Psychoanalyse: Das "Unter­be­wusst­sein" vor Gericht

von Martin Rath

18.02.2024

Es mochten Kritiker noch so sehr gegen Freud ätzen: Seit die Psychoanalyse vor gut 100 Jahren populär wurde, hinterließ sie ihre Spuren auch in der Justiz. Teils kurios ist, wie Gerichte glaubten, ins Innere der Angeklagten sehen zu können.

Sein Spott über die ungeheuer populäre Mode der Psychoanalyse des Sigmund Freud (1856–1939) oder das, was man seinerzeit aus ihr machte, hat Karl Kraus einen Platz im kollektiven Gedächtnis gesichert.

Zum geflügelten Wort wurde sein Aphorismus, wonach die Psychoanalyse jene Geisteskrankheit sei, für deren Therapie sie sich halte – einigermaßen zu Recht, beschreibt er damit doch eine kassenwirksame Grundmodalität vieler Tätigkeiten nicht nur im psychologisch begründeten Beratungs-, Consulting- oder Coaching-Geschäft der modernen Gesellschaft.

Zwar hätte der berühmte österreichische Publizist Kraus (1874–1936) es auch wegen seiner justizkritischen Schriften oder seines erstaunlich großen Einflusses auf die Sprachphilosophie verdient, von jeder Generation im deutschsprachigen Raum neu entdeckt zu werden.

Bekannt bleibt aber vor allem seine scharfe Polemik gegen den Versuch, die menschliche Geistestätigkeit mit der Freud’schen Lehre und ihren populär gewordenen Elementen erklären zu wollen – unter anderem der Traumdeutung, der Fixierung auf frühkindliche Erinnerungen, dem Ödipuskomplex oder der dämonischen Wirkungsmacht des Unbewussten, volkstümlich gern "Unterbewusstsein" genannt.  

Über die Mode, die eigenen, meist bürgerlichen Kinder mit seelenkundlichen Mitteln verstehen zu wollen, schrieb Kraus schon im Jahr 1912: "Kinder psychoanalytischer Eltern welken früh. Als Säugling muß es zugeben, daß es beim Stuhlgang Wollustempfindungen habe. Später wird es gefragt, was ihm dazu einfällt, wenn es auf dem Weg zur Schule der Defäkation eines Pferdes beigewohnt hat. Man kann von Glück sagen, wenn so eins noch das Alter erreicht, wo der Jüngling einen Traum beichten kann, in dem er seine Mutter geschändet hat."

Psychoanalytische Mode kam auch in der Juristerei an

In der kurzen Zeit der Weimarer Republik (1919–1933) fiel das selbstbewusste Marketing des Wiener Mediziners Freud gleichwohl auf fruchtbaren Boden.  

In dem Aufsatz "Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse" hatte er sich im Jahr 1917 alles andere als bescheiden in eine Reihe mit Nikolaus Kopernikus und Charles Darwin gestellt. Der polnisch-deutsche Astronom Kopernikus hatte, so Freud, der Menschheit eine "Kränkung" zugefügt, indem er der Erde ihren Platz im Zentrum des Kosmos nahm. Durch Darwin sei sie gekränkt worden, weil er den Menschen zum bloßen Produkt der Evolution biologischer Systeme degradiert hatte. Für die Psychoanalyse reklamierte Freud, sie füge der Menschheit eine weitere Kränkung zu, und zwar durch die "Entdeckung", dass der Mensch wegen der unbewussten Triebkräfte seines psychischen Apparats nicht "Herr im Haus" seines eigenen intellektuellen und seelischen Vermögens sei.

Es war in den 1920er-Jahren nicht zu erwarten, dass Juristen, die damals noch nahezu geschlossen männliche Akademiker aus dem vermögenden Bürgertum waren, sich für solche Ideen allzu aufgeschlossen zeigten.

Eine frühe, überraschende Ausnahme machte der sächsische Justizjurist Curt du Chesne, der im "Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie" (1927, Band 20, S. 630) vorschlug, § 282 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) mit einer Analogie zur Lehre Sigmund Freuds zu verstehen.

Im schwierigen alten Unmöglichkeitsrecht spukte das Unterbewusstsein?

In seiner ursprünglichen, zum 1. Januar 2002 beseitigten Form war diese Vorschrift Teil des intellektuell ebenso anregenden wie hoffnungslosen Unmöglichkeitsrechts, mit dem die Schöpfer des Bürgerlichen Gesetzbuchs sich bei Generationen von Studierenden der Rechtswissenschaft unbeliebt gemacht hatten. Das Gebiet bot sich also für einen philosophierenden Landgerichtsdirektor aus Dresden an. Im Wortlaut hieß es: "Ist streitig, ob die Unmöglichkeit der Leistung die Folge eines von dem Schuldner zu vertretenden Umstandes ist, so trifft die Beweislast den Schuldner."

Curt du Chesne fasste die hier einschlägige psychoanalytische Lehre griffig damit zusammen, ihr zufolge liege der "gemeinsame Charakter von Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglauben und Irrtum" in der – er zitiert hier Freud – "Rückführbarkeit der Phänomene auf unvollkommen unterdrücktes psychisches Material, das, vom Bewußtsein abgedrängt, doch nicht jeder Fähigkeit, sich zu äußern, beraubt worden sei".

Damit hat man eine knackige Definition dessen zur Hand, was bei Freud das Unbewusste oder das "Es" heißt. In der populären Küchenpsychologie spukt es als ein "Unterbewusstsein" umher, das Menschen etwa zu "Freud'schen Versprechern" animiert.

Landgerichtsdirektor du Chesne schlug vor, § 282 BGB a.F. analog zur Lehre Freuds zu verstehen: Die gesetzliche Vermutung, dass der Schuldner im Streitfall die Unmöglichkeit der Leistung verschuldet habe, lasse sich psychologisch "wohl damit rechtfertigen, daß der Schuldner die Unmöglichkeit wenigstens im Unterbewußtsein, wenn auch verdrängt, gewollt und somit, wenigstens subjektiv, verschuldet habe."

Der historische Gesetzgeber könnte sich, so spekulierte Curt du Chesne, "und zwar aus dem Rechtsunterbewußtsein heraus", zu dieser Vorschrift motiviert gefühlt haben.

Freud geht ins Exil, die Küchenpsychoanalyse bleibt

Mit einer offenen Diskussion derart spekulativer Ideen, die ja selbst dann produktiv sein können, wenn sie auf einem Irrtum beruhen, war es bekanntlich mit der Machtübergabe vom 30. Januar 1933 vorbei.

Unter den schon vor 1933 für den Antisemitismus anfälligen deutschen Medizinern wurden die Lehren Sigmund Freuds nun ohne jede sachliche Auseinandersetzung inopportun. Berlin verlor seinen Rang als eines der internationalen Zentren der psychoanalytischen Praxis und Lehre. Führerkult und völkisches Denken in den staatsnahen Berufen verdrängten das Bedürfnis, die Chancen seelischer Autonomie – wenn auch nur mit den unzureichenden Mitteln der Psychoanalyse – auszuloten.

Soweit die psychotherapeutische Forschung nicht unterdrückt wurde, wurde sie unter der Leitung von Matthias Heinrich Göring (1879–1945), einem Vetter des NS-Politikers und Menschheitsverbrechers Hermann Göring (1893–1946), gleichgeschaltet.

Die jedenfalls auf küchenpsychologischem Niveau erstaunliche Popularität der Lehren Sigmund Freuds hatte jedoch einen Grund, der sich der totalitären Ideologie des NS-Staates entzog, sie jedenfalls gut "überwintern" konnte: Freud hatte in seinem Konzept des "Unbewussten" auf eine teils jahrhundertealte, teils erst in der deutschen Romantik des frühen 19. Jahrhunderts entfaltete Ideenwelt zurückgegriffen, in der man sich etwa das "Unheimliche", also die seelischen Triebkräfte außerhalb des bewussten Zugriffs der Reflexion, bereits zu erklären versucht hatte.

Seit den 1950er-Jahren taumelt das Unterbewusste wieder durch die Gerichte

Als eine Option, sich das menschliche Verhalten jenseits der bewussten Reflexion zu erklären, kam das Unbewusste nach der Wiederherstellung einer liberalen deutschen Republik im freien Teil Deutschlands seit den 1950er-Jahren erstaunlich oft wieder zu forensischen Ehren – auch in der küchenpsychologischen Semantik, also als "Unterbewusstsein".

Hier müssen fünf Beispiele genügen, jede handelsübliche Datenbank fördert aber eine Vielzahl juristischer Fälle aus dem seelischen Dunkelfeld Deutschlands ans Licht.

Der Bundesdisziplinarhof (BDH) entschied mit Urteil vom 9. Dezember 1958 zugunsten eines damals 52 Jahre alten Zollbeamten, dem vorgeworfen wurde, mit einer homosexuellen Liebesaffäre unter anderem einen Kollegen bevorzugt und den guten Ruf seiner Dienststelle bedroht zu haben. Den beiden Männern attestierte der psychologische Sachverständige, sie seien keine "typischen Homosexuellen", das "erotische Moment" bleibe bei Menschen wie ihnen "meistens zunächst im Unterbewußtsein. Dank einer im Grunde normalen Veranlagung der beiden habe es nie die Kraft, aus diesem latenten Zustand hervorzutreten".

Das Urteil dokumentiert neben einem sehr unangenehmen Interesse an intimen Bedürfnissen von Beamten geradezu idealtypisch eine küchenpsychologische Dampfkesseltheorie: Solange der "steuernde stärkere Intellekt" der Ich-Instanz die niederen Bedürfnisse der Es-Instanz, des Unterbewusstseins, im Griff hält, muss Vater Staat die Zucht und Ordnung nicht mit harter Hand wiederherstellen (BDH, Urt. v. 09.12.1958, Az. I D 54/57).

Inhalt des Dampfkessel-Unterbewusstseins, juristisch fein abgeschmeckt

Im Dampfkessel des Unterbewusstseins unentdeckt vor sich hin kochen durfte natürlich auch das heterosexuelle Begehren, das sich, sobald das Ventil durch Alkohol und lange Trennung von der Familie hinreichend gelockert hatte, in exhibitionistischem Handeln Erleichterung verschaffte (vgl. BDH, Urt. v. 08.05.1957, Az. I D 49/56).

Im Fall eines Geistlichen aus Rheinhessen, der in den frühen 1960er Jahren ein starkes Interesse und deutlich übergriffiges Verhalten gegenüber der zwölfjährigen Tochter einer alleinerziehenden Mutter aus der Nachbarschaft an den Tag gelegt hatte, kam das Landgericht Mainz zu einer feinsinnigen Würdigung seiner "sexuellen Neugier", der aber nach richterlicher Auffassung die strafwürdige "wollüstige Absicht" fehlte, weil sie "möglicherweise nur im Unterbewußtsein gewirkt" habe und ihm nicht bewusst geworden sei. Unzüchtiges Verhalten sei damit nicht bewiesen. Der Bundesgerichtshof (BGH) verwarf die Revision der Staatsanwaltschaft mit Urteil vom 8. Dezember 1966 (Az. 1 StR 448/65).

Kein Konsens, was man dem Unterbewusstsein entnehmen kann

Es fehlte sichtlich ein Konsens dazu, welche Erkenntnisse der Richter oder der von ihm bestellte Gutachter der seelischen Instanz des "Unterbewusstseins" zur Überzeugung des Gerichts entnehmen darf.

Einerseits zeigte sich der 1. Zivilsenat des BGH mit Urteil vom 4. Juli 1961 zurückhaltend. In dem Streit ging es um die Frage, welche ästhetische, also geschmacksmusterrechtliche Herkunft eine Serie prominenter Straßenlaternen in München hatte. Das Gericht befand hier nüchtern, dass sich "Zeugen und auch Parteien nur auf ihr tatsächliches Wissen" berufen, "nicht aber Vorgänge bekunden" könnten, "die sich in ihrem Unterbewußtsein abgespielt haben und daher nicht in ihr Wissen eingedrungen" seien (Az. I ZR 102/59).

Andere Richter wussten hingegen ganz genau, womöglich dank eigener Seelenschau aus Zeiten ihres Wehrdienstes, was das Unterbewusstsein hergab, zum Beispiel: väterliche Gefühle. Ein Verpflegungsunteroffizier war beschuldigt worden, während eines NATO-Manövers eine Menge Lebensmittel entwendet zu haben, darunter etliche Büchsen Erbsen, Karotten, Ölsardinen, mehrere Pfund Puddingpulver und zwei Kohlköpfe. Während bei der Bundeswehr sonst notorisch Alkohol, Zigaretten oder Treibstoffe für den privaten Verbrauch abgezweigt wurden, waren es hier – untypisch – Lebensmittel, weshalb das Gericht im Unterbewusstsein des Soldaten die Zuneigung eines Vaters für seine darbende Familie vermutete (BDH, Urt. v. 13.01.1965, Az. II (I) WD 119/64).

Semantik schwindet, die Probleme bleiben

Seit den 1970er-Jahren wird die Vokabel "Unterbewusstsein" allem Anschein nach seltener in juristischen Entscheidungen oder Verteidigungsstrategien genutzt.

Möglicherweise beruht der Rückgang darauf, dass die scharfe Kritik wirksam wurde, wie sie etwa der große Journalist Dieter E. Zimmer (1934–2020) am "Tiefenschwindel" der Psychoanalyse einem breiten Publikum zugänglich machte.

Vermutlich entwickelte sich aber das von Curt du Chesne 1927 entdeckte "Rechtsunterbewusstsein" nur rhetorisch weiter. Denn in den vergangenen 50 Jahren hat die seriöse wie scharlatanistische Psycho-Beratungsindustrie in Deutschland einen erheblichen Aufschwung erlebt – sogar wer glaubt, hart im Wind der "Realitäten" zu segeln, jammert heute bevorzugt die Sozialen Medien voll, sein heimliches Über-Ich verstehe ihn oder seine Welt nicht richtig.

Und wenn zu viele Menschen ihre seelischen Innereien als "Unterbewusstsein" in die Öffentlichkeit tragen, verbietet natürlich schon das juristische wie medizinische Renommee, die Vokabel weiter zu gebrauchen.

Zitiervorschlag

Psychoanalyse: Das "Unterbewusstsein" vor Gericht . In: Legal Tribune Online, 18.02.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53888/ (abgerufen am: 27.04.2024 )

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