Rechtsphilosophie: Ein böses Wort zum Wahlsonntag

von Martin Rath

22.09.2013

2/2: Hegel gegen die Wahlverdrossenheit

Zu den angenehmen Eigenschaften eines Wahlsonntags zählt zwar, dass die Vertreter der Auffassung, der Staat sei eine ungerechte Räuber-Veranstaltung, spätestens gegen 18 Uhr damit aufhören, diese These als Rechtfertigung dafür zu gebrauchen, dass sie im Laufe des Tages keinen Zettel in eine Urne geworfen haben.

Man könnte also die Laienanhänger der Staatslehre des heiligen Augustinus bei ihrer Meinung lassen, weil sie sich in den vier Jahren zwischen den Wahlen meist nicht zu Wort melden.

Gegen die Toleranz des Staatsvolks im Allgemeinen gegenüber den Nichtwählern im Besonderen spricht ein Gedankengang von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). In seinen rechtsphilosophischen Vorlesungen befasste sich Hegel eingehend mit dem Phänomen des "Pöbels". Weil Hegel, weniger als Schwabe denn als Philosoph zu den eher unverständlichen Geistern zählt, nimmt man gerne eine Schrift von Frank Ruda zur Hand, "Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der ‚Grundlinien der Philosophie des Rechts‘" (Konstanz, 2011).

Selbstverständlich war es Hegel, der 1831 vielleicht an der Cholera, vielleicht an einer Alkoholgastritis verstarb, noch nicht möglich, Nichtwähler unter dem Begriff des "Pöbels" zu subsumieren. Wahlen konnte der König von Preußen seinerzeit noch gar nicht leiden. Doch was der Berliner Philosophiedozent Ruda über Hegels Pöbel schreibt, das passt ganz gut zur Analogiebildung:  Hegels "Pöbel", das seien nicht Menschen, die einfach nur arm sind, die ihre Bedürfnisse also nicht aus Mitteln eigener Arbeit befriedigen können, zum "Pöbel" qualifiziere sich der Arme erst, wenn er sich damit abfinde, von der Leistung anderer zu leben.

Nichtwähler als "politischer Pöbel"

Aber Vorsicht, das geht noch weiter! Schon bei Hegel ging es nicht allein gegen jene armen Leute, die sich mit einem "arm, aber sexy" abfanden. Der Rechtsphilosoph entdeckte auch einen "reichen Pöbel", der sich aus Menschen rekrutiert, die statt von Arbeit vom bloßen Zufall leben – den Spielern. Hegel hätte es vermutlich gar nicht gefallen, dass im Jahr 2002 spekulative Börsengeschäfte legalisiert wurden, die von den Vätern des Bürgerlichen Gesetzbuchs noch als Spiel betrachtet wurden. Hierzulande hat das diesen "Pöbel" seit 2002 wohl stark vermehrt.

Kurz, es gibt rechtsphilosophisch einen materiell armen ebenso wie einen reichen Pöbel. Was sie gemeinsam haben, ist die Gesinnung, an einem zentralen Prozess der Gesellschaft nicht teilnehmen zu wollen. Gesinnung ist die tief ins Verhalten, wenn nicht den Charakter eingefleischte Haltung.

Hier könnte man mit der Analogie ansetzen. Es mag sein, dass Hegel, der als preußischer Professor zu den ersten schwäbischen Immigranten im modernen Berlin zählte, heute nicht mehr die allererste Quelle rechtsphilosophischer oder staatsrechtlicher Begriffsbildung ist. Materielle Armut zu denunzieren, das wird man nicht wollen.

Aber wäre es nicht ein Beitrag zur sprachlichen Klarheit, würde man die Nichtwählerinnen und Nichtwähler – statt stets nur den "Legitimationsverlust" der Wahlen zu beklagen und die Wahlverweigerung damit als soziologische Gegebenheit hinzunehmen – als "politischen Pöbel" bezeichnen? Wenn nicht in der Sprache des Gesetzes, so doch in jener der philosophischen Staatslehre?
Leider ist es ja eher unwahrscheinlich, dass sich ein solches Sprachspiel durchsetzt. Dabei würden die Eltern-Kind-Fragespiele zum merkwürdigen Ritual an Wahlsonntagen wirklich interessant:

"Du hast gewählt. Bist du zufrieden?"

"Ja."

"Warum?"

"Ich bin zur Wahl gegangen."

Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Rechtsphilosophie: Ein böses Wort zum Wahlsonntag . In: Legal Tribune Online, 22.09.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9599/ (abgerufen am: 18.05.2024 )

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