VerfGH Berlin verhandelt über Wahleinsprüche: Muss Berlin noch einmal wählen?

26.09.2022

Genau ein Jahr ist die "Pannenwahl" in Berlin her. Nun beschäftigt sich ab Mittwoch der VerfGH Berlin damit. Wie lange die Verhandlungen dauern, ist unklar – theoretisch hätten hunderte Verfahrensbeteiligte das Recht auf Stellungnahme.

Lange Schlangen vor Wahllokalen, die auch nach 18.00 Uhr noch offen hatten, falsche Stimmzettel, zu wenig Wahlurnen und überforderte Helfer: Am 26. September 2021 schüttelte die Republik kollektiv den Kopf über die Hauptstadt, die mal wieder nichts auf die Reihe zu bekommen schien. Der Superwahltag mit vier Abstimmungen, darunter denen zum Bundestag und zum Berliner Abgeordnetenhaus, war geprägt von bis dahin beispiellosen organisatorischen Problemen und Pannen. Ein Jahr später sind die Nachwehen längst nicht ausgestanden.

An diesem Mittwoch (28. September) steht nun ein wichtiger Schritt bei der politischen und juristischen Aufarbeitung an. Berlins Verfassungsgerichtshof (VerfGH) verhandelt in öffentlicher Sitzung über Einsprüche gegen die Wertung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den zwölf Bezirksparlamenten. Gehört werden diverse Beschwerdeführer und Beteiligte. Möglich ist, dass die Wahl zumindest in einigen der 78 Berliner Wahlbezirke wiederholt werden muss. Eine Entscheidung darüber fällt das Gericht dann voraussichtlich bis Ende des Jahres.

Die Sitzung gilt als eine der wichtigsten in der Geschichte des höchsten Berliner Gerichts und sprengt alles bisher Dagewesene. Denn erstmals verhandeln die Richter außerhalb ihres Domizils: Statt im Kammergerichtsgebäude kommen sie in einem großen Hörsaal der Freien Universität zusammen. Die Gründe dafür sind die ungewöhnlich große Zahl von Verfahrensbeteiligten und das immense öffentliche Interesse.

Hunderte haben Recht auf Stellungnahme

"Es handelt sich um die bislang größte Gerichtsverhandlung dieser Art in Berlin", sagt Sprecherin Lisa Jani. Bis zu 570 Teilnehmer finden im Saal Platz. Auch reichlich Journalisten wollen dem juristischen Spektakel bewohnen. Ihre Laptops dürfen sie dabei nicht benutzen: Das Tippen der Tasten sei zu laut und könne daher die Sitzung stören, befand das Gericht im Vorfeld.

Wie lange alles dauert, ist offen. Denn theoretisch haben Hunderte Verfahrensbeteiligte das Recht, ihre jeweiligen Stellungnahmen abzugeben. Dabei sollen am Mittwoch von den 35 eingereichten Einsprüchen gegen die Wahl zunächst nur vier verhandelt werden - und zwar die der Landeswahlleitung, der Innenverwaltung sowie der Parteien AfD und Die Partei. Über weitere Wahlprüfungsanträge will das Gericht später befinden.

Über die Frage, ob die Richter die Wahl ganz oder teilweise für ungültig erklären, so dass sie komplett oder in einigen Wahlbezirken wiederholt werden müsste, wird seit langem spekuliert. Zu erwarten ist, dass sie dazu am Mittwoch erste rechtliche Einschätzungen durchblicken lassen - ohne freilich die Entscheidung vorwegzunehmen. Dazu bleiben nach der Verhandlung drei Monate Zeit. Eine mögliche Wahlwiederholung wiederum müsste danach innerhalb von 90 Tagen über die Bühne gehen - also je nach Entscheidungsdatum bis allerspätestens Ende März 2023.

Waren die Fehler mandatsrelevant?

Auch im Hinblick auf den Bundestag steht die Möglichkeit einer Wahlwiederholung im Raum. Darüber befindet - womöglich im Oktober - zunächst der Bundestag selbst auf Basis einer Empfehlung seines Wahlprüfungsausschusses. Erwartet wird, dass dann Klagen dagegen beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) eingehen und dieses das letzte Wort hat.

Entscheidend bei den Wahlprüfungsverfahren auf Bundes- und auf Landesebene ist die Frage, ob Fehler am Wahltag mandatsrelevant waren - ob sie also Auswirkungen auf Mandatsverteilung und Zusammensetzung des Parlaments hatten. Die Meinungen darüber gehen weit auseinander.

Für die Abgeordnetenhauswahl stellte der Landeswahlausschuss im Oktober 2021 fest, dass es in 207 von 2.257 Wahllokalen (etwa neun Prozent) zu Unregelmäßigkeiten gekommen sei. Jedoch befand das Gremium, dass es nur in zwei von 78 Wahlkreisen Rechtsverstöße gegeben habe, die mandatsrelevant sein könnten. In beiden ist bei den Erststimmen der Abstand zwischen Erst- und Zweitplatziertem besonders gering. Das Ergebnis könnte also womöglich anders aussehen, wenn Fehler wie falsche Stimmzettel oder die zeitweise Schließung von Wahllokalen wegen fehlender Zettel nicht passiert wären.

"Vor Gericht ist alles vorstellbar"

Der Ex-Abgeordnete Marcel Luthe (Freie Wähler), einer der Beschwerdeführer, fordert hingegen eine komplette Wahlwiederholung in Berlin. "Wer als Ergebnis einer solchen Wahl glaubt, demokratisch legitimiert zu sein, irrt fundamental", argumentiert er.

Nach Einschätzung des Präsidenten des Abgeordnetenhauses, Dennis Buchner, ist es durchaus möglich, dass das Gericht gar keine Wiederholung anordnet. "Vor Gericht ist alles vorstellbar: Neuwahlen, partielle Nachwahlen, aber auch, dass am Ende keine Mandatsrelevanz für das Gesamtparlament erkannt wird." Zudem verweist der SPD-Politiker auf die im Verfahren ebenfalls wichtige Frage, ob eine Wahlwiederholung verhältnismäßig wäre. Schließlich sei die Wahlbeteiligung mit 75,4 Prozent sehr hoch gewesen. "Eine höhere Repräsentanz eines Abgeordnetenhauses hat es seit 1990 nicht mehr gegeben."

Im rot-grün-roten Berliner Senat um die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) wie in Parlament und Parteien werden die Verfahren vor dem Landesverfassungsgericht genau beobachtet. Eine Wahlwiederholung könnte die Mehrheitsverhältnisse im Abgeordnetenhaus ändern - wie stark, hängt vom Umfang eines neu angesetzten Urnengangs ab. Und so bereiten sich die Parteien hinter den Kulissen bereits auf einen kurzen Wahlkampf vor, ohne offen darüber zu sprechen.

Giffey, deren SPD bei der Wahl 2021 nur knapp vor den Grünen lag, gibt sich nach außen gelassen. Allerdings dürfte die Spannung über den Ausgang der Causa auch bei ihr groß sein: Eine neue Umfrage sah die SPD kürzlich nur noch auf Platz drei hinter Grünen und CDU. Giffeys Zustimmungswerte bei den Wählern sind demnach im Keller.

dpa (Stefan Kruse)/pdi/LTO-Redaktion

Zitiervorschlag

VerfGH Berlin verhandelt über Wahleinsprüche: Muss Berlin noch einmal wählen? . In: Legal Tribune Online, 26.09.2022 , https://www.lto.de/persistent/a_id/49732/ (abgerufen am: 28.04.2024 )

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