"Was ist eigentlich das Staatsvolk?", lautet eine Kinderfrage, auf die Juristen manchmal auch eine sehr kindliche Antwort geben. "Wenn jemand nicht zur Wahl geht, gehört er dann auch zum Staatsvolk?" – die Frage ist schon schwieriger. Eine nicht ganz ernsthafte rechtsphilosophische Nichtwählerbeschimpfung von Martin Rath.
Welch kindliche Antworten selbst große Denker auf bedeutende Fragen zur Welt, zur Philosophie und zu den Dingen überhaupt geben, erzählt der Philosoph Hans Blumenberg (1920-1996) in seinem ziemlich wunderbaren Büchlein "Begriffe in Geschichten" (Frankfurt/Main, 1998). Fragt das Kind: "Woher kommt es, daß die elektrische Eisenbahn fährt?", erhält es die Antwort: "Durch den Strom." Auf die Nachfrage: "Woher kommt der Strom?", geht das Spiel über die Steckdose, das Geld zum Strombezahlen, die Bank und Zentralbank zum Staat und woher der eigentlich das Geld bekommt, worauf Blumenbergs Beispiel-Eltern antworten: "Von mir."
Wer würde nicht gerne Mäuschen sein bei den Frage-Antwort-Spielen, die Kinder mit ihren Eltern am Wahlsonntag anstrengen. Bei der Frage nach der Staatsgewalt, der Demokratie und diesen ganzen staatsrechtlichen und -philosophischen Dingen überhaupt, wird die Antwort am Ende wohl sehr oft lauten: "Von mir."
Zirkuläre Antworten geben, darf man das?
Das pädagogische Spiel mehr oder weniger zirkulärer Erklärungen fiele nicht weiter ins Gewicht, fände man es nicht auch in zentralen Fragestellungen der Rechtswissenschaft wieder. Klaus Stern, der prominente Staatsgelehrte, formuliert beispielsweise in seinem Werk "Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland" (Band 1, § 8, 2. Auflage, 1984): "Aus der Souveränität des Staates folgt sein Recht, die Bedingungen der Angehörigkeit zu ihm zu regeln. Staatsangehörigkeit ist ein Bestandteil der inneren Angelegenheiten des Staates; durch sie wird das Staatsvolk konstituiert und der Träger der Souveränität formiert."
Will wohl sagen: Die Staatsgewalt begründet das Staatsvolk, das Staatsvolk begründet die Staatsgewalt. Und weil es damit vor lauter Kraft nicht mehr gut laufen kann, muss das Staatsvolk irgendwo bleiben, ein drittes Element kommt hinzu: das Staatsgebiet. Juristen sprechen von der Drei-Elemente-Lehre der Staatsrechtswissenschaft und benennen ehrfürchtig einen der Ihren, den Heidelberger Professor Georg Jellinek (1851-1911), als Entdecker dieser etwas zirkulären Übung.
Man muss auch einfach daran glauben – muss man?
Hans Blumenberg lässt das zirkuläre Enträtseln der Welt mit einem letzten Frage-Antwort-Paar enden, diesmal fragt der Vater bzw. die Mutter zuerst: "Zufrieden?" Das erschöpfte Kind antwortet: "Ja, ziemlich."
Die auf Georg Jellinek zurückgehende, ziemlich zirkuläre Erklärung des Staates lebt auch davon, dass die Leute auf die Frage, ob sie zufrieden seien, sagen: "Ja, ziemlich." Was wollen aber Menschen sagen, die alle vier Jahre an einem zentralen Ritual dieses Staates nicht teilnehmen?
Die Beteiligung an Bundestagswahlen lag 1949 bei rund 78 Prozent, im Jahr 2009 bei gut 70 Prozent, selbst in Zeiten, in denen der wahlberechtigte Teil des Staatsvolks sich scharf nach links und rechts orientierte – 1972 und 1976 – blieb rund jeder Zehnte der Urne fern. Als Kinderfrage formuliert: "Wenn jemand nicht zur Wahl geht, will er dann überhaupt dazugehören?"
Kommt es darauf an, dass nicht nur Staatsrechtsprofessoren und andere Juristen an den Zirkel der drei Elemente glauben, sondern auch der einfache Mensch, der sich der Stimmabgabe verweigert? Viele, die nicht zur Wahl gehen, scheinen ziemlich unzufrieden zu sein. Befragt, woran das liege, kommt oft das Gefühl zum Ausdruck, effektiv keinen Einfluss auf das Staatsgeschick nehmen zu können. Ein berühmter Parteienrechtler, Hans Herbert von Arnim, gab dieser Gefühlslage einen populären Ausdruck, als er 1993 über die politischen Parteien schrieb, sie hätten sich den "Staat als Beute" genommen.
Augustinische Wahlverweigerung aus der Laiensphäre
Der Staat sei die Beute intransparenter Mächte, der Parteien, Geheimdienste oder "der Wirtschaft". Gut möglich, dass sich viele Nichtwähler der Staatstheorie des antiken Theologen und Philosophen Augustinus von Hippo verpflichtet fühlen, der im 4. Jahrhundert fragte: "Was anderes sind also Reiche, wenn ihnen Gerechtigkeit fehlt, als große Räuberbanden? Sind doch auch Räuberbanden nichts anderes als kleine Reiche. Auch da ist eine Schar von Menschen, die unter Befehl eines Anführers steht, sich durch Verabredung zu einer Gemeinschaft zusammenschließt und nach fester Übereinkunft die Beute teilt."
Diesen Gedankengang kann man mit einem juristischen Mittel aus dem Strafrecht leicht einordnen. Kennt ein Verbrecher zwar nicht den Wortlaut des Gesetzes, wohl aber die Verbotenheit seines Handelns, spricht der Jurist von der "Parallelwertung in der Laiensphäre". Der Nichtwähler, der in der Republik eine von ungerechten, intransparenten Mächten regierte Räuberbande sieht, gleicht hier intellektuell dem Verbrecher: Er kennt die Drei-Elemente-Lehre zwar nicht, würde auf Befragen doch zugeben müssen, dass er – wenn auch unwillig – zum Staatsvolk zählt, solange er sich auf einer Fläche bewegt, in der ihn andere zu ihrer Bande zählen. Nur, dass es eben nicht gerecht zugeht.
2/2: Hegel gegen die Wahlverdrossenheit
Zu den angenehmen Eigenschaften eines Wahlsonntags zählt zwar, dass die Vertreter der Auffassung, der Staat sei eine ungerechte Räuber-Veranstaltung, spätestens gegen 18 Uhr damit aufhören, diese These als Rechtfertigung dafür zu gebrauchen, dass sie im Laufe des Tages keinen Zettel in eine Urne geworfen haben.
Man könnte also die Laienanhänger der Staatslehre des heiligen Augustinus bei ihrer Meinung lassen, weil sie sich in den vier Jahren zwischen den Wahlen meist nicht zu Wort melden.
Gegen die Toleranz des Staatsvolks im Allgemeinen gegenüber den Nichtwählern im Besonderen spricht ein Gedankengang von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831). In seinen rechtsphilosophischen Vorlesungen befasste sich Hegel eingehend mit dem Phänomen des "Pöbels". Weil Hegel, weniger als Schwabe denn als Philosoph zu den eher unverständlichen Geistern zählt, nimmt man gerne eine Schrift von Frank Ruda zur Hand, "Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der ‚Grundlinien der Philosophie des Rechts‘" (Konstanz, 2011).
Selbstverständlich war es Hegel, der 1831 vielleicht an der Cholera, vielleicht an einer Alkoholgastritis verstarb, noch nicht möglich, Nichtwähler unter dem Begriff des "Pöbels" zu subsumieren. Wahlen konnte der König von Preußen seinerzeit noch gar nicht leiden. Doch was der Berliner Philosophiedozent Ruda über Hegels Pöbel schreibt, das passt ganz gut zur Analogiebildung: Hegels "Pöbel", das seien nicht Menschen, die einfach nur arm sind, die ihre Bedürfnisse also nicht aus Mitteln eigener Arbeit befriedigen können, zum "Pöbel" qualifiziere sich der Arme erst, wenn er sich damit abfinde, von der Leistung anderer zu leben.
Nichtwähler als "politischer Pöbel"
Aber Vorsicht, das geht noch weiter! Schon bei Hegel ging es nicht allein gegen jene armen Leute, die sich mit einem "arm, aber sexy" abfanden. Der Rechtsphilosoph entdeckte auch einen "reichen Pöbel", der sich aus Menschen rekrutiert, die statt von Arbeit vom bloßen Zufall leben – den Spielern. Hegel hätte es vermutlich gar nicht gefallen, dass im Jahr 2002 spekulative Börsengeschäfte legalisiert wurden, die von den Vätern des Bürgerlichen Gesetzbuchs noch als Spiel betrachtet wurden. Hierzulande hat das diesen "Pöbel" seit 2002 wohl stark vermehrt.
Kurz, es gibt rechtsphilosophisch einen materiell armen ebenso wie einen reichen Pöbel. Was sie gemeinsam haben, ist die Gesinnung, an einem zentralen Prozess der Gesellschaft nicht teilnehmen zu wollen. Gesinnung ist die tief ins Verhalten, wenn nicht den Charakter eingefleischte Haltung.
Hier könnte man mit der Analogie ansetzen. Es mag sein, dass Hegel, der als preußischer Professor zu den ersten schwäbischen Immigranten im modernen Berlin zählte, heute nicht mehr die allererste Quelle rechtsphilosophischer oder staatsrechtlicher Begriffsbildung ist. Materielle Armut zu denunzieren, das wird man nicht wollen.
Aber wäre es nicht ein Beitrag zur sprachlichen Klarheit, würde man die Nichtwählerinnen und Nichtwähler – statt stets nur den "Legitimationsverlust" der Wahlen zu beklagen und die Wahlverweigerung damit als soziologische Gegebenheit hinzunehmen – als "politischen Pöbel" bezeichnen? Wenn nicht in der Sprache des Gesetzes, so doch in jener der philosophischen Staatslehre?
Leider ist es ja eher unwahrscheinlich, dass sich ein solches Sprachspiel durchsetzt. Dabei würden die Eltern-Kind-Fragespiele zum merkwürdigen Ritual an Wahlsonntagen wirklich interessant:
"Du hast gewählt. Bist du zufrieden?"
"Ja."
"Warum?"
"Ich bin zur Wahl gegangen."
Der Autor Martin Rath arbeitet als freier Journalist und Lektor in Köln.
Martin Rath, Rechtsphilosophie: Ein böses Wort zum Wahlsonntag . In: Legal Tribune Online, 22.09.2013 , https://www.lto.de/persistent/a_id/9599/ (abgerufen am: 24.05.2024 )
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