivilprozessualen Praxis regelmäßig auftretendes Problem zu lösen: Wie sind die Kosten des Verfahrens zu verteilen, wenn in einem Rechtsstreit auf einer Seite zwei oder mehr Parteien stehen, die in unterschiedlichem Maß obsiegen oder unterliegen?
Ähnlich wie die eingangs erwähnte Berechnung des Minderungsbetrags ist die Baumbach'sche Formel eine solche im mathematischen Sinne: Man kann anstelle der Platzhalter Zahlen einsetzen und rechnen. Als Ergebnis erhält man wiederum eine Zahl, mit der sogar Juristen etwas anfangen können.
Roland Schimmel, Formeln für Juristen: . In: Legal Tribune Online, 22.04.2017 , https://www.lto.de/persistent/a_id/22699 (abgerufen am: 11.12.2024 )
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