Bundestag stimmt gegen Reform der Organspende: Am Grund­ge­setz wäre es nicht geschei­tert

von Pia Lorenz

16.01.2020

Nach emotionaler Debatte haben die Abgeordneten im Bundestag entschieden: Niemand soll als Organspender gelten, weil er nicht widersprochen hat. Es ist eine politische Entscheidung, rechtlich geboten war sie keineswegs. Das unterstreichen Gutachten von Bundestagsjuristen. 

Organspenden bleiben in Deutschland weiterhin nur mit ausdrücklicher Zustimmung erlaubt. Der Bundestag lehnte am Donnerstag einen Vorstoß einer Abgeordnetengruppe um Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) ab, dieses Prinzip umzukehren. Sie hatte eine "doppelte Widerspruchslösung" vorgeschlagen. Danach sollte künftig eine Organentnahme zulässig sein, es sei denn, der Mensch hat zu Lebzeiten einen Widerspruch erklärt oder es wird auf anderem Weg deutlich, dass er sich dagegen entschieden hat.  Ausnahmen sollten für Personen gelten, die nicht in der Lage sind, Wesen, Bedeutung und Tragweite einer Organspende zu erkennen und ihren Willen danach auszurichten. Angehörigen sollte kein Entscheidungsrecht zukommen, und damit auch keine Pflicht, diese Entscheidung in einer für sie sehr schwierig zu ertragenden Situation zu treffen. In namentlicher Abstimmung votierten am Donnerstag 379 Abgeordnete dagegen, 292 Parlamentarier unterstützten ihn, drei enthielten sich.

Der Bundestag konnte sich aber auf eine andere Lösung einigen. Dem Entwurf einer Gruppe um Grünen-Chefin Annalena Baerbock und der Linke-Vorsitzende Katja Kipping hat eine Mehrheit der Abgeordneten zugestimmt (432 Ja-Stimmen, 200 Nein-Stimmen, 37 Enthaltungen). Nach dieser "erweiterten Zustimmungslösung" werden die Behörden alle Bürger mindestens alle zehn Jahre beim Ausweisabholen auf das Thema Organspende ansprechen. Ebenso wird es ein neues zentrales Online-Register geben, in das die Bürger ihre Entscheidung pro oder contra Organspende eintragen lassen können. Auch Hausärzte sollen bei Bedarf alle zwei Jahre über Organspenden informieren.

Gemeinsames Ziel beider Vorschläge ist es, angesichts von rund 9.000 Patienten auf den Wartelisten zu mehr Organspenden zu kommen. Die Zahl der Spender ging im vergangenen Jahr wieder leicht auf 932 zurück, nachdem 2018 noch 955 Menschen nach ihrem Tod Organe für andere Patienten überlassen hatten. Es gab nun aber weiterhin mehr Spender als beim bisherigen Tiefstand von 797 Spendern im Jahr 2017. Im vergangenen Jahr wurden 2995 Organe an die Vermittlungsstelle Eurotransplant übergeben - vor allem Nieren, Lebern und Lungen.

Wissenschaftlicher Dienst: Widerspruchslösung wäre verfassungsgemäß

Damit haben sich einmal mehr die Kritiker der Widerspruchslösung durchgesetzt, eine grundlegende Änderung im deutschen Organspendesystem wird es nicht geben. Die Gründe dafür sind emotionaler, oft ethischer, manchmal religiöser Natur. So befürchten Menschen, als menschliches "Ersatzteillager" missbraucht und zum Objekt gemacht zu werden. Auch in der hitzigen Debatte der vergangenen Monate drohten die Verfechter der Zustimmungslösung mit einem Gang zum Bundesverfassungsgericht, sollte die Widerspruchslösung Gesetz werden. Dabei stünden verfassungsrechtliche Gründe einer Einführung der Widerspruchslösung wohl nicht entgegen. 

Zu diesem Ergebnis kam zuletzt im Jahr 2018 zumindest der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags, der keine verfassungsrechtlichen Bedenken bei der Widerspruchslösung hatte. Eine Anfrage aus dem Bundestag wollte wissen, ob die Widerspruchslösung bei der Organspende verfassungskonform wäre. In seiner Antwort verwies der Wissenschaftliche Dienst u.a. auf ein Gutachten aus dem Jahr 2011. Aus Sicht der Bundestagsjuristen hatte sich an dieser Einschätzung seitdem nichts Wesentliches geändert.

Das Gutachten aus 2011 befasst sich allerdings nicht direkt mit der nun gescheiterten Widerspruchslösung. Die Ausarbeitung beschäftigt sich vielmehr mit der Frage, ob es verfassungsrechtlich zulässig wäre, dass der Gesetzgeber den Einzelnen verpflichtet, sich rechtsverbindlich zu seiner Organspendebereitschaft zu erklären (sog. Erklärungsmodell), also einem anderen Modell. 

Möglicherweise tangierte Grundrechte

Das Gutachten prüft nicht weiter, ob das Recht auf Leben oder das Recht auf körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG verletzt würden. Unter Verweis auf die herrschende Meinung gehen die Bundestagsjuristen davon aus, dass diese beiden Grundrechte spätestens mit dem Hirntod eines Menschen enden. Ein Eingriff in die Religionsfreiheit scheide ebenfalls per se aus, weil Menschen, die aus religiösen Gründen keine Organe spenden möchten, das durch einen Widerspruch weiterhin so halten könnten und die Religion dabei nicht als Grund angeben müssten. 

Das Gutachten prüft vielmehr, ob ein ungerechtfertigter Eingriff in das postmortale Persönlichkeitsrecht vorliegt, das aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitet wird. Dieses umfasst auch das sog. negative Selbstbestimmungsrecht, also das Recht, sich mit bestimmten Fragen nicht zu befassen, also auch keine Entscheidung treffen zu müssen. Weil sie potenziellen Spendern eine Erklärungslast aufbürden würde, würde die Widerspruchslösung in dieses Recht eingreifen, so der Wissenschaftliche Dienst. 

Erweiterte Zustimmungslösung: milderes, aber weniger geeignetes Mittel?

Er erklärt den Eingriff aber für verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Das verfolgte Ziel, die Spendenbereitschaft in der Bevölkerung zu erhöhen, sei legitim. Weil die Spendenbereitschaft in der Bevölkerung laut Umfragen viel höher ist als die tatsächliche Anzahl der Menschen, die einen Organspendeausweis haben, geht das Gutachten auch davon aus, dass die Widerspruchslösung das Spendenaufkommen erhöhen würde und damit geeignet ist, dieses Ziel mindestens zu fördern. Zudem habe der Gesetzgeber dabei einen Einschätzungsspielraum. 

Die Bundestagsjuristen halten eine Widerspruchslösung auch für erforderlich in dem Sinne, dass es kein milderes, genauso wirksames Mittel gibt. Ein solches Mittel, das also weniger intensiv in die Grundrechte der Menschen eingreift, wäre zum Beispiel die nun beschlossene erweiterte Zustimmungslösung, also im Wesentlichen bessere Information für mehr Spendenbereitschaft. Für ebenso wirksam halten die Bundestagsjuristen es aber nicht, "da auch in der Vergangenheit Informationskampagnen nur mäßigen Erfolg hatten". 

Ein milderes Mittel in diesem Sinne wäre auch die Erklärungslösung. Sie verkörpert den bloßen Zwang, sich für oder gegen eine Organspende auszusprechen, ohne dass aber an eine fehlende Rückmeldung die Folge geknüpft wäre, dass damit die Organspende zulässig ist. Um dieses Erklärungsmodell, also nicht um die Widerspruchslösung, ging es in dem Gutachten aus 2011. Gemeinsam ist den Modellen der Zwang, sich für oder gegen eine Organspende auszusprechen, sich also mit dem Thema zu beschäftigen. Das Widerspruchsmodell ist mit seiner Rechtsfolge aber aber ein intensiverer Eingriff als das Erklärungsmodell, so das Gutachten. Dennoch hielten die Bundestagsjuristen auch die Widerspruchslösung offenbar schon im Jahr 2011 für in diesem Sinne erforderlich, zumal die Intensität des Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht stark von der Ausgestaltung der Erklärungspflicht abhinge. 

Gutachten: Negatives Selbstbestimmungsrecht überwiegt nicht 

Das Herzstück der verfassungsrechtlichen Prüfung, die Abwägung, fällt dann zu Lasten des Rechts aus, sich mit etwas nicht beschäftigen zu müssen. Auch wenn dieses als ebenfalls höchstpersönliches Recht nicht per se weniger schutzwürdig sei als das Recht auf Leben, spreche doch einiges dafür, "dass der Eingriff in das negative Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen geringer wirkt als der Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit der potentiellen Organspendenempfänger", heißt es in dem Gutachten. Die Widerspruchslösung mit ihrem Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht wäre also verhältnismäßig, weil der Eingriff dazu dient, mehr Spenderorgane zu erhalten und so Leben und körperliche Unversehrtheit einer größeren Anzahl von Personen zu schützen. 

Der Wissenschaftliche Dienst bezieht sich dabei auch auf eine Entscheidung des BVerfG zur erweiterten Zustimmungslösung. Im Jahr 1999 nahm das BVerfG eine Beschwerde gegen die maßgebliche Vorschrift des Transplantationsgesetzes nicht zur Entscheidung an. Zur Begründung heißt es, die klagenden Beschwerdeführer könnten sich gegen eine postmortale Organentnahme wehren, indem sie ihr widersprechen. Sie hätten es damit "selbst in der Hand, den befürchteten Grundrechtsverletzungen vorzubeugen. Dass sie in ihren Grundrechten bereits dadurch verletzt werden, dass sie zur Abwehr der behaupteten Grundrechtsverletzung einen Widerspruch erklären müssen, ist nicht ersichtlich" (BVerfG. Beschl. v. 18. Februar 1999, Az. 1 BvR 2156/98). 

Mehrfach betonen die Bundestagsjuristen im Laufe ihrer Prüfung, dass der Gesetzgeber zudem bei vielen Fragen einen Einschätzungsspielraum hat - einen, den das BVerfG nicht überprüfen kann und würde. 

Ihre Rechtsauffassung, dass die Widerspruchslösung ohne Verfassungsverstoß eingeführt werden könnte, bestätigten die Bundestagsjuristen im Jahr 2018 noch einmal eindeutig. "An diesem Ergebnis ändert sich nichts", heißt es dort in Bezug auf die Zulässigkeit der Widerspruchslösung. Das Gutachten dürfte nun wieder für ein paar Jahre in der Schublade verschwinden; bis die Bundestagsjuristen zum mächsten Mal befragt werden, was man tun könnte, um die Zahl der Organspenden in Deutschland zu erhöhen. 
 

Mit Materialen von dpa

Zitiervorschlag

Pia Lorenz, Bundestag stimmt gegen Reform der Organspende: Am Grundgesetz wäre es nicht gescheitert . In: Legal Tribune Online, 16.01.2020 , https://www.lto.de/persistent/a_id/39707/ (abgerufen am: 18.03.2024 )

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