Auschwitz-Drama "The Zone of Interest": Fami­lien­idylle neben dem KZ

Gastbeitrag von Finn Zappel

09.03.2024

Der Film "The Zone of Interest" erzählt den Holocaust aus einer anderen Perspektive: die der Täter. Er zeigt sie als Massenmörder und Familienväter und greift dabei Hannah Arendts "Banalität des Bösen" auf, schreibt Finn Zappel.

Nachdem er bereits auf dem Filmfestival in Cannes das Publikum begeisterte, sorgt der Auschwitz-Film "The Zone of Interest" Ende Februar auch auf der Berlinale für Aufsehen. Die britische Produktion von Jonathan Glazer bringt die Familie des SS-Obersturbannführers und Auschwitz-Leiters Rudolf Höß auf die Leinwand.

Sie zeigt ihren banalen Alltag in einem gutbürgerlichen Haus, dessen paradiesisch blühender Garten dort endet, wo die graue Mauer des KZ-Auschwitz beginnt. Auch wenn die Kamera keinen Blick hinter diese Mauer gewährt, trübt der Horror von Auschwitz das idyllische Familienleben. Seien es der Rauch und das Licht des Schornsteins des Krematoriums, das aus dem Fenster des Schlafzimmers zu sehen ist. Seien es Schüsse und gequälte Schreie, die bis in das Kinderzimmer tönen – der Horror von Auschwitz ist im Paradies der Familie Höß stets präsent, ohne gezeigt zu werden.

Das Unerträgliche daran: Die Familie Höß zeigt sich unbeeindruckt von dem Grauen jenseits der grauen Mauer. Sie zieht ihre Kinder groß und feiert Feste, ja, sogar die Asche aus dem Krematorium dient als Dünger für den blühenden Garten. Sie genießt die Idylle an der Oberfläche in Gedankenlosigkeit über den Horror jenseits der Mauer. Regisseur Glazer gab gegenüber IndieWire an, die Perspektive unbeteiligter Zuschauer des Holocaust darstellen zu wollen. Doch ihm gelingt nicht nur dieses Anliegen meisterhaft, sondern er illustriert anhand der Figur Rudolf Höß auch eindrücklich das, was die Theoretikerin Hannah Arendt mit der "Banalität des Bösen" meinte.

Der erste Teil des Films begleitet die Hauptfigur Rudolf Höß als Leiter des KZ-Auschwitz. Der zweite Teil zeigt Höß‘ Versetzung nach Oranienburg, wo er die "Ungarn-Aktion" vorbereitet. Zwischen dem 15. Mai und dem 8. Juli 1944 wurden über 430.000 ungarische Juden nach Auschwitz deportiert und ein Großteil unmittelbar nach der Ankunft in Gaskammern ermordet. Dieser Schrecken von Höß Taten in seinem Dienst steht in einem Widerspruch zu Höß in der familiären Idylle. Wenn er nicht durchweg böse ist, wie konnte er dann ein so unbegreifliches Verbrechen begehen? Arendt stellte sich dieselbe Frage im Jahr 1961 als Journalistin für The New York Times bei dem Eichmann-Prozess. Ihre Antwort: "Die Banalität des Bösen".

Eichmann vor Gericht: "Ich habe niemals einen Juden getötet"

Adolf Eichmann war als SS-Obersturmbannführer maßgeblich für die Logistik hinter der millionenfachen Ermordung von Juden verantwortlich. Arendt veröffentlichte ihre Analyse über den Eichmann-Prozess in dem Werk "Eichmann in Jerusalem". In einem Brief an Heinrich Blücher attestiert Arendt an Eichmann "[…] nicht Dummheit, sondern Gedankenlosigkeit." Sie traf nicht auf das Monster, das sie erwartete. Vor dem Hintergrund der 15 gegen ihn erhobenen Anklagepunkte – darunter die Verursachung des Todes von Millionen von Juden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – war es für sie verblüffend, dass Eichmann so "normal" auftrat. 

Diese schwer begreifliche Kluft zwischen Täter und Tat spiegelt auch die Hauptfigur Höß im Film "The Zone of Interest" wider. Er ist ein Verbrecher wie Eichmann einerseits und "normaler" Familienvater andererseits. Das Banale an dem Bösen sind die fehlenden tiefen Beweggründe für die Taten. Eichmann etwa plädierte seinerzeit auf "nicht schuldig", da er seines Erachtens nichts mit dem Tod der Juden zu tun gehabt habe: "Ich habe nie einen Juden getötet, aber ich habe auch keinen Nichtjuden getötet – ich habe überhaupt keinen Menschen getötet", äußerte er sich in einem der Verhöre, deren Aufzeichnung Jochen von Lang verschriftlicht hat.

"Das ist so, wie der Führer gesagt hat, dass wir leben sollen"

Bei Eichmann konnte Arendt keine tieferen Beweggründe finden, die Ursprung der bösen Taten sind. Der Zuschauer von "The Zone of Interest" hat ebenfalls nicht den Eindruck, dass Höß aus einem tiefen Hass oder dergleichen handelt. Beide haben "keine bösen Wurzeln", wie es Arendt in ihrem späteren Werk "Vom Leben des Geistes" beschreibt. Ihr Handeln charakterisiert sich also durch reine Oberflächlichkeit. Sie "funktionieren" in einem totalitären System und streben danach, ihre zugeteilte Aufgabe "gut" zu erledigen: "Das ist so, wie der Führer gesagt hat, dass wir leben sollen", sagt Höß‘ Frau Hedwig.

Die bisherige Philosophie suchte immer einen Grund im Innern des Menschen für böse Taten. Nicht immer ist der Grund der Hang zum Bösen, wie bei Kant, manchmal ist er auch etwas falsch Gedachtes, was eine Leerstelle des Guten auslöst, wie bei Augustinus. Arendt verneint diesen inneren Grund und schafft mit ihrer Banalität des Bösen eine neue Definition: Nicht im inneren Denken (oder falschen Denken), sondern in der Abwesenheit des Denkens, im bloßen äußeren Mitmachen, liegt der Grund für das Böse.

Die Taten von Höß und Eichmann unterschieden sich also nicht nur quantitativ in der Zahl der Morde, sondern auch qualitativ, in der Art und Weise der Handlung.  Es handelte sich um einen gänzlich neuen Typ des Verbrechers, welchen Arendt als "Schreibtischtäter" bezeichnete. Sie kritisierte, dass der Eichmann-Prozess diesem neuen Verbrechertypus nicht gerecht wurde. Im Totalitarismus seien neue Handlungen und Verbrechen möglich, die eine neue Rechtsprechung benötigten, so Arendt in "Ideologie und Terror: Eine neue Staatsform". Der Film "The Zone of Interest" stellt Höß beispielhaft als einen Schreibtischtäter dar, der sich durch die Tiefe Kluft zwischen ihm als Täter und seinen Taten kennzeichnet.

"Brennen – Abkühlen – Entladen – Nachladen"

Höß' penibles Arbeitsethos verstört gleich zu Beginn des Filmes, als ihn die Ofenbauer, mutmaßlich von "Topf & Söhne", besuchen und ihm eine neuartige Technik zur Leichenverbrennung präsentieren. Denn, wie Höß 1946 im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess selbst sagte, nahm "das Töten selbst […] die wenigste Zeit in Anspruch, […] aber das Verbrennen kostete so viel Zeit". Deshalb sei die Devise des neuen Ofens: "Brennen – Abkühlen – Entladen – Nachladen".

Nach der Konferenz in Oranienburg zur Vorbereitung der Deportation von 700.000 Juden in der "Ungarn-Sache", kann Höß seiner Frau keine Auskunft darüber geben, wer daran teilnahm: "Ich war zu sehr damit beschäftigt, mir zu überlegen, über die Art und Weise zu vergasen. Es ist schwierig, logistisch gesehen. Wegen der hohen Decken." Das zeigt, wie sehr Höß nur gedankenlos "funktioniert". Sein Interesse reduziert sich auf die Ausführung des Befehls in der "Judensache". Das schreckliche Ausmaß seiner Tat kann er in seiner Gedankenlosigkeit nicht fassen.

"Ich lieb‘ dich": die Liebe von Höß zu seinem Pferd

Neben diesem Schrecken zeigt Glazers Höß-Figur aber noch eine weitere Seite von ihm: ein tiefes Verhältnis zur Natur. Im Film reitet er über eine Wiese vor der Geräuschkulisse von schreienden Zwangsarbeitern. "Hörst du das?" fragt Höß seinen Begleiter. Er meint dabei nicht die Schreie, sondern das Geräusch eines Vogels: "Ein Rohrdommel. Gehört zur Familie der Reiher. Ein eurasischer Graureiher". Auch die das Lager "verschönernden" Fliederbüsche liegen ihm sehr am Herzen: "SS-Mitglieder haben beim Abschneiden der Zweige darauf zu achten, dass der Busch keinen Schaden nimmt." Damit will er sie vor dem, wie er sagt, "Ausbluten" beschützen. Zu seinem Pferd pflegt Höß eine besondere Beziehung. Das einzige "Ich lieb‘ dich" im Film richtet sich nicht an seine Frau, sondern an sein Pferd, kurz bevor er Auschwitz verlässt.

Höß‘ Sinn für die Ästhetik der Natur steht dem Horror von Auschwitz perfide gegenüber. Seine Gedankentiefe gegenüber der Natur steht im starken Gegensatz zu seiner Gedankenlosigkeit gegenüber den Menschen im Lager. Er ist eine Figur voller menschlicher Widersprüche. Der Film macht es seinen Zuschauern nicht einfach: Es ist unmöglich, Höß schlicht als durchweg böse zu betrachten.

Hoffnung auf: Nie wieder

In der letzten Filmsequenz begleitet ihn der Zuschauer auf dem Weg aus seinem Büro in Oranienburg. Höß ist der letzte im Gebäude, nur noch ein kaltes Licht leuchtet die Treppen aus. Er stoppt auf der Treppe und übergibt sich.

Dann bricht die Zeit: Zu sehen sind Putzkräfte, die das heutige Museum von Auschwitz pflegen. Entlang eines langen Ganges sind Koffer und Schuhe – darunter von Kindern – aufgetürmt. Das Ausmaß von Höß‘ Taten schlägt dem Zuschauer ins Gesicht.

Ein letztes Mal zeigt die Kamera Höß auf dem kalten Gang. Er schaut in die Kamera, als hätte er in das Auschwitz-Museum geblickt. Als hätte er das Ausmaß seiner Taten begriffen, wovon ihm übel wird. Die Szene entlässt den Zuschauer mit einem Zweifel: Dem Zweifel daran, ob Höß seine Verbrechen tatsächlich in völliger Gedankenlosigkeit beging.

Während Hannah Arendt Eichmann klar die Banalität, die fehlende Tiefe des Bösen, attestierte, scheint die Höß-Figur in "The Zone of Interest" sich noch einen Teil ihres Denkvermögens bewahrt zu haben. Er scheint im tiefen Inneren das Ausmaß seiner Taten begreifen zu können. Er ist noch ein denkendes Individuum, das umkehren und seine Handlungen ändern kann.

Das macht Hoffnung. Hoffnung im Angesicht der Auschwitz-Relikte. Hoffnung darauf, dass ein Einzelner auch im Terror des totalitären Nationalsozialismus sein Denkvermögen bewahren kann. Hoffnung darauf, dass die unerträgliche Kluft zwischen Täter und Tat noch von ihm selbst überwunden werden kann, indem er seine Taten anerkennt. Das macht Hoffnung auf: Nie wieder.

 

Finn Zappel studiert Philosophie und Französisch in einem binationalen Studienprogramm der Deutsch-Französischen Hochschule zwischen der Johannes-Gutenberg Universität Mainz und der Université de Bourgogne in Dijon. Er engagiert sich außerdem als Juniorbotschafter des Deutsch-Französischen Jugendwerks für die Region Burgund Franche-Comté.

Zitiervorschlag

Auschwitz-Drama "The Zone of Interest": Familienidylle neben dem KZ . In: Legal Tribune Online, 09.03.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54063/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

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