Israel-Krieg und Völkerrecht: "Hamas-Ver­b­re­chen auf dem Radar des Inter­na­tio­nalen Straf­ge­richts­hofs"

Interview von Dr. Franziska Kring

20.10.2023

Bei der Ausübung seines Selbstverteidigungsrechts muss Israel Zivilisten im Gazastreifen möglichst schonen. Matthias Herdegen erklärt die rechtlichen Vorgaben – und wie das Verhalten der Hamas und des Iran geahndet werden kann.

LTO: Vor zwei Wochen hat die Terrororganisation Hamas Israel angegriffen und hunderte Geiseln genommen, seitdem tobt ein erbitterter Krieg, der schon zahlreiche Opfer gefordert hat. Israel schlug zurück und bereitet derzeit eine Bodenoffensive in Gaza vor. Ist das völkerrechtlich zulässig?

Prof. Dr. DDr. h.c. Matthias Herdegen: Der Angriff der Hamas ist ein bewaffneter Angriff, der das Selbstverteidigungsrecht Israels nach Art. 51 der Charta der Vereinten Nationen (UN-Charta) auslöst. Dieses Recht gilt auch bei Angriffen von nichtstaatlichen Organisationen – das ist Konsens in der Folge des 11. September 2001. Israel darf sich gegen den Angriff verteidigen – auch mit massiven Militäroperationen in Gaza. Dabei geht es nicht um Vergeltung und Bestrafung für erlittenes Unrecht, sondern ausschließlich um die Abwehr einer existenziellen Bedrohung. Ein sogenannter "regime change", also das gewaltsame Hinwirken auf einen Regimewechsel, liegt jenseits der Selbstverteidigung, und ist auch nicht Ziel der israelischen Operationen.

Wenn es zur erwarteten Bodenoffensive kommt: Darf sich die Hamas dagegen "legal" verteidigen?

Die Hamas muss ihrerseits alle Schritte tun, um die eigene Zivilbevölkerung vor vermeidbaren Schäden zu schützen. Allerdings ist die Hamas die Urheberin eines bewaffneten Angriffs und macht massive Opfer unter der eigenen Bevölkerung zum Teil ihrer Strategie. Und gegen ein Selbstverteidigungsrecht gibt es keine völkerrechtliche Option zu einem militärischen Gegenschlag des Angreifers.

"Selbstverteidigungsrecht, bis die Bedrohung verlässlich ausgeräumt ist"

Wie lange darf Israel von seinem Selbstverteidigungsrecht Gebrauch machen?

So lange, bis die Bedrohung verlässlich ausgeräumt ist. Das wäre der Fall, wenn das Aggressionspotenzial der Hamas völlig neutralisiert wird oder die Hamas zuverlässig zu erkennen gäbe, dass sie von solchen Angriffen dauerhaft Abstand nehmen wird. Damit wird aber niemand rechnen können.

Matthias Herdegen. Foto: Jean Raclet.


Also könnte sich Israel auch auf das Selbstverteidigungsrecht berufen, wenn die Hamas zwar keine Angriffe mehr verübt, aber noch Geiseln in ihrer Gewalt hat?

Ja, indem sie Geiseln festhält, drückt die Hamas aus, dass sie das Angriffsgeschehen fortführen will. Das ganze Format des Angriffs begründet die Vermutung, dass sie ihre bewaffneten Operationen als anhaltende Bekämpfung des Existenzrechts von Israel auf Dauer fortsetzt. Auch diese anhaltende Drohung indiziert, dass der bewaffnete Angriff andauert. Es ist für ein Selbstverteidigungsrecht nicht erforderlich, dass eine Terrororganisation jeden Tag oder jede Woche einen Anschlag plant. Vielmehr reicht es aus, dass das einmal betätigte Terrorpotenzial und die Absicht, immer wieder Terroranschläge zu begehen, fortbestehen.

"Israel ist sich der Verpflichtung zur Schonung der Zivilbevölkerung bewusst"

An welche Regeln muss sich Israel halten?

Unabhängig davon, ob man den Konflikt als internationalen bewaffneten Konflikt zwischen Israel und Palästina oder als nichtinternationalen bewaffneten Konflikt zwischen Israel und der Hamas als nichtstaatlichem Akteur ansieht, gelten selbstverständlich die Regeln des humanitären Völkerrechts.

Dazu zählen insbesondere das Gebot der Schonung der Zivilbevölkerung sowie die strikte Unterscheidung zwischen militärischen Zielen und zivilen Opfern. Diese dürfen allenfalls als unbeabsichtigte Folge von zulässigen Kampfhandlungen in Mitleidenschaft an Leib, Leben und Eigentum gezogen werden. Die Regelungen in den Zusatzprotokollen zu den Genfer Abkommen gelten im Kern völkergewohnheitsrechtlich und somit auch für Israel, das dies Protokolle nicht ratifiziert hat.

Zudem findet der gemeinsame Art. 3 der Genfer Rotkreuz-Konventionen Anwendung, der das "humanitäre Minimum" in jedem Konflikt darstellt. Angriffe auf Leib und Leben von Zivilpersonen, Tötungen, Verstümmelung, entwürdigende Misshandlungen, die Gefangennahme von Geiseln und Hinrichtungen ohne vorhergehendes Urteil sind verboten. Man hat geradezu den Eindruck, dass die Hamas zielgerichtet und ganz bewusst die systematische Verletzung jedes einzelne dieser elementaren Verbote zum Leitmotiv ihres Terrorangriffs gemacht hat.

Das Gebot der Schonung der Zivilbevölkerung - Art. 57 Abs. 1 des 1. Zusatzprotokolls I zu den Genfer Konventionen – ist einer der wichtigsten Grundsätze des Humanitären Völkerrechts. Wie kann Israel das im dicht besiedelten Gazastreifen gewährleisten?

Warnungen sowie die Aufforderung, das Kampfgebiet zu verlassen, sind wichtig. Bei einzelnen Militärschlägen gegen bestimmte Gebäude ist das oft ohne Probleme möglich, etwa durch das sogenannte "Roof Knocking", also eine kurze Vorwarnung, damit die Zivilpersonen das Gebäude verlassen können. Zur israelischen Praxis scheinen auch telefonische Vorwarnungen zu gehören.

Bei einer großangelegten Bodenoffensive hingegen ist die Schonung der Zivilbevölkerung als außerordentlich schwierig. Zudem macht die Hamas die Deckung durch die Zivilbevölkerung gewissermaßen zum Teil ihres Kampfes. Sie führt die Angriffe aus einem dicht besiedelten urbanen Gebiet heraus und verteidigt sich unter Inanspruchnahme menschlicher Schutzschilde. Eine solche Strategie kann nun aber nicht dazu führen, dass die Gegenseite ihr Selbstverteidigungsrecht überhaupt nicht mehr ausüben kann.

Israel bleibt verpflichtet, auf die Zivilbevölkerung Rücksicht zu nehmen und hat auch entsprechende Warnungen und Aufforderungen ausgesprochen. Die Hamas tut aber alles, um diese Warnung zu vereiteln und fordert die Menschen auf, zu bleiben oder hindert sie sogar, die Kampfzone zu verlassen. Wenn eine Seite so den Konflikt bewusst auf dem Rücken der eigenen Zivilbevölkerung austrägt, ist das ein schwerer Bruch des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte.

"Evakuierungsaufforderung nicht völkerrechtswidrig"

Israel hat mehr als eine Million Menschen aufgefordert, den Norden des Gazastreifens innerhalb von 24 Stunden zu verlassen. Ist das legitim oder ein Kriegsverbrechen der rechtswidrigen Vertreibung oder Überführung im Sinne von Art. 8 Abs. 2a VII des Römischen Statuts des IStGH (Rom-Statut), wie einige meinen?

Hier geistern geradezu abenteuerliche Vorwürfe herum. Es wird auch von ethnischer Säuberung oder Massenaustreibungen gesprochen. Das sind Formen der Diskussion, die das Völkerrecht und das tatsächliche Geschehen geradezu pervertieren. Ich kann im Augenblick in den Warnungen kein völkerrechtswidriges Verhalten Israels erkennen. Die Aufforderung ist der Versuch, in einem sehr komplexen Umfeld eine militärische Reaktion mit möglichster Schonung der Zivilbevölkerung zu verbinden.

Die Menschen in Gaza erhalten keine humanitäre Hilfe, da Israel die Zugänge zum Gazastreifen blockiert und Ägypten den Grenzübergang Rafah – der Einzige, der nicht von Israel kontrolliert wird – geschlossen hat. Jetzt soll der Grenzübergang wohl geöffnet werden. Hat sich Ägypten durch seine Weigerung, die Grenze zu öffnen, völkerrechtswidrig verhalten?

Auch bei einer Blockade soll es im Rahmen des Möglichen und militärisch Zumutbaren eine Art "humanitären Korridor" geben Die Öffnung nach Ägypten hin wäre eine Möglichkeit, einen solchen Korridor zu schaffen. Allerdings ist Ägypten an dem Konflikt nicht beteiligt. Insofern ist es nicht verpflichtet, das eigene Gebiet für den Zustrom von Flüchtlingen zu öffnen und sich so auch der Gefahr auszusetzen, dass Hamas-Terroristen in das Land kommen.

Politisch wäre es natürlich wünschenswert, dass die humanitäre Situation der Zivilbevölkerung in Gaza erleichtert wird, indem man den Grenzübergang zumindest vorübergehend öffnet.

Israel hat die Lebensmittel-, Wasser-, Strom- und Treibstoffversorgung des Gazastreifens vollständig eingestellt, sodass die humanitären Probleme noch verschärft werden. Rechtmäßig?

Das humanitäre Völkerrecht geht davon aus, dass man der Bevölkerung den Zugang zu existenziellen Ressourcen ermöglichen muss. Dazu zählen Wasser, Medikamente und Lebensmittel. Bereitstehende Lieferungen von Medikamenten und Lebensmitteln müssen also weitergeleitet werden. Vor einigen Tagen hat Israel die Wasserversorgung für den südlichen Teil des Gazastreifens wieder möglich gemacht und das halte ich auch für einen Schritt im Sinne des humanitären Völkerrechts.

Bei der Versorgung mit Strom und Treibstoff ist eine differenzierende Betrachtung angezeigt. Hier besteht möglicherweise das Risiko, dass die Hamas-Kämpfer einen Teil dieser Ressourcen wieder für militärische Zwecke abzweigen. Dadurch sind die humanitären Pflichten Israels eingeschränkt, denn man muss nicht das militärische Potential des Gegners mit Ressourcen alimentieren.

Konnte Palästina dem Rom-Statut beitreten?

Wie lassen sich die Verbrechen der Hamas völkerstrafrechtlich ahnden?

Palästina hat den Beitritt zum Rom-Statut erklärt. Ob dieser Beitritt wirksam ist, wird in der Staatenwelt und in der Völkerrechtslehre – genau wie der Status von Palästina als Staat im Sinne des Völkerrechts – nicht einheitlich beantwortet. In einer Entscheidung aus dem Februar 2021 hat eine Vorverfahrenskammer des Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) diesen Beitritt für wirksam eingestuft. Ungeachtet dieser Rechtsprechung ist die Frage aber sehr umstritten.

Wenn man die Wirksamkeit des Beitritts unterstellt, hat er Folgen, die die palästinensische Regierung wohl so nicht beabsichtigt hat. Dann würden die schweren Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch die Hamas auch gegenüber der eigenen Bevölkerung auf dem Radar des IStGH stehen.

Anders als beim IStGH geht es am Internationalen Gerichtshof (IGH) nicht um die strafrechtliche Verfolgung einzelner, sondern um die Verantwortlichkeit von Staaten. Können die Verbrechen der Hamas denn Palästina zugerechnet werden?

Nach den verfügbaren Fakten gehe ich nicht davon aus, dass die palästinensische Regierung in Ramallah den Angriff der Hamas auf Israel gesteuert hat. Das Hamas-Regime führt eben ein starkes Eigenleben. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas hat sich sogar ausdrücklich von dem Angriff distanziert. Spannend ist aber vor allem die Frage, ob der Iran für das Geschehen mitverantwortlich gemacht werden kann.

"Sehr enge Kooperation zwischen Hamas und Iran"

Es ist hinlänglich bekannt, dass das Mullah-Regime die Hamas finanziell unterstützt – wohl auch im Kontext des aktuellen Angriffs.

Ja, auch wenn wir noch keine Details kennen. Wir haben den Eindruck gewonnen, dass der Iran auch bei den Anschlägen auf Israel als eine Art Sponsor agiert hat. Es gab auch Treffen zwischen Vertretern des iranischen Regimes und dem Führungspersonal der Hamas. Deshalb können kaum Zweifel daran bestehen, dass hier eine sehr enge Kooperation zwischen der Hamas und dem iranischen Regime stattfindet.

Was bedeutet das für die völkerrechtliche Zurechnung?

Auch wenn ein Staat den Angriff selbst nicht ausübt oder ihn auch nicht steuert und kontrolliert, liegt bei einer finanziellen, logistischen oder sonstigen Unterstützung eine Völkerrechtsverletzung vor. Es handelt sich um eine Verletzung des Gewaltverbots nach Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta.

Zudem könnte es eine Form der Beihilfe zu schwerwiegenden Verletzungen des humanitären Völkerrechts darstellen, auch die konkreten Verbrechen, das heißt die Geiselnahmen, Folterungen und Tötungen von Zivilisten von einem Unterstützungsplan des Iran umfasst sind. All das bedarf aber noch weiterer Erkenntnisse.

Vielen Dank für das Gespräch!

Prof. Dr. DDr. h.c. Matthias Herdegen ist Direktor des Instituts für Öffentliches Recht und Direktor des Instituts für Völkerrecht der Universität Bonn.

Zitiervorschlag

Israel-Krieg und Völkerrecht: "Hamas-Verbrechen auf dem Radar des Internationalen Strafgerichtshofs" . In: Legal Tribune Online, 20.10.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52969/ (abgerufen am: 27.04.2024 )

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