EuGH-Schlussanträge zu subsidiärem Schutz: Wie messbar ist Lebens­ge­fahr?

11.02.2021

Wie gefährlich muss ein Staat sein, damit in Deutschland Anspruch auf subsidiären Schutz besteht? Allein das Verhältnis der zivilen Opfern zur Gesamtbevölkerung gibt darüber keine Auskunft, findet der EuGH-Generalanwalt.

Kann die Gewährung von subsidiärem Schutz davon abhängig gemacht werden, wie viele zivile Opfer es im Verhältnis zur Bevölkerung in einer Konfliktregion gibt? Priit Pikamäe, Generalanwalt am Europäischen Gerichtshof (EuGH), findet, dass es dafür auf mehr als nur dieses Verhältnis ankommen muss. Das geht aus seinen Schlussanträgen zu einem Fall aus Deutschland hervor, die am Donnerstag veröffentlicht wurden (Rechtssache C-901/19).

Der Verwaltungsgerichtshof (VGH) Baden-Württemberg muss über die Anträge auf subsidiären Schutz von zwei afghanischen Staatsangehörigen entscheiden und hatte den EuGH um Klärung der unionsrechtlichen Kriterien gebeten. Nach Art. 15 Buchst. c der sogenannten Qualifikationsrichtline 2011/95/EU sind Ausländer subsidiär schutzberechtigt, wenn ihnen eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts droht. 

In der Vorlage an den EuGH verwies der VGH auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) zur Beurteilung der ernsthaften individuellen Bedrohung. Das BVerwG setze für diese Beurteilung eine quantitative Bewertung des "Tötungs- und Verletzungsrisikos" voraus, ausgedrückt durch das Verhältnis an Opfern zur Gesamtzahl der Bevölkerung in dem betreffenden Gebiet. Das ermittelte Verhältnis müsse einen bestimmten Mindestwert erreichen. 

Quantitavie und qualitative Gesamtwürdigung der Umstände

Das BVerwG hat diesen Mindestwert laut VGH zwar noch nicht beziffert, jedoch bereits entschieden, dass eine Wahrscheinlichkeit, verletzt oder getötet zu werden, von ca. 0,12 Prozent oder 1 zu 800 pro Jahr weit unter dem erforderlichen Mindestwert liege. Wenn diese Schwelle nicht überschritten werde, liege auch keine ernsthafte individuelle Bedrohung vor.  Sofern die ernsthafte individuelle Bedrohung in erster Linie von der Zahl ziviler Opfer abhängig wäre, müssten die Anträge der klagenden Männer auf subsidiären Schutz daher nach Auffassung des VGH abgelehnt werden. Der VGH will nun vom EuGH wissen, ob für die Beurteilung der Bedrohung neben der Zahl der zivilen Opfer weitere Umstände berücksichtigt werden müssen.

Der Generalanwalt schlägt dem EuGH in seinen Schlussanträgen vor, diese Frage mit ja zu beantworten. Die Regelungen der Qualifikationsrichtlinie stünden einer nationalen Praxis, die lediglich auf das Verhältnis der zivilen Opfer und der Gesamtbevölkerung abstellt, entgegen, befand Pikamäe. Die Feststellung, ob die tatsächliche Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne von Art.15 Buchst. c der Richtlinie besteht, erfordert laut Generalanwalt eine "sowohl quantitative als auch qualitative Gesamtwürdigung aller relevanten Tatsachen, die diesen Konflikt kennzeichnen". Dazu könnten unter anderem die Dauer des Konflikts, der Organisationsgrads der beteiligten Streitkräfte, die Zahl der infolge der Kampfhandlungen getöteten, verwundeten oder vertriebenen Zivilpersonen zählen.

Die Schlussanträge sind für den EuGH nicht bindend, häufig folgt der Gerichtshof ihnen aber. Ein Urteil dürfte in einigen Monaten fallen.

acr/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

EuGH-Schlussanträge zu subsidiärem Schutz: Wie messbar ist Lebensgefahr? . In: Legal Tribune Online, 11.02.2021 , https://www.lto.de/persistent/a_id/44249/ (abgerufen am: 27.03.2024 )

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