BVerfG bestätigt Masernimpfpflicht: Zwi­schen Risi­ko­ab­wä­gung und Vor­be­halt des Gesetzes

Gastbeitrag von Prof. Dr. Klaus Ferdinand Gärditz

19.08.2022

Das BVerfG hat die faktische Impfpflicht gegen Masern in Kindertagesstätten zu Recht für verfassungskonform erachtet, meint Klaus F. Gärditz. Die Argumentation des Ersten Senats zur Verwendung eines Mehrfachimpfstoffs sei indes bedenklich.

Im Lärm der Kontroversen um eine – politisch gescheiterte – allgemeinen Corona-Impfpflicht und die – vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gebilligte (Beschluss vom 27. April 2022, Az. 1 BvR 2649/21) – einrichtungsbezogene Impfpflicht war untergegangen, dass der Deutsche Bundestag kurz vor Ausbruch der Pandemie bereits eine andere (faktische) Impfpflicht beschlossen hatte. Das Gesetz für den Schutz vor Masern und zur Stärkung der Impfprävention (Masernschutzgesetz) vom 10. Februar 2020 führte mit § 20 Abs. 8 Infektionsschutzgesetz (IfSG) eine Regelung ein, die Personen, die in bestimmten Einrichtungen tätig sind oder betreut werden, zu einer Impfung gegen Masern verpflichtet.

Zu diesen Einrichtungen gehören unter anderem Kindertagesstätten. Faktisch werden damit ungeimpfte Kinder vom Kita-Besuch ausgeschlossen. Die abstrakt bestehenden Ansprüche auf Betreuungsleistungen nach § 24 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) VIII können also nicht abgerufen werden.

Das Masernschutzgesetz war durch Verfassungsbeschwerden ungeimpfter Kinder sowie ihrer Eltern angegriffen worden. Das BVerfG hat die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen und die Regelung bei verfassungskonformer Auslegung gebilligt (Beschl. v. 21.07.2022 Az. 1 BvR 469/20 u.a.).

Heterogene Impfziele, divergente Verhältnismäßigkeitsprüfung

Impfpflicht ist verfassungsrechtlich nicht gleich Impfpflicht. Für die verfassungsrechtliche Bewertung kommt es entscheidend darauf an, welches Ziel mit einer Regelung erreicht werden soll. Dies hängt wiederum davon ab, welche Wirkung sich mit einer Impfung nach Stand der (immunologischen) Wissenschaft erreichen lässt.

Verhindert ein Impfstoff mit hinreichend hoher Wahrscheinlichkeit schwere Krankheitsverläufe, aber weder eine Erkrankung noch eine Ansteckung Dritter, lässt sich eine Impflicht allenfalls mit einem Schutz des Gesundheitssystems vor einer Überlastung rechtfertigen. Wer sich nicht impfen lässt, dann aber auf der Intensivstation landet und anderen ggf. die lebensrettende Behandlungskapazität wegnimmt, schädigt Dritte, die staatliches Recht schützen darf (und ggf. muss).

Reduziert eine Impfung die Ansteckungswahrscheinlichkeit signifikant, ohne Infektionen verlässlich zu verhindern, wird durch eine statistische Reduktion der Ansteckungszahlen immerhin noch die Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems geschützt. Ob Eingriffe dann verhältnismäßig sind, hängt von den Parametern im Einzelfall ab, etwa den Risiken von unerwünschten Nebenwirkungen der Impfung und der konkreten Belastung des Gesundheitssystems.

Völlig anders sind die Koordinaten hingegen, wenn ein Impfstoff bereits die Infektion und/oder die Ansteckung Dritter mit hoher Wahrscheinlichkeit verhindert. Dann kommt als Rechtfertigung der Schutz der Gesundheit Dritter in Betracht. Letzteres war hier der Fall, weshalb die Entscheidung zur Masernimpfpflicht auch dogmatisch einfacher zu begründen war als die zur einrichtungsbezogenen Corona-Impflicht.

Eingriff durch Verweigerung der Betreuung

Das BVerfG sieht in der Regelung einen Grundrechtseingriff sowohl in das Erziehungsrecht der Eltern aus Art. 6 Abs. 2 Grundgesetz (GG) als auch das Grundrecht auf Gesundheit der Kinder (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG). Zwar besteht nach der angegriffenen Regelung keine durchsetzbare Impfpflicht im eigentlichen Sinne. Ungeimpfte Kinder verlieren aber ihren Zugang zu Betreuungseinrichtungen und die Eltern damit eine – mitunter für die berufliche wie persönliche Lebensführung entscheidende – Betreuungsmöglichkeit. In der Sache wird vom Ersten Senat überzeugend herausgearbeitet, dass diese Verknüpfung der Verhaltenserwartung mit einer Zugangsverweigerung zu staatlichen Leistungen ein hinreichendes Gewicht hat, um bereits als (mittelbarer) Grundrechtseingriff qualifiziert zu werden.

Der Erste Senat hält die Regelung jedoch für verfassungskonform. Die Gründe hierfür sind gleichermaßen überraschungsfrei wie in der Sache grundsätzlich überzeugend. Das Gericht misst dem Eingriff zwar nicht unerhebliches Gewicht zu, stellt dem aber konsequent den herausgehobenen Wert des Gesundheitsschutzes als Regelungszweck gegenüber. Masern sind eine hochinfektiöse und zudem gefährliche Virenerkrankung, die mitunter tödlich sein kann. Die Übertragung in Kindertagesstätten bildet einen Infektionspfad. Gegen Masern steht aber auch ein abgeschwächter Lebendimpfstoff zur Verfügung, der risikoarm ist, aber (nach einer zweiten Auffrischungsimpfung) eine Ansteckung mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit lebenslang verhindert.

Eigenverantwortung führt nicht zum notwendigen Schutz Dritter

Angesichts des effektiven Impfschutzes drängte sich die Frage auf, ob man dann nicht die Impfung dem eigenverantwortlichen Selbstschutz überlassen könnte: Wer seine Kinder schützen will, lässt diese impfen, wer Vorbehalte hat, bürdet ihnen das Infektionsrisiko auf. Der Staat ist grundsätzlich nicht berechtigt, Menschen zum Selbstschutz zu zwingen, wenn diese über ihre eigenen Rechtsgüter disponieren. Das Problem sei erwähnt, dass hier Eltern über die Gesundheit ihrer Kinder entscheiden, die zwar im Kindergarteneintrittsalter nicht eigenverantwortlich Gesundheitsrisiken eingehen können, aber gleichwohl selbstständige Grundrechtsträger, nicht Verfügungsmasse der Eltern sind.

Darauf kam es nicht an. Die Rechnung mit dem Selbstschutz geht nämlich schon nicht auf, weil es – wie das Gericht herausarbeitet – vulnerable Gruppen gibt, bei denen eine Impfung aus medizinischen Gründen nicht zumutbar ist. Solche Kinder haben nicht die Möglichkeit, sich selbst zu schützen. Der Gesetzgeber durfte deren Gesundheitsschutz höher gewichten als die (diffusen) Interessen der Impfverweigerer. "Die Gefahr für Ungeimpfte, an Masern zu erkranken, ist deutlich höher als das Risiko, einer auch nur vergleichsweise harmlosen Nebenwirkung der Impfung ausgesetzt zu sein", begründen die Karlsruher Richter ihre Entscheidung. Ergänzend führt das Gericht die Möglichkeit einer Eradikation der Masern an, was aber offenkundig nicht den Kern der Rechtfertigung ausmacht.

Vorbehalt des Gesetzes und der Risikohorizont des Gesetzgebers

Ein größeres Rechtfertigungsproblem lag in der Regelung des § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG. Hiernach gilt die Impfpflicht auch dann, "wenn zur Erlangung von Impfschutz gegen Masern ausschließlich Kombinationsimpfstoffe zur Verfügung stehen, die auch Impfstoffkomponenten gegen andere Krankheiten enthalten". Das BVerfG legt diese Regelung verfassungskonform dahingehend aus, dass dies nur für solche Kombinationsimpfstoffe gilt, die bei Erlass des Gesetzes bekannt waren.

Überzeugend wird hier der Vorbehalt des Gesetzes aktiviert, der sicherstellen muss, dass der parlamentarische Gesetzgeber die wesentlichen Risikoentscheidungen selbst trifft und demokratisch verantwortet. Angesichts der erheblichen Unterschiede im Nutzen und in den Risikoprofilen sehr verschiedener Impfstoffe muss also der Gesetzgeber selbst entscheiden, welche konkreten (bei Biologika generell potenziell hohen) Risiken er den betroffenen Trägerinnen und Trägern von Grundrechten zumuten will. Impfstoffe, die der Gesetzgeber in seine demokratische Risikoentscheidung nicht einbezogen hat (z.B., weil sie erst später zugelassen werden oder auf den Markt kommen), werden daher bei verfassungskonformer Auslegung von § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG nicht erfasst.

Eine künftige Impfpflicht (z. B. gegen Corona-Viren) durch Rechtsverordnung nach Art. 80 Abs. 1 GG dürfte hiernach kaum mehr in Betracht kommen, soweit der Gesetzgeber nicht lediglich technische Details der Qualitätssicherung auf die Bundesregierung delegiert. Eine Impfpflicht müsste jedenfalls dem Grunde nach impfstoffspezifisch bereits durch Parlamentsgesetz festgelegt werden.

Verhältnismäßigkeit nach Marktverfügbarkeit?

Soweit der Senat es hingegen billigt, im Kielwasser der Masern-Impfung faktisch eine Impfpflicht für andere Infektionskrankheiten mitzuziehen, die nicht vergleichbar gefährlich, aber in verfügbaren Kombinationsimpfstoffen enthalten sind, erscheinen Zweifel angebracht. Auch das Gericht laviert hier erkennbar. Es ist eine pharmakologische Binsenweisheit, dass jeder zusätzliche Wirkstoff bei Kombinationspräparaten zusätzliche Risiken mit sich bringt.

"Wenn behauptet wird, dass eine Substanz keine Nebenwirkung zeigt, so besteht der dringende Verdacht, dass sie auch keine Hauptwirkung hat“, schrieb der Doyen der deutschen Nachkriegs-Pharmakologie Gustav Kuschinsky. Daher muss die Wirksamkeit auch für jeden einzelnen Wirkstoff nachgewiesen werden (vgl. § 25 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5a Arzneimittelgesetz (AMG; dazu Bundesverwaltungsgesetz (BVerwG), Urt. v. 16.10.2003, Az. 3 C 28/02, NVwZ-RR 2004, 180).

Regelungszweck des Masernschutzgesetzes ist der austarierte Schutz vor einer besonders gefährlichen Virenerkrankung. Für die anderen Impfstoffe in Kombinationspräparaten wäre die Eingriffsrechtfertigung anders zu strukturieren und sie würde möglicherweise scheitern. Da jeder Impfstoff pharmazeutisch separat hergestellt wird, ist die Frage der Verfügbarkeit von Monoimpfstoffen allein eine der ökonomisch präferierten Herstellungsverfahren und damit des Marktes. Nachfrage ließe sich schaffen, wenn Monoimpfstoffe durch die Impfpflicht in hinreichender Zahl benötigt werden. Die bereits für andere Länder erfolgende Produktion würde vermutlich zeitnah hochgefahren und auf den deutschen Markt erstreckt. Der Senat macht hingegen die Verhältnismäßigkeit in bedenklicher Weise von Marktmechanismen abhängig, die den Umfang von Grundrechtsbeschränkungen faktisch in die Hände der pharmazeutischen Industrie und ihrer Vermarktungsstrategien legen.

Staat darf Menschen zur Solidarität zwingen

Auch weitreichende Grundrechtseingriffe in die körperliche Selbstbestimmung sind rechtfertigungsfähig, wenn diese vom Gesetzgeber sorgfältig und hinreichend risikospezifisch begründet werden. Die Verfassungskonformität von Maßnahmen, die dem Gesundheitsschutz dienen, haben einerseits das hohe Gewicht der Rechtsgüter derjenigen auf ihrer Seite, die geschützt werden sollen, zumal wenn darunter besonders vulnerable Gruppen sind.

Andererseits sind Argumente des Gesundheitsschutzes von belastbarer Empirie abhängig, die der Gesetzgeber heranziehen muss. Hinreichendes Entscheidungswissen ist nicht zwingend immer vorhanden. Medizinisches Wissen ist oftmals ungenau, Kausalitäten und Korrelationen sind nicht immer klar zu trennen, Daten nicht zwingend in der Qualität vorhanden, die man sich wünscht. Insoweit kommt es entscheidend darauf an, dass der Staat durch geeignete Einrichtungen (wie hier dem Paul-Ehrlich-Institut und der Ständigen Impfkommission) fortwährend das verfügbare wissenschaftliche Wissen analysiert und für politische Entscheidungen aufbereitet. Hierauf kam es auch vorliegend letztlich maßgeblich an (vgl. Rn. 24, 26, 29, 100, 151).

Das BVerG hat in einer Serie von Entscheidungen über gesundheitsschützende Maßnahmen gezeigt, dass staatliche Gesetzgebung eine geteilte soziale Verantwortung füreinander aktualisieren darf und Solidarität ggf. durch nicht unerhebliche Grundrechtseingriffe erzwingen kann. Einem kruden Ellenbogen-Liberalismus esoterischer Sonderinteressen hat das Gericht implizit erneut eine überzeugende Absage erteilt. Freiheitskonflikte können zwar hart verhandelt werden, die normative Beurteilung der Verfassungskonformität erfolgt aber auf einem rationalen Fundament hinreichend verlässlicher Empirie, die auf wissenschaftliche Evidenz verweisen kann. Auch das ist ein Freiheitsgewinn, den man gerade in Zeiten großer Verunsicherung nicht unterschätzen darf.

Der Autor Prof. Dr. Klaus F. Gärditz ist Inhaber des Lehrstuhls für öffentliches Recht an der Universität Bonn.

Zitiervorschlag

BVerfG bestätigt Masernimpfpflicht: Zwischen Risikoabwägung und Vorbehalt des Gesetzes . In: Legal Tribune Online, 19.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49365/ (abgerufen am: 25.04.2024 )

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