Nicaragua begründet Klage gegen Deutschland: "Humani­täre Hilfe leisten, aber gleich­zeitig Waffen lie­fern"

von Dr. Franziska Kring

08.04.2024

Bei der Anhörung im Eilverfahren vor dem IGH legte Nicaragua seine Position dar. Deutschland wisse, dass Israel schwere Völkerrechtsverbrechen begehe – und liefere trotzdem Waffen, so der Vorwurf.

An der Grenze von Israel zum Gazastreifen warten Lastwagen des Welternährungsprogramms (WFP) mit Nahrungsmitteln, die mehr als eine Million Menschen drei Monate lang versorgen können. Passieren dürfen sie die Grenze derzeit nicht. Ende März hatte der Internationale Gerichtshof (IGH) in seiner zweiten Eilentscheidung gegen Israel aufgefordert, mehr Grenzübergänge für längere Zeit zu öffnen, um die Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern sicherzustellen. Man stehe buchstäblich kurz vor einer Hungersnot, sagte Cindy McCain, die Direktorin des WFP, am Sonntag dem US-Sender CNN.

Währenddessen blickt die Welt derzeit erneut nach Den Haag: Dort findet sich Deutschland zum dritten Mal in seiner Geschichte in der Beklagtenposition vor dem IGH wieder. Nicaragua wirft Deutschland Beihilfe zum Völkermord an den Palästinensern vor und hat Klage erhoben. Mit einem daneben eingeleiteten Eilverfahren will Nicaragua erreichen, dass Deutschland die Waffenlieferungen an Israel stoppt. Die Bundesregierung hat im vergangenen Jahr insgesamt Rüstungslieferungen für 326,5 Millionen Euro an Israel genehmigt – das sind zehnmal so viel wie im Vorjahr mit 32,3 Millionen Euro. Außerdem soll Deutschland die Zahlungen an das UN-Palästinenserhilfswerk (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees, UNRWA) in Gaza wieder aufnehmen, fordert Nicaragua.

Am Montag hatte Nicaragua als Antragsteller zuerst das Wort und erhob schwere Vorwürfe. Deutschland leiste nicht nur Beihilfe zum Völkermord durch Israel, sondern komme auch seinen eigenen Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention nicht nach, so die Vertreter Nicaraguas.

"Vorläufige Maßnahmen dringlich und notwendig"

"Die Fakten und das Recht sind einfach erklärt: In Gaza werden Völkermord und schwere Verletzungen des Humanitären Völkerrechts begangen", sagte Carlos J. Argüello Gómez, der Botschafter Nicaraguas in den Niederlanden. "Die Verpflichtungen in solchen Situationen sind klar: Alle Staaten müssen das Bestmögliche tun, um einen Völkermord zu verhindern." Dies habe Deutschland nicht getan.

Dr. Daniel Müller, ein deutscher Anwalt und einer der Vertreter Nicaraguas in dem Verfahren, verwies darauf, Nicaragua habe die Fakten schon in seiner Klage dargelegt. Leider hätte sich die humanitäre Lage im Gazastreifen seitdem jedoch dramatisch verschlechtert. "Vor diesem Hintergrund werden vorläufige Maßnahmen immer dringlicher und notwendiger", so Müller.

Die "Hölle von Gaza"

Deutschland habe zwar Zweifel daran geäußert, ob Israel sich an das Humanitäre Völkerrecht hält, sagt der Anwalt und verwies unter anderem auf verschiedene Tweets von Außenministerin Annalena Baerbock, wie etwa am 24. März: "Das militärische Vorgehen hat seine Grenzen im Humanitären Völkerrecht." Annalena Baerbock sprach mit Blick auf die dramatische Situation der Zivilbevölkerung auch von der "Hölle von Gaza". Dennoch habe Deutschland seine Waffenlieferungen nach Israel nicht eingestellt – im Gegensatz zu Kanada und den Niederlanden: Kanada hatte die Waffenexporte bereits kurz nach Ausbruch des Gaza-Krieges gestoppt, die Niederlande wurde im Februar gerichtlich dazu angehalten, wie LTO berichtet hatte.

Deutschland hat zwar die Hilfsmittel für das UN-Palästinenserhilfswerk in Gaza gestrichen, unterstützt aber dennoch die Bevölkerung im Gazastreifen: So hat die Bundesregierung die humanitäre Hilfe für die zivile Bevölkerung in Gaza auf bisher rund 240 Millionen Euro erhöht. Seit Mitte März beteiligt sich die Bundeswehr an sogenannten Luftbrücken für Gaza, d.h. an Abwürfen von Hilfsgütern aus der Luft. Dennoch liefert Deutschland weiterhin Waffen an Israel. Diesen Widerspruch machte Müller in seinem Vortrag deutlich: "Es ist eine erbärmliche Ausrede für die palästinensischen Kinder, Frauen und Männer in Gaza, einerseits humanitäre Hilfe zu leisten und andererseits die Waffen und die militärische Ausrüstung zu liefern, mit denen sie getötet und gequält werden."

"Deutschland verantwortlich für eigene Völkerrechtsverletzungen"

Deutschland sei zwar nicht verantwortlich für das "Inferno" in Gaza, begann der renommierte Völkerrechtsprofessor Alain Pellet seinen Vortrag. Die Bundesrepublik sei aber verantwortlich für eigene Völkerrechtsverletzungen. Deutschland habe nicht nur gegen die Völkermordkonvention verstoßen, sondern auch das Humanitäre Völkerrecht verletzt.

Nach der Völkermordkonvention sind alle Staaten dazu verpflichtet, Völkermord zu verhindern und zu bestrafen. Die Regeln des Humanitären Völkerrechts sind diejenigen Regeln, die in bewaffneten Konflikten Anwendung finden und insbesondere in den Genfer Konventionen festgehalten sind. Deren Vertragsparteien müssen eingreifen, wenn eine Verletzung der Konventionen durch andere Staaten, hier durch Israel, unmittelbar bevorsteht. In Betracht kommen etwa Verstöße gegen das Unterscheidungsgebot, also das Gebot der Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kombattanten, sowie das Aushungern der Zivilbevölkerung nach Art. 54 des 1. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen. Deshalb müsse Deutschland tätig werden und insbesondere seine Waffenlieferungen stoppen, so die Idee des nicaraguanischen Antrags.

Was darf der IGH ohne Beteiligung Israels entscheiden?

Der Erlass von Sofortmaßnahmen nach Art. 41 des IGH-Statuts ist an verschiedene Voraussetzungen geknüpft: So muss die Gerichtsbarkeit des IGH "nach erstem Anschein" (prima facie) vorliegen und die geltend gemachten Rechte müssen "plausibel" sein und mit den beantragten Maßnahmen in Zusammenhang stehen. Außerdem muss eine "reale und unmittelbare Gefahr" einer irreparablen Beeinträchtigung dieser Rechte drohen. Diese Voraussetzungen seien hier erfüllt.

In den einstweiligen Anordnungen gegen Israel vom 26. Januar und zuletzt vom 28. März 2024 habe der IGH klargestellt, dass einige der von Südafrika geltend gemachten Rechte "plausibel" sind. Darunter ist auch das Recht der Palästinenser in Gaza, vor Völkermord und nach Art. III der Völkermordkonvention geschützt zu werden.

Um festzustellen, dass Deutschland Beihilfe zum Völkermord begeht, müsste Israel jedoch an dem Verfahren beteiligt werden. Denn nach der sogenannten Monetary-Gold-Doktrin, die auf eine Entscheidung des IGH aus dem Jahr 1954 zurückgeht, urteilt der Gerichtshof gerade nicht über Klagen, die als zentralen Gegenstand die Rechte eines Staates betreffen, der keine Partei des Verfahrens ist. Ob Israel tatsächlich einen Völkermord an den Palästinensern begeht, klärt der IGH gerade in einem separaten Verfahren, das Südafrika bereits im Dezember angestrengt hatte.

Wie wird sich Deutschland verteidigen?

Die entscheidende rechtliche Frage ist aber, ob diese Regel auch schon im Eilverfahren Anwendung findet. Das sei nicht der Fall, so Pellet. Man müsse nämlich unterscheiden zwischen dem Bestehen der Gerichtsbarkeit des IGH und der Ausübung dieser Gerichtsbarkeit. Die Ausübung der Gerichtsbarkeit sei eine Frage der Begründetheit, die hier noch nicht relevant sei. Die Monetary-Gold-Regel und damit die Frage, ob Israel eine "unverzichtbare dritte Partei" für das Verfahren sei, müsse der IGH erst zu einem späteren Zeitpunkt entscheiden.

Im Eilverfahren sei die Möglichkeit ausreichend, dass ein Genozid begangen werde, und dass Deutschland von diesem Risiko Kenntnis habe, so Pellet. "Und diese Grenze ist bei weitem überschritten", ergänzte er. Deutschland sei es auch bewusst, dass die Waffen, die es nach Israel liefert, zur Begehung schwerer Völkerrechtsverbrechen genutzt werden könnten, sagte Pellet.

Deutsche Vertreter werden sich vor Gericht offiziell erst am Dienstag äußern, hatten die Vorwürfe aber bereits im Vorfeld entschieden zurückgewiesen. Auch nach der Anhörung Nicaraguas fand die Beauftragte für Völkerrecht im Auswärtigen Amt, Tania von Uslar-Gleichen, deutliche Worte: "Deutschland verletzt weder die Völkermord-Konvention noch humanitäres Völkerrecht, weder direkt noch indirekt", sagte sie vor Journalisten in Den Haag. Die Darstellung Nicaraguas sei "eklatant einseitig".

Die andere Seite wird Deutschland dann am Dienstag darlegen. Dann werden unter anderem die Direktorin des Max-Planck-Instituts für Völkerrecht in Heidelberg, Anne Peters, sowie der Völkerrechtsprofessor Christian J. Tams von der Leuphana-Universität Lüneburg auftreten.

Mit Material der dpa

Zitiervorschlag

Nicaragua begründet Klage gegen Deutschland: "Humanitäre Hilfe leisten, aber gleichzeitig Waffen liefern" . In: Legal Tribune Online, 08.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54277/ (abgerufen am: 30.04.2024 )

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