"Es beseitigt Unrecht": Was sich mit dem Selbst­be­stim­mungs­ge­setz für Betrof­fene ändert

von Dr. Max Kolter

12.04.2024

Künftig werden es trans- und intergeschlechtliche sowie nicht-binäre Personen leichter haben, ihren Geschlechtseintrag zu ändern. Kritiker sehen die Jugend in Gefahr, dabei dürfen Minderjährige gar nicht allein entscheiden.

Die äußeren Geschlechtsmerkmale entscheiden in der Praxis darüber, ob ein Mensch im Geburtenregister als männlich oder weiblich eingetragen wird. Ist eine eindeutige Zuordnung ins binäre System nicht möglich, lässt das Personenstandsgesetz (PStG) seit 2018 auch den Eintrag als "divers" zu. Was aber, wenn sich die betroffenen Personen mit dem ihnen zugewiesenen Geschlecht nicht identifizieren können? Wie lässt sich der Eintrag im Personenstandsregister ändern?  

Das regelt künftig nicht mehr das 1980 erlassene Transsexuellengesetz (TSG), sondern ein neues Selbstbestimmungsgesetz (SBGG). Der Bundestag beschloss mehrheitlich den in einigen Punkten abgeänderten Entwurf der Ampel-Koalition vom August 2023. Aus der FDP und Linken gab es Enthaltungen, mehrheitlich stimmten sie aber dafür. Gegen das Gesetz votierten Union, AfD und BSW. 

"Es ist schwer in Worte zu fassen, was dieses Gesetz für Menschen bedeutet, die jahrelang auf dessen Verabschiedung gewartet haben. Endlich die Möglichkeit zu haben, den Geschlechtseintrag ohne Begutachtung zu ändern, ist eine massive Erleichterung", sagte Kalle Hümpfner, Leitung der gesellschaftspolitischen Arbeit beim Bundesverband Trans*, auf LTO-Anfrage. Das Gesetzgebungsverfahren bezeichnete Hümpfner als "emotionale Achterbahnfahrt und Belastungsprobe – für jede Person, die auf die Neuregelung wartet, aber auch für die queeren Communities allgemein".

Mit dem SBGG wird die Möglichkeit, den Geschlechtseintrag zu ändern, erheblich vereinfacht. Für Minderjährige trifft das Gesetz differenzierte Regelungen – und wird dafür von Befürwortern wie Gegnern der Reform kritisiert.

Einfache Erklärung statt zwei Gutachten 

Künftig genügt eine einfache Erklärung gegenüber dem Standesamt, um den Geschlechtseintrag zu ändern. Die Person muss nur versichern, dass der neugewählte Eintrag bzw. die Streichung des bisherigen Eintrags "ihrer Geschlechtsidentität am besten entspricht und ihr die Tragweite der durch die Erklärung bewirkten Folgen bewusst ist". 

Das bislang geltende TSG erfordert demgegenüber zwei vom Gericht eingeholte psychologische Gutachten und eine entsprechende gerichtliche Entscheidung. Das ist oft kostspielig und mit unangenehmen Fragen für die Betroffenen verbunden, etwa Fragen nach der Unterwäsche, dem Masturbations- und Sexualverhalten. 

Betroffene sahen darin eine Entwürdigung und Diskriminierung. "Mit dem Selbstbestimmungsgesetz wird ihre staatliche Bevormundung und Fremdbestimmung endlich beendet", sagte der Queerbeauftragte der Bundesregierung Sven Lehmann (Grüne) am Freitag auf LTO-Anfrage. "Psychiatrische Zwangsbegutachtung und langwierige, teure Gerichtsverfahren gehören bald der Vergangenheit an", so Lehmann, der erfreut resümierte: "Nach über 40 Jahren Leid können wir bald endlich sagen: Bye Bye Transsexuellengesetz, Willkommen Selbstbestimmung!" 

Eingeschränkt wird die Möglichkeit aber durch zwei Fristenregelungen: Die betroffene Person muss drei Monate, bevor sie den Willen zur Änderung des Geschlechtseintrags und/oder des Vornamens erklärt, dies mündlich oder schriftlich beim Standesamt anmelden. Dieser Zeitraum dient laut Gesetzesbegründung als "Überlegungs- und Reflexionsfrist", er soll "nicht ernsthaft gemeinte Erklärungen verhindern sowie die Bedeutung der Änderungserklärung verdeutlichen". Zudem gilt nach einer erfolgten Änderung des Geschlechtseintrags und/oder Vornamens für eine weitere Änderung oder Rückänderung eine Sperrfrist: Erst nach einem Jahr soll eine erneute Änderung möglich sein. 

Selbstbestimmung von Kindern stärken, aber Jugendliche vor sich selbst schützen 

14- bis 18-Jährige benötigen die Zustimmung ihrer Eltern. Verweigern die Eltern die Zustimmung, entscheidet – wie in anderen privatrechtlichen Eltern-Kind-Konflikten auch – das Familiengericht; ggf. ersetzt es die Zustimmung der Eltern durch Urteil. Maßstab dabei ist das Kindeswohl. Die Eltern 14- bis 18-Jähriger dürfen sich nicht über den Willen des Kindes hinwegsetzen, die Erklärung des Willens, Geschlechtseintrag und/oder Vornamen ändern zu lassen, muss vom Kind kommen. Für unter 14-Jährige entscheiden die Eltern allein ohne Beteiligung des Familiengerichts; ist das Kind älter als vier, dürfen die Eltern aber nicht ohne das Kind entscheiden. Diese Einschränkung wurde erst nachträglich auf Kritik von Befürwortenden einer möglichst freien Selbstbestimmung ins Gesetz aufgenommen. 

Eine Pflicht zur Beratung gibt es für Volljährige nicht. Minderjährige müssen dagegen versichern, dass sie sich therapeutisch oder in der Kinder- und Jugendhilfe haben beraten lassen; einen Nachweis verlangt das Gesetz aber nicht. Auch diese Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts ist erst nachträglich ins Gesetz aufgenommen worden – auf die Kritik hin, der Regierungsentwurf schütze Jugendliche nicht genug vor Entscheidungen, die sie später bereuen könnten. 

Union, AfD und BSW reicht das nicht. Die Ampel löse mit dem Gesetz Geschlechterkategorien auf, verwirre und gefährde Kinder. "Jugendgefährdung durch Ampelpolitik" nannte Martin Reichardt (AfD) das SBGG im Rahmen der Bundestagsdebatte am Freitag. Er verwies darauf, dass die Zahl der geschlechtsangleichenden Operationen in den vergangenen Jahren erheblich angestiegen sei. Dabei stellt das SBGG in § 1 Abs. 2 klar: "Medizinische Maßnahmen werden in diesem Gesetz nicht geregelt." 

Wagenknecht: SBGG "stellt Weichen für" Geschlechts-OPs 

Sahra Wagenknecht (BSW) will das nicht als Argument gelten lassen. Das SBGG "stellt die Weichen" für operative Geschlechtsangleichungen – "und das halten wir für verantwortungslos", so Wagenknecht in ihrem Redebeitrag, der im Bundestag von so vielen Zwischenrufen begleitet wurde wie kein anderer. Sie kritisierte auch, das Gesetz würde es Männern ermöglichen, sich durch einfachen "Sprechakt" Zutritt zu Frauenschutzräumen wie Frauenhäusern zu verschaffen. 

Dass dies durch die Karenz- und Sperrfristen erschwert wird und das Gesetz in § 6 Abs. 2 ausdrücklich die Möglichkeit "unberührt" lässt, den Zugang durch Ausübung des Hausrechts anders zu regeln, darauf ging die ehemalige Linken-Politikerin nicht ein. Zudem befürworten Frauenverbände wie der Deutsche Juristinnenbund, der Deutsche Frauenrat und der Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) das Gesetz. Es geht ihnen sogar nicht weit genug: In einer Petition unter dem Titel "Ja zur Selbstbestimmung" hatten sie sich für eine weitergehende Liberalisierung der Geschlechtszuordnung ausgesprochen. Sie kritisieren etwa die Fristenregelungen sowie den Hausrechtsparagrafen. Wartefristen seien insbesondere für intergeschlechtliche Personen eine Zumutung.  

Auf die breite Zustimmung von Feminist:innen zum SBGG wies auch der Queerbeauftragte Lehmann am Freitag im Bundestag hin. Unionspolitikerin Susanne Hierl konterte, Lehmann solle sich auf der Reichstagswiese umschauen: "Dort stehen die Feministinnen und demonstrieren – und zwar dagegen." 

Daten werden nicht automatisch an Sicherheitsbehörden übermittelt 

Zudem kritisierte Hierl, dass eine Regelung, die spät in den Gesetzentwurf hineinverhandelt worden war, nun wieder gestrichen wurde: Der Entwurf sah vor, dass die Sicherheitsbehörden, darunter das Bundeskriminalamt, die Landeskriminalämter und der Verfassungsschutz, über die Änderung von Geschlechtseintrag und Vornamen automatisch informiert werden. 

Damit wollte die Ampel einer vom Bundeskriminalamt geäußerten Sorge begegnen, dass straffällige Personen mit dem Gesetz einfach ihren Namen ändern könnten, um einer Strafverfolgung zu entgehen. Entsprechend kritisch sieht Hierl die Streichung: "Kriminelle werden das ausnutzen" und damit "Deutschland unerkannt verlassen". Trans- und Frauenverbände sowie die Gesellschaft für Freiheitsrechte hatten diese Regelung massiv kritisiert. Im Fall laufender Ermittlungen könnten die Sicherheitsbehörden immer noch eine Anfrage bei der Meldebehörde stellen. Zudem erfolge auch bei Eheschließungen keine solche Datenübermittlung. 

Missbrauch soll auch im Bereich des Kriegsdienstes verhindert werden. Deshalb werden Änderungen des Geschlechtseintrags während des Spannungs- und Verteidigungsfalls sowie innerhalb von zwei Monaten davor missachtet. Hier soll es nach § 9 SBGG auf das bei der Geburt zugeschriebene Geschlecht ankommen. 

"Das Gesetz nimmt niemandem etwas weg" 

Ampel-Vertreter verteidigten das Gesetz gegen die massive Kritik aus konservativen und rechten Kreisen. "Das Selbstbestimmungsgesetz nimmt niemandem etwas weg, es beseitigt Unrecht", resümierte Anke Hennig (SPD) am Freitag im Bundestag. Denselben ersten Teilsatz sagte auch Sven Lehmann, er fügte hinzu: "Aber es macht das Leben für eine kleine Minderheit würdevoller und leichter." Auch Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) betonte am Freitag: "Die überfällige Besserstellung von transgeschlechtlichen Menschen wird nicht zu Lasten anderer gehen." 

Ob es künftig Versuche von cis Männern geben wird, das Gesetz auszunutzen, um von Frauenquoten zu profitieren oder in Schutzräume einzudringen, wird sich zeigen. Expert:innen halten dies aufgrund der Erfahrungen in anderen Ländern für unwahrscheinlich. "Weltweit haben 13 Länder ein Selbstbestimmungsgesetz bereits seit längerem und gute Erfahrungen damit gemacht, Argentinien sogar seit über zehn Jahren. Ängste und Befürchtungen des Missbrauches, die bisweilen vorgebracht werden, sind dort nicht eingetreten", hatte Grünen-Politiker Lehmann auf LTO-Anfrage im August gesagt. Auch BVT-Sprecher:in Hümpfner hatte darauf hingewiesen. 

Die FDP hatte innerhalb der Ampel-Koalition am stärksten mit sich gerungen. Mit am Ende nur zwei Enthaltungen stimmte die Fraktion am Freitag aber überwiegend für das Gesetz. Versöhnliche Worte fand Rechtspolitikerin Katrin Helling-Plahr in der Debatte: "Ich habe noch nie daran gezweifelt, eine Frau zu sein, und es fällt mir schwer nachzuvollziehen, wie es in Menschen aussieht, die sich einem anderen Geschlecht zugehörig fühlen." Sie könne mit "woke-Kultur überhaupt nichts anfangen" und wenn sie gendern müsste, "fiele mir die Zunge ab". Dennoch sei das Selbstbestimmungsgesetz richtig – "weil Menschen unterschiedlich sind". Das Leid von trans- und intergeschlechtlichen sowie nicht-binären Personen müsse man berücksichtigen, auch wenn man es nicht selbst nachfühlen könne. "Wer bin ich, dass ich dem Lebensglück dieser Menschen entgegenstehe?" 

Zitiervorschlag

"Es beseitigt Unrecht": Was sich mit dem Selbstbestimmungsgesetz für Betroffene ändert . In: Legal Tribune Online, 12.04.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/54327/ (abgerufen am: 29.04.2024 )

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