Paragraph 175 Strafgesetzbuch: Entmannte Haremsrichter

von Martin Rath

15.06.2014

2/2: Norbert Geis fühlt sich von Bolschewistin geschmeichelt

Auf die Bundestagsdebatten, wenn man denn von "Debatten" sprechen darf, die zwischen 1991 und 1994 zur Aufhebung des § 175 StGB führten, lohnt es sich aber vielleicht doch, einen zweiten Blick zu werfen. Erstens, weil diese parlamentarischen Beratungen die heutige Politik-, Parteien- und/oder Parlamentarismus-Müdigkeit relativieren helfen: Der Bundestag beriet 1994 über die Abschaffung einer über 120 Jahre hinweg höchst umstrittenen Norm mit weniger Temperament als es wohl eine Sparkassenfilialleiterversammlung bei der Wahl neuer Sparschweinfarben aufbrächte. In den stenographischen Berichten ist etwa nachzulesen, dass sich die Abgeordneten nicht entblödeten, ganze Absätze ihrer Reden aus der ersten Beratung wortgleich in der zweiten Beratung von neuem vorzutragen (Plenarprotokolle 12/41, 12/153 und 12/216).

Zweitens gibt es, immerhin, komische Momente. Bolschewikin trifft Kohlenkeller: Die im sowjetischen Rostow am Don studierte, in Leipzig gewählte Abgeordnete Dr. Barbara Höll (SED/PDS/Linke) referiert über die Geschichte der Homosexualität respektive ihrer strafrechtlichen Verfolgung in Bayern. Mit dem Feuerbach’schen Strafgesetzbuch waren dort homosexuelle Handlungen 1810 straffrei gestellt worden, was den CSU-Abgeordneten Norbert Geis zum Zwischenruf bewegte: "So fortschrittlich waren die Bayern schon immer!" Das verwundert insofern, als dieser strikt katholische Politiker im Übrigen stets hart an seinem Ruf arbeitete, so schwarz zu sein, dass er noch im Kohlenkeller Schatten wirft.

Rechtspolitisch bleibt, dritte Lektüreeinladung, die Aufhebungsdebatte um den § 175 interessant, weil er einige "Hausnummern" weiter eine partielle Wiedergeburt erlebte. Dass die Norm nicht bereits in den 1970er-Jahren ihr Ende zugunsten einer einheitlichen strafbewehrten Altersgrenze fand, die Jugendliche gegen sexuelle Interessen Erwachsener schützt, war auf die Annahme zurückzuführen, homosexuelle Männer könnten Heranwachsende zu einer regelwidrigen Sexualität "verführen". Ganz aufgegeben wurde diese Verführungsidee 1994 nicht, geschlechtsneutral formuliert findet sie sich § 182 Abs. 3 StGB wieder. In den stenographischen Berichten eiern die Volksvertreter zu diesem Aspekt derart spekulativ herum, dass es zu glauben schwerfällt, angehende Juristen lernten zur Interpretation der Gesetze tatsächlich auch eine "Auslegung nach dem Willen des Gesetzgebers".

Keine Angst, was "gefügige Haremsrichter" betrifft

Apropos "angehende Juristen": Eine Erklärung steht noch aus, warum dieser Text mit den unappetitlichen Ideen eines 25-jährigen Doktors der Rechtswissenschaft seinen Anfang nimmt, dessen Überlegungen darauf hinausliefen, erstens sogenannten Berufsverbrechern und zweitens, kraft seines höherwertigen Rassenbewusstseins, gern auch einer möglichst großen Zahl homosexueller "Volksgenossen" die Hoden herauszuschneiden. Und natürlich, was das mit "entmannten Haremsrichtern" zu tun haben soll.

Zunächst zur Beruhigung: Hans Puvogels Dissertation über "Die leitenden Grundgedanken bei der Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher" bewegt sich – gemessen selbst an anderen fragwürdigen Arbeiten dieser Zeit – auf dem Niveau märchenhaft belegter Argumente. Von kastrierten "Haremswächtern" im Orient hat man schon gehört. An anderer Stelle konstruiert er nicht ganz stilsicher entmannte Frauen. Die Schrecken orientalischer Herrschaft illustriert Puvogel anhand von "gefügigen Haremsrichtern" und hat sich dabei wohl einfach nur vertippt – das kann bei einer rund 100.000 Anschläge umfassenden Dissertation ja schon mal passieren.

Trotz seiner an Geist, Anstand und Umfang etwas mageren Arbeit ist dann aus diesem Hans Puvogel später übrigens doch noch etwas geworden. Als Nachfolger von Ernst Albrecht diente er dem Land Niedersachsen, das bei der Besetzung dieses Amtes nicht selten wagemutig verfährt, zwischen dem 12. Mai 1976 und dem 4. Juni 1978 als Justizminister.

Autor: Martin Rath arbeitet als freier Lektor und Journalist in Köln.

Zitiervorschlag

Martin Rath, Paragraph 175 Strafgesetzbuch: Entmannte Haremsrichter . In: Legal Tribune Online, 15.06.2014 , https://www.lto.de/persistent/a_id/12264/ (abgerufen am: 29.04.2024 )

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