True-Crime-Reportage "Girl in the picture" bei Netflix: Ein Knäuel an mys­te­riösen Unge­reimt­heiten

Gastkommentar von Prof. Dr. Dr. Hanjo Hamann

28.08.2022

Drei Jahrzehnte lang beschäftigte Suzanne Sevakis die US-amerikanische Justiz. Ihre an überraschenden Wendungen reiche Geschichte wurde nun für Netflix verfilmt. Ein ebenso gut inszenierter wie lehrreicher Dokumentarfilm, findet Hanjo Hamann.  

Am 9. September vor 53 Jahren wurde Suzanne Sevakis geboren. Das Schicksal der verhinderten Luftfahrtingenieurin gehört zu den spannendsten und lehrreichsten Kriminalfällen der US-amerikanischen Justizgeschichte. Alles begann 1970 mit einem traumatisierten Vietnamkriegsveteranen und den vier Kindern einer Frau namens Brandenburg – und endete ein halbes Jahrhundert später mit einem zum Tode verurteilten Sexualtriebtäter, einem seit drei Jahrzehnten verschollenen Sechsjährigen, einer bis heute ungeklärten Fahrerflucht mit tödlichem Ausgang und einer Leiche im Rotlichtmilieu, die sogar Archäologen auf den Plan rief. 

Was wie eine Synopse von drei Staffeln "CSI: Oklahoma" klingen mag (denn hier erlebte der Fall seinen Wendepunkt), sind nur einige der miteinander verbundenen Geschichten, die der neue Netflix-Film "Girl in the Picture" in knapp 100 Minuten erzählt – produziert vom Journalisten Matt Birkbeck, der mit "A Beautiful Child" (2004) und "Finding Sharon" (2018) gleich zwei Buchreportagen über den verwinkelten Kriminalfall und seine zahlreichen überraschenden Wendungen geschrieben hat. Das erste dieser Bücher hatte maßgeblich zur Aufklärung der Geschehnisse seit 1970 beigetragen und wurde damit selbst Teil der Geschichte, die der raffiniert konstruierte Dokumentarfilm auf Netflix nun erzählt. 

Zu Anfang ist hier niemand, was er scheint 

Filmkritiker Taylor Holmes beschreibt den neuen Streifen als "eine einzige Irrfahrt von Enthüllung zu Enthüllung zu Enthüllung zu Enthüllung, die immer nur schlimmer, schlimmer, schlimmer und noch schlimmer wird." Denn der Film beginnt mit dem tragischen Unfalltod der Striptänzerin Tonya Hughes geb. Tadlock und den Auswirkungen ihres Todes auf ihren zweijährigen Sohn Michael und dessen nun verwitweten Vater Clarence. Oder zumindest lässt der Film uns glauben, dass die Geschichte so beginnt. Denn in Wahrheit ist hier niemand, was er scheint: Tonya heißt eigentlich ganz anders (und ist eigentlich keine Striptänzerin), ihr Ehemann heißt nicht wirklich Clarence (und floh 21 Jahre lang vor der Polizei), und auch den kleinen Michael umranken düstere Geheimnisse. 

Kunstvoll greift sich der Film dieses Knäuel an mysteriösen Ungereimtheiten und zieht langsam an dem Faden, der das Ganze aufdröselt. Zuschauer beginnen gewissermaßen "mittendrin" und wissen zu Beginn nicht mehr als Tonyas beste Freundin im April 1990. Und die, so wird schnell klar, wusste über ihre Lieblingskollegin erschreckend wenig. Danach jagt anderthalb Stunden lang ein Plot-Twist den nächsten. Der Zuschauer wird gefangen in einer Reihe immer unfassbarerer Enthüllungen. Meint man gerade noch, eine "klassische" Geschichte über Menschenhandel im Rotlichtmilieu vor sich zu haben, geht es plötzlich um die bewaffnete Geiselnahme in einer Grundschule, dann auf einmal um inzestuöse häusliche Gewalt, die dann aber doch keine ist, und schließlich explodiert auch noch die Wohnung der Protagonisten in einem gleißenden Feuerball. 

Der Film schickt den Zuschauer also auf eine emotionale Achterbahnfahrt und belebt das True-Crime-Genre ganz von neuem. Ein ums andere Mal scheint die Geschichte "zu verrückt, um wahr zu sein" – und mehr lässt sich darüber kaum verraten, ohne Spoiler zu riskieren. Denn wie Taylor Holmes treffend formulierte: "you just need to watch this one for yourself". 

Juristische Kniffe und rechtsvergleichende Einsichten 

Dabei werden gerade Jurist:innen viel Anregendes entdecken. Verwendet der Film doch einen Großteil seiner Spielzeit auf Interviews mit Vertretern des US-amerikanischen Justizsystems. Auch deutsche Rechtswissenschaftler:innen finden hier Anekdoten, Denkanstöße und lehrreiche Erläuterungen. So etwa wenn untergetauchte Straftäter in diesem Fall tatsächlich die aus Hollywood vertraute Masche des Identitätsdiebstahls von Grabsteinen verwenden, oder wenn ein früherer FBI-Ermittler überraschend offenherzig über den wichtigsten "Cold Case" (ungelösten Fall) seiner Karriere berichtet und dabei deutlich wird, dass die für den Zuschauer brennende Frage nach der Identität eines Opfers einst ungelöst bleiben musste, weil der Täter aus anderen Gründen überführt und verurteilt werden konnte. Damit wurde jener Fall geschlossen und die Identität des Opfers war nicht mehr ermittlungsrelevant, bis sich der Beamte nach seiner Pensionierung privat des Falles annahm, der ihn nicht losgelassen hatte. 

In einer anderen Einstellung berichten zwei Staatsanwälte (assistant U.S. attorneys) über ihre Strafverfahrenstaktik nach Ergreifung eines Mordverdächtigen. Die Indizienlage war wackelig, berichtet Staatsanwalt Edward Kumiega: "Wir hätten eine Mordanklage erheben können, ohne den Körper des Opfers gefunden zu haben. Aber um eine Verurteilung zu erreichen, hätten wir das zweifelsfrei beweisen müssen, und das wäre knapp geworden." Darauf ergänzt sein Kollege Mark Yancey: "wir mussten also einige Hürden überwinden. Wir klagten ihn deshalb für Entführung (kidnapping) und für Autodiebstahl (carjacking) an, und zwar für bewaffneten Autodiebstahl, was die gesetzliche Mindeststrafe auf fünf Jahre erhöhte; zugleich wegen des weiteren Waffengebrauchs während der Entführung. Das erhöhte die Strafdrohung um weitere 25 Jahre.“ Letztlich wurde der Angeklagte zu über fünfzig Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, aber sichtlich erleichtert schienen beide Staatsanwälte erst nach einer Verurteilung zur Todesstrafe – die dann aber nicht sofort vollzogen wird, sondern erst einmal jahrzehntelangen Aufenthalt im Todeszellentrakt bedeutet (death row). 

Aus rechtsstaatlicher Sicht noch erschütternder jedoch ist die lebhaft dargestellte juristische Hilflosigkeit der von Gewalt betroffenen Frauen des Films: Die Rotlichttänzerin, die ihre von gewalttätigen Kunden belästigte Kollegin nicht besser zu schützen weiß als durch "Abstandsmaximierung"; die Zeugin einer bewaffneten Vergewaltigung, die das Verbrechen aus Angst, Scham und Verwirrung ebenso wenig zur Anzeige bringt wie das Opfer selbst; eine pro forma verheiratete Mutter, die die Entführung ihrer Kinder durch den neuen Stiefvater erfolglos anzeigt, weil die Polizei die Entführung durch Ehegatten zur "civil matter" erklärt, so dass die Mutter erst 44 Jahre später erfährt, was aus dem jüngsten ihrer entführten Kinder wurde. (Just dieses Kind, das seine Herkunft selbst erst 2019 aufklären konnte, bleibt im Film jedoch unerwähnt.) 

Ein "must-see" für Juristen und Cineasten gleichermaßen 

Neben dem spannenden und juristisch interessanten Stoff hat "Girl in the Picture" viele weitere Stärken, die ihn zu einem Klassiker des Dokumentarfilmgenres prädestinieren. Das betrifft schon den geschickten Erzählstil, der vom linearen Verlauf abweicht wo es die Dramaturgie gebietet und dennoch gut nachvollziehbar die Ermittlungen im Lauf eines Vierteljahrhunderts rekonstruiert – von Tonya Tadlocks Tod im Jahr 1990 bis zur Auflösung des Falles 2014. Ermittlungen, die einen FBI-Beamten aus dem Ruhestand zurückkehren ließen, einen rastlosen Journalisten zwei Jahrzehnte lang beschäftigten und eine Familienzusammenführung der unglaublichsten Art ermöglichten. 

Zugleich besticht der Film durch stimmungsvolle audiovisuelle Untermalung selbst derjenigen Ereignisse, über die man kaum etwas weiß, sowie durch die spürbare Sympathie, mit der er die von dem Kriminalfall Betroffenen inszeniert. Zu ihnen gehören nicht wenige sichtbar gezeichnete Angehörige des Rotlichtmilieus und der US-amerikanischen Armutsschicht, deren Leben zwischen Wohnwagensiedlungen ihnen gesellschaftliche Ächtung als "trailer park trash" beschert. Dagegen gelingt es den Filmemachern auf sehr einfühlsame Weise, diese Menschen als emotional Betroffene eines schockierenden Verbrechens zu zeichnen und sie dadurch auf eine Weise ernstzunehmen, die aus dem stereotypen Milieu eine lebensechte Gemeinschaft mit überaus menschlichem Antlitz werden lässt. 

Indem der Film seine auf wahren Begebenheiten beruhende Geschichte mit dem non-linearen Erzählstil des "Twist Ending" verbindet, schafft er eine hautnahe Detektivgeschichte, wie es sie seit "Searching for Sugarman" vor zehn Jahren (2012) nicht mehr gab. Es wurde höchste Zeit, diesen Stoff zu verfilmen – sieben Jahre, nachdem der Grabstein von Tonya Tadlock ausgetauscht wurde. Nur die Frage nach dem Vater der drei Sevakis-Kinder bleibt bis zum Ende seltsam ungeklärt. Etwas Phantasie erfordern wohl auch True-Crime-Reportagen.

Prof. Dr. Dr. Hanjo Hamann, JSM (Stanford), lehrt und forscht insbesondere zum Wirtschafts- und Immaterialgüterrecht an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht in Wiesbaden. Er nutzt Filmausschnitte in der juristischen Lehre und plant zurzeit eine filmbasierte Lehrveranstaltung zu Digitalisierung und Nachhaltigkeit im Recht. 

Zitiervorschlag

True-Crime-Reportage "Girl in the picture" bei Netflix: Ein Knäuel an mysteriösen Ungereimtheiten . In: Legal Tribune Online, 28.08.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49444/ (abgerufen am: 19.04.2024 )

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