Pro & Contra Gema-Vermutung: Hilfe für Urheber oder Relikt aus der Nazizeit?

von Dr. Matthias Lausen, Dr. Günter Poll

05.11.2012

Der Ausgangspunkt der Petition mag falsch sein. Das ändert aber nichts daran, dass die Gema-Vermutung völlig zu Recht als ungerechte und unverhältnismäßige Belastung empfunden wird. Die Bitte an den Bundestag, die Berechtigung dieser Vermutung zu überprüfen und wenn möglich abzuschaffen, ist so verständlich wie nachvollziehbar, meint Günter Poll.

Die Gema-Vermutung ist eine im gesamten deutschen Rechtssystem einzigartige Beweiserleichterung, die eine vollständige Beweislastumkehr zu Lasten der Musiknutzer bewirkt. Die technische Entwicklung und die daraus folgende Veränderung der Musiknutzung hat sie obsolet gemacht. Die zugrundeliegende Annahme der Gerichte, dass die Gema aufgrund ihrer noch aus der Nazizeit stammenden Monopolstellung über nahezu das gesamte Weltrepertoire an geschützter Musik verfüge, so dass ihr diese Beweiserleichterung im Prozess zustehe, ist in einigen Bereichen von Anfang an fehl am Platz gewesen und von den Gerichten dort auch nicht angewandt worden.

So gilt die Vermutung beispielsweise nicht im Bereich der Filmmusik, weil etwa 70 bis 80 Prozent der Spielfilme aus den USA stammen und nach amerikanischem Copyright die Rechte an der Filmmusik nicht dem Urheber, sondern dem Filmstudio zustehen. Die Rechte werden daher von der Gema nicht wahrgenommen, so dass hier die normale Beweislastverteilung gilt – wer einen Anspruch geltend macht, muss beweisen, dass er ihm auch zusteht. Allerdings waren mehrere Verfahren erforderlich, um dies gegen den Widerstand der Gema höchstrichterlich durchzusetzen.

Dorf-Disko der 70er hat nichts mit Großstadt-Club gemein

Dass die Rechtfertigung der Vermutung auch nachträglich entfallen kann, lässt sich  an der Musiknutzung in Diskotheken feststellen. Gegenüber den Clubbetreibern beruft sich die Verwertungsgesellschaft weiterhin auf die Gema-Vermutung, so als ginge es in einer Großstadt-Disko im Jahr 2012 immer noch so zu, wie in einer Dorf-Disko der 70er oder 80er Jahre. Dieses sture Beharren ist ein Grund neben den völlig überhöhten Vergütungssätze, die ab dem 1. April 2013 gelten sollen, für den seit Monaten andauernden öffentlichen Protest, der für die Gema und die Aufsichtsbehörde inzwischen zum Problem gewordenen ist.

Jeder weiß, dass der Anteil der Gema-freien Musik in Diskotheken ständig steigt und mittlerweile so hoch ist, dass die Gema-Vermutung hier nicht mehr eingreifen kann, weil die ihr unterliegende Grundannahme nicht mehr zutrifft. Streitig ist insoweit nämlich nur der tatsächliche Anteil der Gema-freien Musik, der natürlich von Fall zu Fall differiert. Bei Großstadt-Diskotheken dürfte er inzwischen bei 50 bis 60 Prozent liegen.

US-amerikanisches Copyright im Internet tonangebend

Auch und vor allem im Internet konnte und kann die Verwertungsgesellschaft sich nicht auf die Gema-Vermutung stützen, weil auch hier das amerikanische Repertoire tonangebend ist. In den USA gibt es kein Nutzungsrecht, das dem in Europa vor zehn Jahren eingeführten Recht der öffentlichen Zugänglichmachung auf Abruf (§ 19a UrhG) entspricht. Vielmehr kennt das amerikanische Copyright nur das Recht der öffentlichen Wiedergabe, das Verbreitungsrecht und das Recht der mechanischen Vervielfältigung. Nur Ersteres wird in den USA von den dortigen Verwertungsgesellschaften wahrgenommen und landet durch die Gegenseitigkeitsverträge mit der Gema bei Letzterer. Die Online-Übertragung auf Abruf (Music on demand), die nach deutschem Recht unter den Begriff öffentliche Wiedergabe fällt, wird vom amerikanischen Recht aber nicht darunter gefasst, sondern als (elektronische) Verbreitung behandelt (US Court of Appeals for the 2nd circuit, Urt. v. 28.09.2010, United States vs. ASCA).

Weil das Verbreitungsrecht in den USA aber nicht auf die Verwertungsgesellschaften übertragen wird, kann es auch nicht von diesen auf die Gema weiterübertragen werden. Das verkennen die deutschen Gerichte regelmäßig, die es versäumen in solchen Fällen zur normalen Beweislastverteilung zurückzukehren.

Letztlich entscheidend ist, dass die Beibehaltung der Gema-Vermutung zu der absurden Situation führt, dass der einzelne Musiknutzer, zum Beispiel der Inhaber eines Jazzclubs oder der Betreiber einer Diskothek, vor die Wahl gestellt wird entweder einen unglaublichen Recherche- und Verwaltungsaufwand für die Klärung der Rechte zu betreiben oder aber seinen Betrieb einzustellen. Es ist für ihn nämlich schlicht unmöglich, bei jedem einzelnen Titel die Rechte der Gema festzustellen. Angesichts der fehlenden Bereitschaft der Gema, von der Vermutung zu ihren Gunsten auch nur einen Millimeter abzurücken, würde er an dieser Aufgabe scheitern, selbst wenn er hierfür eigens einen Hausjuristen einstellen würde. Angesichts der dargestellten Entwicklung sowie der riesigen "Löcher" in dem – von der Gema wider besseres Wissen als lückenlos dargestellten – Gema-Repertoire besteht dafür auch keinerlei Anlass.

Der Autor Dr. Günter Poll ist Rechtsanwalt in Oberaudorf und auf das Medien- und Urheberrecht spezialisiert. Zwischen 1973 bis 1979 war er stellvertretender Justiziar der Gema in München.

Zitiervorschlag

Dr. Matthias Lausen, Dr. Günter Poll, Pro & Contra Gema-Vermutung: Hilfe für Urheber oder Relikt aus der Nazizeit? . In: Legal Tribune Online, 05.11.2012 , https://www.lto.de/persistent/a_id/7459/ (abgerufen am: 28.03.2024 )

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