BVerfG-Vizepräsident Ferdinand Kirchhof: "Tran­s­pa­renz ist kein Selbstz­weck"

von Dr. Christian Rath

28.09.2015

2/2: "Öffentlich zugängliche Akten: nur bei abstrakten Normenkontrollen denkbar"

LTO: Aber Sie haben ja eben selbst darauf hingewiesen: Jede Transparenzregel hat ihre Ausnahmen für Persönlichkeitsrechte, Geschäftsgeheimnisse...

Kirchhof: Ich hielte es für unpraktikabel, wenn wir bei jedem Schriftstück entscheiden müssten, ob wir es herausgeben können oder nicht. Allein im letzten Jahr gingen über 6.500 Verfassungsbeschwerden im Bundesverfassungsgericht ein, viele davon mit langen Schriftsätzen und umfangreichen Beiakten. Dabei sind die meisten Verfahren von überschaubarem öffentlichem Interesse. Wahrscheinlich wären auch die meisten Beschwerdeführer nicht mit der Publikation ihrer Verfahrensakten einverstanden.

LTO: Und wenn man die Transparenz auf die rund 30 Verfahren beschränkt, die pro Jahr in den beiden Senaten entschieden werden? Da geht es doch eindeutig um grundsätzliche Fragen...

Kirchhof: Von den Senatsverfahren im Ersten Senat sind die meisten Verfassungsbeschwerden und konkrete Normenkontrollen. Hinter deren Verfassungsfragen stehen häufig private und persönliche Streitigkeiten.

Nur bei den wenigen abstrakten Normenkontrollen, die bei uns beantragt werden, könnte ich mir öffentlich zugängliche Akten vorstellen. Wenn Bundestagsabgeordnete, die Bundesregierung oder Landesregierungen ein Gesetz angreifen, stehen nicht persönliche Schicksale im Vordergrund, sondern die Normen an sich. Die Beteiligten sind an mediale Öffentlichkeit gewöhnt und begreifen das Verfahren beim Bundesverfassungsgericht ohnedies häufig als einen Teil der öffentlichen Diskussion.

"Keine Einwände gegen Herausgabe eigener Schriftsätze durch Parteien"

LTO: Sie sind also wenigstens bei abstrakten Normenkontrollverfahren für mehr Transparenz?

Kirchhof: Bei abstrakten Normenkontrollen findet eine mündliche Verhandlung statt, welche  die Öffentlichkeit einbezieht und schon auf diese Weise ausreichende Transparenz herstellt. Eine mündliche Verhandlung ist in diesen Verfahren auch deswegen sinnvoll, weil andere Gerichte noch nicht für eine Aufbereitung der tatsächlichen und rechtlichen Fragen gesorgt haben; wir werden gewissermaßen wie ein erstinstanzliches Gericht mit dem Verfahrensstoff befasst.

Für eine darüber hinaus gehende Veröffentlichung der Verfahrensakten sehe ich kein wirkliches Bedürfnis. Sie könnte zudem bewirken, dass die Schriftsätze vermehrt als Schaufenster für die öffentliche Darstellung dienen.

LTO: Spricht aus Ihrer Sicht dann etwas dagegen, dass die Prozessparteien ihre Schriftsätze selbst auf einer eigenen Homepage veröffentlichen oder an Journalisten weitergeben?

Kirchhof: Nein, was sollte dagegen sprechen?

LTO: Wenn ich als Journalist Prozessparteien um ihre Klageschrift bitte, heißt es immer wieder, das Bundesverfassungsgericht sehe es nicht gern, wenn die Schriftsätze vor der Entscheidung bekannt werden. Stimmt das?

Kirchhof: Es ist die freie Entscheidung der Parteien, ihre Schriftsätze zu veröffentlichen oder nicht. Für beide Alternativen mag es im Einzelfall gute Gründe geben. Das Gericht hatte nie Einwände gegen die Herausgabe der eigenen Schriftsätze der Parteien.

"Gute Erfahrungen mit Live-Übertragung von Urteilsverkündungen"

LTO: Vorbildlich ist das BVerfG, wenn es um die Möglichkeit geht, die Urteile des Gerichts live zu übertragen oder aufzunehmen...

Kirchhof: Das hat der Gesetzgeber in § 17a Bundesverfassungsgerichtsgesetz so entschieden.

LTO: Aber doch wohl nicht gegen den Willen des Gerichts?

Kirchhof: Nein, das nicht. Es gab zunächst eine entsprechende Übung des Gerichts, die in internen Richtlinien geregelt wurde. 1998 hat dann der Gesetzgeber klargestellt, dass die Urteilsverkündungen des Bundesverfassungsgerichts in Bild und Ton übertragen werden dürfen.

LTO: Im Juni hat die Justizministerkonferenz vorgeschlagen, dass solche Übertragungen künftig auch bei den Urteilen aller obersten Bundesgerichte, etwa dem Bundesgerichtshof oder dem Bundesarbeitsgericht, erlaubt sein sollen. Welche Erfahrungen hat das Bundesverfassungsgericht bisher damit gemacht?

Kirchhof: Das Bundesverfassungsgericht hat mit den Übertragungen der Urteilsverkündung bislang gute Erfahrungen gemacht. Sie sind ein Weg, um die Arbeit des Gerichts authentisch zu vermitteln und Verfassungsrechtsprechung verständlich zu machen.

"Keine Angst, bei Stefan Raab zu landen"

LTO: Wie oft nutzen Medien diese Möglichkeit?

Kirchhof: Bei jeder Urteilsverkündung werden Kameras aufgebaut. Ob diese nur den Urteilstenor und die Einführung des Vorsitzenden aufnehmen oder die gesamte Urteilsbegründung, das kontrollieren wir nicht.

Im Fernsehen sehe ich eher selten längere Passagen aus den Urteilsbegründungen, was sicherlich auch mit den Zeitvorgaben der Sender zu tun hat. Wir hätten nichts dagegen, wenn die Bilder und Töne noch intensiver genutzt würden, um die zentralen Argumente des Urteils darzustellen und sie mit den markantesten Sätzen der Verkündung zu illustrieren.

LTO: Man hört, dass manche Richter Angst davor haben, als Clip in der Heute-Show, bei Stefan Raab oder bei Youtube zu landen, wenn sie sich bei einer Urteilsverkündung lustig versprechen und das gefilmt wird: Wie geht es Ihnen damit?

Kirchhof: Nein, diese Angst habe ich nicht. Zum einen ist die Gefahr gering, weil die Texte vorbereitet werden. Zum anderen macht es die Justiz auch menschlich, wenn es doch einmal zu einem Versprecher kommt.

Prof. Dr. Ferdinand Kirchhof ist Vizepräsident des BVerfG und Vorsitzender des Ersten Senats.

Das Interview führte Dr. Christian Rath.

Zitiervorschlag

Christian Rath, BVerfG-Vizepräsident Ferdinand Kirchhof: "Transparenz ist kein Selbstzweck" . In: Legal Tribune Online, 28.09.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/17022/ (abgerufen am: 30.04.2024 )

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