Nachdem der Co-Pilot am Tag des Absturzes der Germanwings-Maschine krankgeschrieben und Jahre zuvor in psychiatrischer Behandlung war, wollen vor allem Unionspolitiker die ärztliche Schweigepflicht für "sensible" Berufsgruppen lockern. Für Medizinrechtler Andreas Spickhoff wäre das sogar kontraproduktiv. Die Frage, was der Arzt von Andreas L. hätte tun müssen, findet er "sehr schwierig".
LTO: Inzwischen ist bekannt, dass Andreas L. seinen Arbeitgeber, die Lufthansa, 2009 über eine "abgeklungene schwere depressive Episode" informiert hat. Bereits kurz nach dem tragischen Flugzeugunglück, das wahrscheinlich auf das psychische Leiden des Co-Piloten zurückzuführen ist, forderten Politiker der Union eine Lockerung der ärztlichen Schweigepflicht für "sensible" Berufsgruppen wie Piloten oder Fernbusfahrer. Ihre Arbeitgeber sollten Ärzte benennen, die ihnen und Behörden gegenüber von ihrer ärztlichen Schweigepflicht entbunden sind. Herr Professor Spickhoff, was halten Sie von diesen Vorstößen?
Spickhoff: Ganz allgemein halte ich die Vorschläge für eine zu weite Relativierung der ärztlichen Schweigepflicht. Und hinter ihren Nutzen mache ich ein großes Fragezeichen. Nicht nur die Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patient, sondern auch das Persönlichkeitsrecht des Behandelten würden stark eingeschränkt.
Es ist auch kaum möglich, klar festzulegen, was denn "sensible" Berufe sind. Damit sind wohl solche gemeint, bei denen ein hohes Gefährdungspotenzial für Leib, Leben und Gesundheit anderer besteht. Wer würde darunter fallen? Wenn man bei Piloten anfängt, wo hört man auf? Der Busfahrer wäre noch naheliegend – aber kann nicht eine Kindergärtnerin mindestens genauso viel Schaden anrichten? Oder nicht gar jeder, der vielen Menschen begegnet und diese schädigen kann?
Die Vorgabe eines bestimmten Arztes durch den Arbeitgeber würde in das Recht auf freie Arztwahl eingreifen. Dürfen Piloten dann nicht mehr zu dem Mediziner gehen, dem sie vertrauen? Wer würde überhaupt nachprüfen, dass sie es nicht doch tun?
Auch in einer solchen Regelung sehe ich kaum einen Mehrwert. Piloten werden ja schon derzeit regelmäßig auf ihre berufliche Eignung hin geprüft. Wenn ein Pilot bei diesen Untersuchungen nicht die Wahrheit sagt - warum sollte er sich anders verhalten, wenn er wüsste, dass sein "Pflichtarzt" keine Schweigepflicht hat und Ehrlichkeit ihn seinen Job kosten kann?
"Ärzte können Informationen weitergeben - schon nach geltendem Recht"
LTO: Aber wäre eine solche Regelung denn nicht jedenfalls für Fälle geboten, in denen sie hunderte Menschenleben retten könnte? Oder gibt es schon nach geltendem Recht Ausnahmen von der ärztlichen Schweigepflicht?
Spickhoff: Ein Arzt ist verpflichtet, alle Informationen jeglicher Art, die sein Patient ihm anvertraut oder die er ihm Rahmen der Behandlung diagnostiziert, für sich zu behalten. Diese Pflicht gilt sogar über den Tod hinaus. Verrät ein Arzt solche Geheimnisse, obwohl weder eine ausdrückliche noch eine mutmaßliche Einwilligung oder ein rechtfertigender Notstand vorliegt, macht er sich strafbar nach § 203 StGB (Strafgesetzbuch).
Das Landes-Berufsrecht geht kaum über den strafrechtlichen Schutz hinaus. Auch ein paar Zusatznormen zum Datenschutz können eine Rolle spielen, sind aber weniger relevant. Wie jede andere Straftat kann auch der Geheimnisverrat gerechtfertigt sein. Das wäre namentlich der Fall, wenn sich der Arzt in der Pflichtenkollision befindet, dass er Informationen erhält, nach denen andere Menschen in Gefahr sein könnten, wenn er sich an seine Schweigepflicht halten würde. Diese Situation regelt § 34 StGB, der Notstand.
Hat der Mediziner zugleich andere Rechtsgüter zu schützen, muss er eine Interessenabwägung vornehmen. Wenn er weiß, dass andere Menschen schwer verletzt oder sogar getötet werden könnten, dann wird das regelmäßig gewichtiger sein als das Persönlichkeitsrecht des Patienten.
Dann hat der Arzt das Recht, die Informationen an die gefährdeten Personen weiterzugeben oder den entsprechenden Behörden zu melden.
"Es gibt keine klare Pflicht zum Bruch der Schweigepflicht"
LTO: Korrespondiert denn mit diesem Recht des Arztes, sein Schweigen zu brechen, auch eine Pflicht, das zu tun?
Spickhoff: Grundsätzlich lässt sich aus einem strafrechtlichen Rechtfertigungsgrund natürlich keine Handlungspflicht ableiten. Offenbarungspflichten finden sich einzig in § 138 StGB, wenn es also beispielsweise um Mord, Geiselnahmen oder gemeingefährliche Straftaten geht.
LTO: Um genau solche Taten geht es aber, wenn ein Patient beschließt, eine Flugzeug mit 150 Passagieren in den französischen Alpen zerschellen lassen. Unterstellt, Co-Pilot Andreas L. hat das getan und ein Arzt hätte von solchen Ideen sicher gewusst: Wäre er dann nach geltendem Recht verpflichtet gewesen, etwas zu tun? Wenn ja, wen hätte er informieren müssen? Germanwings als Arbeitgeberin des Co-Piloten?
Spickhoff: Eine solche Pflicht zum Bruch der Schweigepflicht ist, selbst bei möglicherweise drohenden Kapitaldelikten, aufgrund der Unwägbarkeiten entsprechender Prognosen generell umstritten und es gibt keine klaren Antworten.
Denkbar wäre sie (auch über § 138 StGB hinaus) im Falle eines Betriebsarztes, der einen Vertrag mit dem Arbeitgeber hat und die Eignung des Patienten für den Beruf untersucht. Wenn die konkret gefährdete Person nicht bekannt ist, der Arbeitgeber aber etwas tun kann und ein klarer Fall von § 34 StGB vorliegt, dann müsste man wohl auch den Arbeitgeber informieren.
LTO: Das klingt ja in der Theorie plausibel, aber kann ein Arzt so etwas denn wirklich entscheiden?
Spickhoff: Schwierig ist dabei immer, dass es um den konkreten Einzelfall geht und der Arzt selten genau weiß, was passieren wird, was im Kopf des Patienten vorgeht und wer betroffen sein könnte. Psychische Kausalverläufe sind nie vorhersehbar und der Arzt muss die Freiheit haben, seine Prognose zu stellen.
Die meisten psychisch Kranken stellen überhaupt keine Gefahr für andere dar. Es muss also schon klare Anzeichen für eine Gefährdung Dritter geben.
2/2: Abwägung: Leben & Gesundheit überwiegen das Patienten-Vertrauen
LTO: Wenn es schon bei drohenden Gefahren gemeingefährlicher Straftaten oder ähnlicher Katastrophen keine sichere Rechtspflicht zum Bruch der Schweigepflicht gibt, gibt es denn dann überhaupt eine gesetzliche Handlungspflicht für Mediziner? Oder, anders gefragt, eine Hilfe, wie die Ärtze entscheiden sollen?
Spickhoff: In einem wichtigen Fall, den das Oberlandesgericht Frankfurt im Jahr 1999 (Anm. d. Red.: OLG Frankfurt. Beschl. v. 08.07.1999, Az. 8 U 67/99) entschieden hat, war die Sachlage diese: Ein HIV-infizierter Mann verbot seinem Arzt, der Lebensgefährtin von der Infektion zu erzählen, die ebenfalls dort in Behandlung war. Der Arzt glaubte, zum Schweigen verpflichtet zu sein und verriet ihr nichts, obwohl der Lebensgefährte erkennen ließ, dass er keine Schutzmaßnahmen ergreifen würde. Jahre später, der Mann ist längst gestorben, wird bei ihr ebenfalls eine Infektion diagnostiziert.
Das Gericht hat hier ganz klar gesagt, dass der Arzt berechtigt gewesen wäre, die Frau zu informieren, weil eindeutig ein rechtfertigender Notstand vorlag. Das zu schützende Rechtsgut, nämlich das Vertrauen des Infizierten in den behandelnden Arzt, hatte weniger Gewicht als Leben und Gesundheit der akut bedrohten Patientin.
Dabei hat das Gericht auch berücksichtigt, dass das Vertrauen der Allgemeinheit darauf, keinem unnötigen Infektionsrisiko ausgesetzt zu sein, das Vertrauen auf die Verschwiegenheit der Ärzte überwiegt.
"Handlungspflicht allenfalls bei einem Vertragsverhältnis zum potenziellen Opfer"
LTO: Ging das Gericht denn auch von einer Handlungspflicht des Mediziners aus?
Spickhoff: In einem obiter dictum hat das OLG Frankfurt sich in einem Arzthaftpflichtprozess einer zivilrechtlichen Konstruktion bedient. Die Informationspflicht des Arztes haben die Richter aus dem bestehenden Vertragsverhältnis zwischen dem Arzt und der Patientin hergeleitet, welche von ihrem Lebensgefährten infiziert worden war. Indem er ihr gegenüber schwieg, obwohl die Güterabwägung ein eindeutiges Ergebnis gehabt hätte, habe der Mediziner ihr gegenüber rechtswidrig und schuldhaft eine vertragliche Nebenpflicht verletzt.
Manche haben auch kritisiert, die vertraglich konstruierte Pflicht zur Preisgabe der Geheimnisse könne strafrechtlich zu einer Garantenstellung führen, wodurch der Arzt schlimmstenfalls zum Täter durch Unterlassen werden könne.
Dazu kann ich nur sagen, dass ich es für eine kühne These halte, vertragliche Nebenpflichten, die aus zivilrechtlichen Generalklauseln abgeleitet werde (heute § 241 II, früher § 242 BGB), einfach auf das Strafrecht zu übertragen.
"Ein Arzt kann nicht für den gesamten Flugverkehr sicherungspflichtig sein"
LTO: Wie steht es mit einem Arzt, der vor vielen Jahren von der Selbstmordgefährdung von Andreas L. gewusst hätte. Hätte er dies melden müssen?
Spickhoff: Das ist eine sehr schwierige Frage. Aber nach dem, was mir bekannt ist, würde ich im Ergebnis sagen: nein.
Zum einen bestand kein Vertragsverhältnis zwischen dem Arzt und dem Arbeitgeber, den Passagieren oder der Crew. Daher lässt sich die Rechtsprechung des OLG Frankfurt nicht direkt übertragen. Zumindest gegenüber einem nicht abgrenzbaren Personenkreis dürfte es auch unmöglich sein, eine Art faktischen Vertrag zu Gunsten Dritter und zudem eine verletzte Verkehrssicherungspflicht zu konstruieren.
Die gleichen Erwägungen gelten erst recht für das Strafrecht. Da bin ich sehr zurückhaltend. Ein Arzt kann ja nicht für den gesamten Flugverkehr sicherungspflichtig sein.
Nach allem, was man bislang weiß, erfolgten die Diagnosen auch, bevor Andreas L. überhaupt fertig ausgebildeter Pilot wurde. Und selbst wenn sich das abgezeichnet hätte: Wie konkret müssten denn die Informationen gewesen sein, die der Arzt hätte haben müssen, damit man ihm das anlasten kann? Sollen etwa schon die Diagnose Depression und die Kenntnis vom Beruf ausreichen? Und nicht einmal letztere müsste er überhaupt haben - denn ein Patient ist nicht verpflichtet, seinen Beruf zu nennen und der Arzt hat weder die Pflicht noch auch nur die Möglichkeit, das zuverlässig nachzuforschen.
"Die vermeintliche Rechtsklarheit würde zum Gegenteil des Gewünschten führen"
LTO: Die Gesetzeslage ist also offenbar unklar und die Ärzte tragen eine große Verantwortung bei der schwierig zu beantwortenden Frage, ob sie trotz der Schweigepflicht reden dürfen oder gar müssen. Warum stehen Sie einer gesetzlichen Lockerung der Schweigepflicht für diese äußerst seltenen Ausnahmefälle, in denen möglicherweise hunderte Leben gerettet werden könnten, dennoch zweifelnd gegenüber?
Spickhoff: Eine gesetzliche Regelung, wie sie sich die Politiker und auch manche Ärzte wünschen, würde kaum weiterhelfen. Die Fragen, die sich stellen, sind bereits jetzt im Rahmen des § 34 StGB zu lösen. Sie sind primär tatsächlicher Natur und eben nicht rechtlicher. Die Psychiatrie ist in ihren Prognosen notwendig eine oft unsichere Disziplin. Daran können auch Gesetze nichts ändern. Im Arztrecht gibt es in solchen Situationen oft keine "glatten" Lösungen. Man kann diese Fälle leider wohl nie ganz verhindern.
Außerdem würde die vermeintliche Rechtsklarheit an anderen Stellen zu unvorhersehbaren Problemen führen. Denn sobald gefährdete Personen von den Pflichten der Ärzte wüssten, würden die Patienten entweder über ihren tatsächlichen Zustand oder ihren Beruf eventuell die Unwahrheit sagen oder sich überhaupt nicht mehr therapieren lassen. Das Arzt-Patienten-Verhältnis wäre deutlich gestört. Am Ende würden die betreffenden Patienten überhaupt nicht oder nicht richtig therapiert. Das würde sogar zum Gegenteil des gewünschten Effektes führen.
Daher sollte man, so tragisch dieser Fall auch ist, keine Schnellschüsse machen. Ich warne vor blindem, undurchdachtem Aktionismus. Besser wäre es, wenn sich zuvor zum Beispiel der Deutsche Ethikrat mit solchen Fragen befasst und mit der gebotenen Sorgfalt ausgewogene Vorschläge erarbeitet.
Prof. Dr. Andreas Spickhoff ist Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht und Medizinrecht an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er ist Verfasser zahlreicher Veröffentlichungen zum Medizinrecht, u.a. auch zur "Pflicht zum Bruch der Schweigepflicht".
Das Interview führte Anne-Christine Herr.
Anne-Christine Herr, Schweigepflicht-Debatte nach dem Germanwings-Absturz: "Ein Arzt kann nicht für den ganzen Flugverkehr verantwortlich sein" . In: Legal Tribune Online, 01.04.2015 , https://www.lto.de/persistent/a_id/15123/ (abgerufen am: 25.04.2024 )
Infos zum Zitiervorschlag