Schweigepflicht-Debatte nach dem Germanwings-Absturz: "Ein Arzt kann nicht für den ganzen Flugverkehr verantwortlich sein"

von Anne-Christine Herr

01.04.2015

2/2: Abwägung: Leben & Gesundheit überwiegen das Patienten-Vertrauen

LTO: Wenn es schon bei drohenden Gefahren gemeingefährlicher Straftaten oder ähnlicher Katastrophen  keine sichere Rechtspflicht zum Bruch der Schweigepflicht gibt, gibt es denn dann überhaupt eine gesetzliche Handlungspflicht für Mediziner? Oder, anders gefragt, eine Hilfe, wie die Ärtze entscheiden sollen?

Spickhoff: In einem wichtigen Fall, den das Oberlandesgericht Frankfurt im Jahr 1999 (Anm. d. Red.: OLG Frankfurt. Beschl. v. 08.07.1999, Az. 8 U 67/99) entschieden hat, war die Sachlage diese: Ein HIV-infizierter Mann verbot seinem Arzt, der Lebensgefährtin von der Infektion zu erzählen, die ebenfalls dort in Behandlung war. Der Arzt glaubte, zum Schweigen verpflichtet zu sein und verriet ihr nichts, obwohl der Lebensgefährte erkennen ließ, dass er keine Schutzmaßnahmen ergreifen würde. Jahre später, der Mann ist längst gestorben, wird bei ihr ebenfalls eine Infektion diagnostiziert.

Das Gericht hat hier ganz klar gesagt, dass der Arzt berechtigt gewesen wäre, die Frau zu informieren, weil eindeutig ein rechtfertigender Notstand vorlag. Das zu schützende Rechtsgut, nämlich das Vertrauen des Infizierten in den behandelnden Arzt, hatte weniger Gewicht als Leben und Gesundheit der akut bedrohten Patientin.

Dabei hat das Gericht auch berücksichtigt, dass das Vertrauen der Allgemeinheit darauf, keinem unnötigen Infektionsrisiko ausgesetzt zu sein, das Vertrauen auf die Verschwiegenheit der Ärzte überwiegt.

"Handlungspflicht allenfalls bei einem Vertragsverhältnis zum potenziellen Opfer"

LTO: Ging das Gericht denn auch von einer Handlungspflicht des Mediziners aus?

Spickhoff: In einem obiter dictum hat das OLG Frankfurt sich in einem Arzthaftpflichtprozess einer zivilrechtlichen Konstruktion bedient. Die Informationspflicht des Arztes haben die Richter aus dem bestehenden Vertragsverhältnis zwischen dem Arzt und der Patientin hergeleitet, welche von ihrem Lebensgefährten infiziert worden war. Indem er ihr gegenüber schwieg, obwohl die Güterabwägung ein eindeutiges Ergebnis gehabt hätte, habe der Mediziner ihr gegenüber rechtswidrig und schuldhaft eine vertragliche Nebenpflicht verletzt.

Manche haben auch kritisiert, die vertraglich konstruierte Pflicht zur Preisgabe der Geheimnisse könne strafrechtlich zu einer Garantenstellung führen, wodurch der Arzt schlimmstenfalls zum Täter durch Unterlassen werden könne.

Dazu kann ich nur sagen, dass ich es für eine kühne These halte, vertragliche Nebenpflichten, die aus zivilrechtlichen Generalklauseln abgeleitet werde (heute § 241 II, früher § 242 BGB), einfach auf das Strafrecht zu übertragen.

"Ein Arzt kann nicht für den gesamten Flugverkehr sicherungspflichtig sein"

LTO: Wie steht es mit einem Arzt, der vor vielen Jahren von der Selbstmordgefährdung von Andreas L. gewusst hätte. Hätte er dies melden müssen?

Spickhoff: Das ist eine sehr schwierige Frage. Aber nach dem, was mir bekannt ist, würde ich im Ergebnis sagen: nein.

Zum einen bestand kein Vertragsverhältnis zwischen dem Arzt und dem Arbeitgeber, den Passagieren oder der Crew. Daher lässt sich die Rechtsprechung des OLG Frankfurt nicht direkt übertragen. Zumindest gegenüber einem nicht abgrenzbaren Personenkreis dürfte es auch unmöglich sein, eine Art faktischen Vertrag zu Gunsten Dritter und zudem eine verletzte Verkehrssicherungspflicht zu konstruieren.

Die gleichen Erwägungen gelten erst recht für das Strafrecht. Da bin ich sehr zurückhaltend. Ein Arzt kann ja nicht für den gesamten Flugverkehr sicherungspflichtig sein.

Nach allem, was man bislang weiß, erfolgten die Diagnosen auch, bevor Andreas L. überhaupt fertig ausgebildeter Pilot wurde. Und selbst wenn sich das abgezeichnet hätte: Wie konkret müssten denn die Informationen gewesen sein, die der Arzt hätte haben müssen, damit man ihm das anlasten kann? Sollen etwa schon die Diagnose Depression und die Kenntnis vom Beruf ausreichen? Und nicht einmal letztere müsste er überhaupt haben - denn ein Patient ist nicht verpflichtet, seinen Beruf zu nennen und der Arzt hat weder die Pflicht noch auch nur die Möglichkeit, das zuverlässig nachzuforschen.

"Die vermeintliche Rechtsklarheit würde zum Gegenteil des Gewünschten führen"

LTO: Die Gesetzeslage ist also offenbar unklar und die Ärzte tragen eine große Verantwortung bei der schwierig zu beantwortenden Frage, ob sie trotz der Schweigepflicht reden dürfen oder gar müssen. Warum stehen Sie einer gesetzlichen Lockerung der Schweigepflicht für diese äußerst seltenen Ausnahmefälle, in denen möglicherweise hunderte Leben gerettet werden könnten, dennoch zweifelnd gegenüber?

Spickhoff: Eine gesetzliche Regelung, wie sie sich die Politiker und auch manche Ärzte wünschen, würde kaum weiterhelfen. Die Fragen, die sich stellen, sind bereits jetzt im Rahmen des § 34 StGB zu lösen. Sie sind primär tatsächlicher Natur und eben nicht rechtlicher. Die Psychiatrie ist in ihren Prognosen notwendig eine oft unsichere Disziplin. Daran können auch Gesetze nichts ändern. Im Arztrecht gibt es in solchen Situationen oft keine "glatten" Lösungen. Man kann diese Fälle leider wohl nie ganz verhindern.

Außerdem würde die vermeintliche Rechtsklarheit an anderen Stellen zu unvorhersehbaren Problemen führen. Denn sobald gefährdete Personen von den Pflichten der Ärzte wüssten, würden die Patienten entweder über ihren tatsächlichen Zustand oder ihren Beruf eventuell die Unwahrheit sagen oder sich überhaupt nicht mehr therapieren lassen. Das Arzt-Patienten-Verhältnis wäre deutlich gestört. Am Ende würden die betreffenden Patienten überhaupt nicht oder nicht richtig therapiert. Das würde sogar zum Gegenteil des gewünschten Effektes führen.

Daher sollte man, so tragisch dieser Fall auch ist, keine Schnellschüsse machen. Ich warne vor blindem, undurchdachtem Aktionismus. Besser wäre es, wenn sich zuvor zum Beispiel der Deutsche Ethikrat mit solchen Fragen befasst und mit der gebotenen Sorgfalt ausgewogene Vorschläge erarbeitet.

Prof. Dr. Andreas Spickhoff ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Medizinrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Verfasser zahlreicher Veröffentlichungen zum Medizinrecht, u.a. auch zur "Pflicht zum Bruch der Schweigepflicht".

Das Interview führte Anne-Christine Herr.

Zitiervorschlag

Anne-Christine Herr, Schweigepflicht-Debatte nach dem Germanwings-Absturz: "Ein Arzt kann nicht für den ganzen Flugverkehr verantwortlich sein" . In: Legal Tribune Online, 01.04.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15123/ (abgerufen am: 26.04.2024 )

Infos zum Zitiervorschlag
Jetzt Pushnachrichten aktivieren

Pushverwaltung

Sie haben die Pushnachrichten abonniert.
Durch zusätzliche Filter können Sie Ihr Pushabo einschränken.

Filter öffnen
Rubriken
oder
Rechtsgebiete
Abbestellen