Schüler diskutieren über Grundgesetz: "Die Ver­fas­sung wird bei den Jugend­li­chen in guten Händen sein"

von Maryam Kamil Abdulsalam

26.05.2024

Heißt Meinungsfreiheit, dass Kinder gegenüber Eltern immer Recht haben? Was darf ich in sozialen Medien posten? Schüler begeistern sich für Verfassungsfragen, erlebt ein Verein, der ihnen das GG nahe bringen will.

Der Jurist und Doktorand Mattis Leson gründete 2020 gemeinsam mit zwei Freunden den Verein "Grundgesetz Verstehen". Seitdem bringt er Schüler:innen ehrenamtlich in ganz Deutschland das Grundgesetz näher. Sein Team und er waren bisher beinahe jede Woche an Schulen. Dieses Jahr sollen es noch mehr Besuche werden.

LTO: Sie waren gerade in den letzten Monaten und Wochen vor dem GG-Jubiläum deutschlandweit besonders viel an Schulen unterwegs. Welche Frage aus der Schülerschaft hat Sie zuletzt am meisten überrascht?

Mattis Leson (lacht): "Heißt Meinungsfreiheit, dass meine Eltern immer alle meine Meinungen akzeptieren müssen?" Meistens begegnen uns solche eher witzige Fragen, bei denen wir erklären müssen, dass die Frage gar nichts mit dem Grundgesetz zu tun hat. Aber es gibt auch Momente, die mich überraschen und erschrecken.

Wann erschrecken Sie?

Wenn Schüler:innen zum ersten Mal realisieren: "Ah, es gibt Rechte, und die beschützen mich sogar." Sie merken dann, dass Recht nicht nur ein Gegenspieler ist, sondern wirklich für sie persönlich etwas bedeutet. Solche Momente kommen weniger in wohlhabenden Nachbarschaften vor, sondern eher in den sogenannten Problembezirken. Hier kann es vorkommen, dass die Schüler:innen hauptsächlich negative Erfahrungen mit dem Staat gemacht haben, beispielsweise bei Kontrollen durch die Polizei oder in Begleitung der Eltern auf dem Amt. Wenn sie dann in unseren Einheiten merken, dass es Grundrechte gibt, die sie in genau diesen Situationen schützen, ist das für sie überraschend.

Darf man in Deutschland wirklich nicht mehr alles sagen?

Was wollen Sie mit Ihrer Arbeit vermitteln?

Alles hat in einer WG-Küche in Edinburgh 2020 angefangen. Wir waren damals zu dritt im Auslandssemester. Markus Lakenbrink, ebenfalls Jurist, die Psychologin Laura Glocker und ich. Es war die Zeit der Finanzkrise, Brexit, die Fluchtbewegungen 2015/2016, Trump. Begleitet wurden diese Krisen mit der Rede, man dürfe in Deutschland gar nicht mehr seine Meinung sagen. Was antwortet man darauf? Als Juristin oder Jurist? Und wie vermittelt man Nicht-Juristinnen und Juristen unsere Verfassung? Das war für uns der Startpunkt.

Und warum wollten Sie an die Schulen?

Zuerst haben wir nur unsere Idee aufgeschrieben, dass wir rechtliche Laien befähigen wollen, sich fundiert mit der Verfassung auseinander zu setzen. Dann kamen wir auf die Schulen als Ort der Vermittlung. Vielleicht klingt es komisch, aber wir dachten: Schülerinnen und Schüler im Unterricht können nicht weglaufen und Schule ist ein Raum, in dem man junge Menschen erreichen kann.

"Manchmal muss ich erst Werbung für die Demokratie machen."

Wie sieht Ihre Arbeit tagtäglich aus?

Wir entwickeln hauptsächlich Lernmaterialien und bringen diese dann in Unterrichtseinheiten an die Schulen. Am Anfang haben wir Vereinsmitglieder die Schulen noch gezielt angeschrieben und dann mit einer Lehrkraft den Inhalt einer Einheit entwickelt. Das können wir mittlerweile wegen der hohen Nachfrage nicht mehr leisten. In den letzten zwei Jahren haben 60 Unterrichtsbesuche stattgefunden, dieses Jahr haben wir schon genauso viele Anfragen bekommen und bemühen uns um zeitnahe Realisierung. Inzwischen bieten wir deswegen zwölf Einheiten zu verschiedenen Aspekten der Verfassung an. Themen sind klassischerweise Freiheits- und Gleichheitsrechte, aber auch Verfassungsgeschichte oder Europa. Inzwischen gehen auch nicht mehr nur Vereinsmitglieder in die Klassen, sondern wir haben bisher insgesamt 60 Coaches geschult, die für uns im ganzen Bundesgebiet unterwegs sind, um unsere Einheiten durchzuführen.

(c) Mattis

Für welche Grundrechte interessieren sich die Schüler:innen am meisten?

Die Einheiten zur Meinungsfreiheit werden auf jeden Fall am häufigsten nachgefragt. Die Anfragen kommen zwar von Lehrerinnen und Lehrern, aber das Thema wird in der Schülerschaft gut angenommen. Insbesondere von Interesse ist "Meinungsfreiheit in den Sozialen Medien". Da geht es dann um die Fragen: Warum darf eigentlich ein Video bei Tiktok gesperrt werden? Verstößt das nicht gegen meine Meinungs- und Ausdrucksfreiheit? Muss ich eigentlich alles aushalten, was in Sozialen Medien über mich gesagt wird? Also wird Mobbing auch durch die Meinungsfreiheit geschützt? Da merken wir ganz stark, dass junge Menschen noch viel mehr im digitalen Raum agieren als wir. Der Bezug ihrer Lebensrealität zur Verfassung ist deswegen besonders wichtig.

Und neben der Meinungsfreiheit?

Am zweithäufigsten halten wir die Einheit zur Antidiskriminierung und Ungleichheit. Für diese Themen interessieren sich Schüler:innen sehr. Viele gehen deutlich sensibler mit dem Thema um als es noch zu meiner Schulzeit üblich war. Gleichzeitig erleben wir auch immer wieder, dass es Schüler:innen in ihrer persönlichen Lebensrealität betrifft. Teilweise wird die Einheit auch genau dann abgefragt, wenn es an der Schule entsprechende Vorfälle gab, um die Debatte zu versachlichen. Hier merken wir, dass die Schüler:innen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven auf das Thema blicken. Klassen mit hohem Migrationsanteil setzen offensichtlich andere Schwerpunkte als Klassen mit Trans-Schüler:innen. Gemeinsam haben diese Klassen jedoch, dass Gleichheit und Diskriminierung für sie einen hohen Identifikationswert hat.

Was interessiert die Schüler noch an der Verfassung?

An dritter Stelle kommt die Einheit zur Verfassungsgeschichte. Hier vergleichen wir die Verfassungsentwicklung von DDR und BRD. An den Verfassungen beider Staaten kann man viele Unterschiede ausmachen und lernt viel über die jeweiligen Gesellschaften. Zugegebenermaßen haben bisher nur Geschichte Leistungskurse diese Einheit angefragt, aber wir merken trotzdem, dass die Wiedervereinigung Deutschlands auch für Jugendliche ein ganz aktuelles Thema ist, weil sie auch die Unterschiede in den verschiedenen Bundesländern wahrnehmen.

"In manchen Bundesländern treffen wir auf eine kritischere Grundhaltung als in anderen"

Erleben Sie auch Vorbehalte gegen das Grundgesetz?

Hier kommt es auch ganz stark darauf an, wo wir Schulbesuche durchführen, in manchen Bundesländern treffen wir eher auf eine kritische Grundhaltung als in anderen.  Dabei können wir unsere Erfahrungen natürlich nicht empirisch belegen.

Wie äußert sich das?

Da kommen dann oft diffuse Einwände auf. "Es gibt doch viel bessere und viel schnellere Systeme als die Demokratie." Oder "Man darf doch sowie nicht mehr alles sagen." Anhand eines speziellen Grundrechts müssen wir dann ganz grundlegende Werbung für unsere Demokratie machen. Wenn Schüler:innen sich an Pluralität oder der "Herrschaft der Vielen" reiben, dann erzählen wir, dass durch die Demokratie auch ihre eigenen Freiheitsräume geschützt werden. Dass die Minderheit zwar vor der Mehrheit geschützt werden soll, aber auch dass jede Minderheit auch zur Mehrheit werden können soll. Und dass sie diesen Schutz vielleicht auch irgendwann mal brauchen.

Und haben Sie den Eindruck, das kommt an?

Ich habe es noch nie erlebt, dass eine Klasse gar keine Lust auf unsere Demokratie hatte. Gerade wenn es um kritische Einwände geht, habe ich oft den Eindruck Schüler:innen diskutieren mit uns, um herauszufordern und zu hinterfragen. Was ja auch eine gute Grundhaltung ist. Aber anstrengend ist das natürlich auch. Am Ende sind Schüler:innen nicht mehr oder weniger lernwillig als wir es waren.

"Asozial sagt man nicht!"

Welche Themen beschäftigen die jungen Menschen?

Wir prägen die Diskussion natürlich immer schon vor, durch die Einheit, die wir halten. Aber ich kann trotzdem zwei Trends beobachten: Digitales Leben und die Themen Gleichheit und Gerechtigkeit. Ich habe zum Beispiel einmal im Berliner Bergmann-Kiez eine Einheit gehalten und das Wort "asozial" in einem Beispielsfall als Beleidigung vorgelesen. Da ging ein Raunen durch die ganze Klasse und ich wurde belehrt: "Asozial sagt man nicht!" Diese Klasse war besonders sensibilisiert, was ausgrenzende Sprache oder insgesamt Inklusivität von Gesellschaft angeht. Da kann man sich auch manchmal selbst hinterfragen.

Schauen Sie nach Ihren Schulbesuchen eher hoffnungs- oder sorgenvoll auf die Zukunft der Verfassung?

Wenn man Schüler:innen dafür begeistert, mal in das Grundgesetz reinzugucken, dann nehmen sie dazu auch viel auf. Darüber freue ich mich immer. Es gab auch schon ein paar Momente, in denen ich gemerkt habe: Cool, hier habe ich für einzelne Personen wirklich einen Mehrwert geleistet, für diese Personen richtig was verändert oder wirklich zum Nachdenken angeregt. Wenn einzelne Schüler:innen aus meinen Einheiten rausgehen und richtig Lust haben sich mit einem Thema weiter auseinanderzusetzen oder wenigstens Berührungsängste abgebaut haben, dann macht mir das schon Hoffnung. Wirklichen Anlass zur Sorge geben mir die Schüler:innen nicht.

Wie sah für Sie so ein Erfolgsmoment konkret aus?

Einmal saß ein:e Trans-Schüler:in in meiner Klasse. Nach kurzer Zeit habe ich dann gemerkt, das ist nicht nur eine total ruhige Person, sondern die sitzt auch nur hinten im Klassenraum und lässt den Unterricht eigentlich nur abwesend über sich ergehen.  Ich habe auch so etwas wie Abwehrhaltung gespürt. Wir haben mit der Klasse dann über Antidiskriminierungsrecht und Ungleichheit gesprochen, und da hat sich gleich gezeigt: Diese Person hat für sich ein relevantes Thema gefunden und etwas Neues für sich selbst verstanden.  Sie hatte plötzlich immer wieder noch einen Redebeitrag, noch eine Frage und noch eine Ergänzung. Das hat mich total gefreut. Auch der Lehrer hat mir nachher bestätigt: Er habe sie noch nie so energetisch im Unterricht erlebt.

Die Verfassung ist bei den Jugendlichen also in guten Händen für die Zukunft?

Die Verfassung wird bei den Jugendlichen in guten Händen sein. Jetzt ist es erstmal unsere Aufgabe, Werbung für sie zu machen. Das gilt insbesondere für junge Jurist:innen, die vielleicht einen besseren Zugang zu "der Jugend" haben. Ich hoffe und glaube, dass ganz viele Menschen auch außerhalb unseres Vereins, diese Verantwortung ernst nehmen.

Zitiervorschlag

Schüler diskutieren über Grundgesetz: "Die Verfassung wird bei den Jugendlichen in guten Händen sein" . In: Legal Tribune Online, 26.05.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54621/ (abgerufen am: 17.06.2024 )

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