Verfassungsrechtliches Gebot: Münd­liche Haft­prü­fung im Aus­lie­fe­rungs­ver­fahren zwin­gend

von Dr. Yves Georg

18.01.2024

Nach einhelliger Ansicht muss das OLG im Auslieferungsverfahren keine mündliche Haftprüfung durchführen. Yves Georg hält dies für verfassungswidrig.

Wenn zwecks Strafverfolgung oder -vollstreckung ein Ausländer an einen ausländischen Staat oder ein Deutscher an einen EU-Mitgliedstaat nach den Vorschriften des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe (IRG) ausgeliefert werden soll, droht regelmäßig der Erlass eines Auslieferungshaftbefehls durch das OLG wegen Flucht- oder Verdunklungsgefahr (§§ 15, 17 IRG).  

Bemerkenswerterweise soll das OLG den Verfolgten dabei nach allgemeiner Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum nicht persönlich zu Gesicht bekommen müssen. Und zwar auch dann nicht, wenn er Einwendungen gegen die Auslieferungshaft geltend macht (§ 23 IRG) oder die turnusmäßige Haftprüfung nach § 26 IRG ansteht. Hält das einer verfassungsrechtlichen Prüfung stand?

Vorführung beim nächsten Amtsgericht

Das Procedere ist in § 21 IRG im Prinzip genau festgelegt: Wird der Verfolgte aufgrund eines Auslieferungshaftbefehls ergriffen, wird er dem Richter des nächsten Amtsgerichts vorgeführt. Dieser hat ihn zu vernehmen, zu belehren und nach Einwendungen gegen die Auslieferung und die Auslieferungshaft zu befragen. Freilassen darf er ihn allenfalls in den kaum vorkommenden Fällen einer Personenverwechslung oder eines zuvor aufgehobenen oder außer Vollzug gesetzten Haftbefehls.  

Liegt eine solche Ausnahmekonstellation nicht vor, darf der Amtsrichter selbst die Haftfrage nicht weiter prüfen. Vielmehr ist er darauf beschränkt, Einwendungen des Verfolgten und allfällige eigene Bedenken zu Protokoll zu nehmen und der Generalstaatsanwaltschaft (GenStA) mitzuteilen. Diese führt dann in einem regelmäßig rein schriftlichen Verfahren die Entscheidung des OLG herbei (§ 21 Abs. 5 IRG).

Langversion mit Fundstellen in StV

Weil der Amtsrichter damit auf eine reine "Protokollfunktion" ohne autonome Prüfungs- und Entscheidungskompetenz beschränkt ist, werden in der Praxis der Auslieferungshaftbefehlsverkündung bei sachgerechter Verteidigung nur selten Einwendungen erhoben. Warum auch sollten der Verfolgte und sein Rechtsbeistand sich auf die Kommunikationsdefizite dieses "Stille-Post"-Spiels einlassen und vor dem Amtsrichter mündlich Einwendungen vorbringen? Sie würden doch bloß in den eigenen Worten des diktierenden Richters von dessen Protokollführer zu Protokoll genommen und dann wie beschrieben dem OLG übermittelt.  

Amtsrichter als "Sekretär des OLG"  

Effektiver ist es da aus Sicht des Verfolgten (und seines Anwalts), von der in § 23 IRG vorgesehenen Möglichkeit Gebrauch zu machen und Einwendungen nach (abermaliger) Akteneinsicht unmittelbar gegenüber dem OLG selbst vorzubringen. So laufen sie nicht Gefahr, Erhebliches mangels zureichender Aktenkenntnis zu übersehen, in der Eile der "Extremsituation der ersten Vorführung" etwas zu vergessen oder beim mündlichen Hin und Her missverstanden zu werden. Das gilt umso mehr, als sich der Richter des nächsten Amtsgerichts bei der Haftbefehlsverkündung regelmäßig nicht allzu motiviert zeigt – bis hin zur Selbstbezeichnung als "bloßer Sekretär des OLG".

An alldem ändert es auch nichts, dass der Amtsrichter nach der einhelligen Literaturmeinung – anknüpfend an die verfassungskonforme Auslegung des für die vorläufige Festnahme geltenden § 22 Abs. 3 IRG durch das BVerfG (2 BvR 1608/07) – die Freilassung über den Wortlaut hinaus auch in "besonders krasse(n) Evidenz- und Ausnahmefällen (...), welche die Rechtswidrigkeit auf der Stirn tragen", anordnen darf und muss, etwa bei Haftunfähigkeit oder schwersten Erkrankungen.

Denn Einwendungen, welche die Haftgründe der Flucht- oder Verdunklungsgefahr betreffen, sollen die Prüfungs- und Freilassungskompetenz des Amtsrichters auch nach verfassungskonformer Auslegung nur in – freilich ungenannten – "Ausnahmefällen" begründen können. Mit anderen Worten: In aller Regel bleibt es in der Praxis beim Procedere des § 21 Abs. 5 IRG.

Verletzung diverser Grundrechte

Dass der im Auslieferungsverfahren Verfolgte seine Einwendungen vor dem zuständigen OLG entweder über den in § 21 Abs. 5 IRG vorgesehenen Weg der "Stillen Post" oder aber gemäß § 23 IRG in einem rein schriftlichen Verfahren vorbringen muss, verletzt ihn in seinen Grundrechten. Konkret betroffen sind die Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) und das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG:

Nach Art. 2 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG kann die Freiheit der Person "nur auf Grund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden". Das heißt, die Beachtung der im einfachrechtlichen freiheitsbeschränkenden Gesetz normierten Formvorschriften wird durch das "Sprungbrett" des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG zum Verfassungsgebot erhoben. Dies ist eine beachtliche Ausnahme von dem – von Studenten wie von Anwälten gerne verkannten – Grundsatz, dass ansonsten gerade nicht aus jedem einfachrechtlichen Verstoß gegen das grundrechtsbeschränkende Gesetz zugleich auch ein Verfassungsverstoß folgt. Aus dieser Ausnahme ergibt sich jedenfalls dann ein (nicht nur einfachrechtliches, sondern eben auch) verfassungsrechtliches Gebot der mündlichen Anhörung des Betroffen, wenn das jeweilige Gesetz dies einfachrechtlich vorsieht.   

Eine solche Regelung enthält das IRG für die Auslieferungshaft freilich nicht. Allerdings folgt nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG zur Unterbringung und zur Abschiebungshaft bei einer Freiheitsentziehung als dem schwersten Eingriff in das Freiheitsgrundrecht eine Pflicht zur mündlichen Anhörung auch ohne ausdrückliche Anordnung im einfachen Recht in zweifacher Hinsicht unmittelbar aus dem Grundgesetz:

So gehört die mündliche Anhörung des Betroffenen bei der Freiheitsentziehung in Amtsermittlungsverfahren – zu denen das Auslieferungsverfahren gehört – als ungeschriebener Bestandteil des Amtsermittlungsgrundsatzes zu den von Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG zum Verfassungsgebot aufgewerteten Formen. Daneben gebietet auch der für Freiheitsentziehungen geltende Richtervorbehalt des Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG die mündliche Anhörung. Begründet liegt das jeweils darin, dass erst die persönliche und mündliche Anhörung des Betroffenen als "Kernstück der Amtsermittlung im Freiheitsentziehungsverfahren" dem entscheidenden Richter – im Auslieferungsverfahren also dem OLG – die gebotene eigenverantwortliche Sachverhaltsaufklärung und Tatsachenfeststellung ermöglicht.

Zusätzlich entfaltet das Gebot effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG im sog. Verstärkungsverbund mit der Freiheit der Person grundrechtliche Verstärkungswirkung: Die von dem Prozessgrundrecht garantierte möglichst wirksame gerichtliche Kontrolle wäre nicht gewährleistet, bliebe dem Verfolgten nur die Möglichkeit, seine Einwendungen entweder über den Weg des § 21 Abs. 5 IRG oder aber gemäß § 23 IRG schriftlich vorzubringen, ohne dass ihm ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung des OLG zur Verfügung stünde: Weil das OLG die Aktenlage vor dem Haftbefehlserlass eingehend geprüft hat, wird es der – im schriftlichen Verfahren zentralen – abweichenden Würdigung dieser Aktenlage weniger offen gegenüberstehen als der nur in einer mündlichen Erörterung möglichen effektiven Verbindung dieser Würdigung mit dem gerade für die Frage der Fluchtgefahr bedeutsamen persönlichen Eindruck von dem Verfolgten und dessen Lebensumständen.

Resümee und Appell an den Gesetzgeber

Wird der Verfolgte aufgrund eines Auslieferungshaftbefehls ergriffen, ist er dem Richter des nächsten Amtsgerichts vorzuführen, der das über die Haftbefehlsverkündung aufgenommene Protokoll über die GenStA dem OLG zuzuleiten hat. Das OLG muss darauf – entgegen der bisher einhelligen Meinung – unverzüglich Termin zur mündlichen Anhörung des Verfolgten anberaumen. Wird der Auslieferungshaftbefehl hierauf weder aufgehoben noch außer Vollzug gesetzt, muss das OLG, weil der Richtervorbehalt auch für die Fortdauer der Freiheitsentziehung gilt, den Verfolgten auch im Rahmen der regelmäßigen zweimonatigen Haftprüfung jeweils mündlich anhören.

Im Zuge der derzeit erwogenen Reform des IRG sollte der Gesetzgeber das verfassungsrechtliche Mündlichkeitsgebot auch einfachgesetzlich nachvollziehen und eine Regelung ergänzen, nach der eine mündliche Anhörung des Verfolgten durch das OLG obligatorisch ist.

Dr. Yves Georg ist Strafverteidiger und Partner der Kanzlei Schwenn Kruse Georg Rechtsanwälte in Hamburg.

Bei dem Text handelt es sich um eine Zusammenfassung eines wissenschaftlichen Beitrags mit Literatur- und Rechtsprechungsbelegen aus der Zeitschrift "StV - Strafverteidiger", Heft 1, 2024. Die Zeitschrift wird wie LTO von Wolters Kluwer herausgegeben. Sie ist als Einzelausgabe hier und als Abo hier erhältlich.

Zitiervorschlag

Verfassungsrechtliches Gebot: Mündliche Haftprüfung im Auslieferungsverfahren zwingend . In: Legal Tribune Online, 18.01.2024 , https://www.lto.de/persistent/a_id/53665/ (abgerufen am: 28.04.2024 )

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