Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Iran: Können und müssen deut­sche Behörden ermit­teln?

Gastbeitrag von Damien Nippen

20.07.2023

Die Tochter eines im Iran zum Tode verurteilten Deutschen hat beim Generalbundesanwalt Anzeige wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit erstattet. Damien Nippen erklärt, inwiefern deutsche Behörden ermitteln können und müssen.

Seit über vier Jahrzehnten ist das islamische Regime im Iran an der Macht, obwohl die große Mehrheit der Iranerinnen und Iraner das Regime ablehnt. Seine Macht beruht daher nicht auf der Unterstützung der Bevölkerung, sondern auf deren brutaler Unterdrückung: Es lässt politische Gegner inhaftieren, foltern und – im schlimmsten Fall – hinrichten.  

Die bisher größten Proteste gegen das Regime löste der Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini aus, die im September letzten Jahres wegen eines angeblichen Verstoßes gegen die Hijab-Pflicht von der Sittenpolizei in Gewahrsam genommen wurde und kurze Zeit nach ihrer Festnahme verstarb. Es sind vor allem junge Iranerinnen und Iraner, die auf die Straße gehen – und dabei ihr Leben riskieren, denn das Regime versucht, die Proteste gewaltsam niederzuschlagen. Bereits nach nur viereinhalb Monaten des Protests wurde die Zahl der Todesopfer auf 525 geschätzt, die Zahl der inhaftierten Demonstrierenden auf fast 20.000

Medien wie Tagesschau, Zeit und taz berichten über ein brutales Vorgehen des Regimes. Augenzeugenberichte zufolge haben Sicherheitskräfte mit scharfer Munition auf Menschen geschossen; zudem sollen sie mit Metall- und Gummigeschossen auf die Augen von Demonstrierenden gezielt haben, um sie erblinden zu lassen. Die Anwendung von Folter in iranischen Gefängnissen ist ein offenes Geheimnis. Die Wärter peitschen die Inhaftierten aus und misshandeln sie körperlich mit Elektroschockern und Schlagstöcken. Nach übereinstimmenden Berichten kommt es auch systematisch zu Vergewaltigungen, insbesondere gegen Frauen. 

Nach dem Weltrechtsprinzip können deutsche Behörden auch Verbrechen der iranischen Führung verfolgen 

Inhaftiert und zum Tode verurteilt ist auch ein deutscher Staatsbürger: Jamshid Sharmahd. Seine Tochter hat beim Generalbundesanwalt Strafanzeige wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen acht Beteiligte des iranischen Justizsystems erstattet. Unabhängig von dem Erfolg dieser Strafanzeige wirft das die Frage auf, ob deutsche Behörden wegen möglicher Verbrechen der iranischen Führung ermitteln müssen. Denn aufgrund des Weltrechtsprinzips aus § 1 Satz 1 Völkerstrafgesetzbuch (VStGB) sind sie auch für die Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit zuständig, wenn sie ein Ausländer im Ausland an einem Ausländer begeht. Ein besonderer Bezug zu Deutschland ist nicht erforderlich. 

Zunächst einmal gilt wie bei jedem Strafverfahren, dass eine Verfolgungspflicht besteht, wenn ein Anfangsverdacht vorliegt (Legalitätsprinzip). Es muss aufgrund bestimmter Tatsachen möglich sein, dass ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurde. § 7 VStGB bestimmt, was unter einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verstehen ist. Vereinfacht gesagt sind zwei Dinge erforderlich: Eine Gesamttat und eine Einzeltat, die im Rahmen der Gesamttat begangen wird.  

Das Gesetz spricht bei der Gesamttat von einem "ausgedehnten oder systematischen Angriff gegen eine Zivilbevölkerung". Erst durch die Gesamttat erlangt die Tat eine besondere Unrechtsdimension: Dann verletzt sie nicht nur die individuellen Interessen eines anderen Menschen, sondern stellt die Mindeststandards mitmenschlicher Existenz generell in Frage. 

Als Einzeltat kommen die in § 7 Abs. 1 Nr. 1 bis 10 VStGB aufgezählten Taten in Betracht. Nach allem, was über die Vorgänge im Iran bekannt ist, ist die Begehung folgender Einzeltaten wahrscheinlich: Tötungen (Nummer 1), Folter (Nummer 5), Vergewaltigungen (Nr. 6) das Zufügen von schweren körperlichen oder seelischen Schäden (Nummer 8) und schwerwiegende Freiheitsberaubungen (Nr. 9). 

Stehen die Einzeltaten im Kontext einer Gesamttat? 

Weniger eindeutig zu beantworten ist hingegen die Frage, ob die Einzeltaten auch im Kontext einer Gesamttat, also "im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung" begangen werden. Ein Angriff in diesem Sinne ist ein Gesamtvorgang, bei dem es zur mehrfachen Verwirklichung von Einzeltaten kommt und hinter dem ein Staat oder eine Organisation steht. 

Im Iran kommt es unzweifelhaft zur mehrfachen Verwirklichung solcher Einzeltaten. Hinter den Taten steht die islamische Führung, der Angriff richtet sich gegen die Zivilbevölkerung. Der BGH versteht unter einer Zivilbevölkerung eine größere Gruppe von Menschen, die über gemeinsame Unterscheidungsmerkmale (z.B. eine gemeinsame politische Willensrichtung) verfügen, aufgrund deren sie angegriffen werden. Nicht notwendig ist, dass sich der Angriff gegen die gesamte in einem bestimmten Gebiet ansässige Bevölkerung richtet. 

Der Angriff gegen die Zivilbevölkerung muss nach § 7 VStGB zudem "ausgedehnt" oder "systematisch" sein. Der Angriff ist ausgedehnt, wenn er sich geografisch über ein großes Gebiet erstreckt oder eine Vielzahl von Opfern fordert. Er ist systematisch, wenn er einen erheblichen Grad von Planung voraussetzt. Es muss nur eines von beiden Merkmalen erfüllt sein, wobei sie sich überschneiden und sie oft gleichzeitig erfüllt sein werden. 

In Bezug auf die Situation im Iran spricht viel dafür, dass beide Merkmale erfüllt sind. Das Vorgehen des Regimes gegen die landesweiten Proteste erstreckt sich über ein geografisch weites Gebiet. Zudem zeugt es von einer erheblichen Planung: Es kommt nicht zufällig zu schwerwiegenden Einzeltaten, sondern sie sind gerade Mittel, die Protestbewegung niederzuschlagen und Oppositionelle zu demoralisieren und abzuschrecken. 

Zur Niederschlagung des "Arabischen Frühlings" hatte sich der BGH geäußert 

Um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit anzunehmen, verlangt der § 7 VStGB ferner, dass die Einzeltat "im Rahmen“ der Gesamttat begangen wird. Der Gesetzgeber spricht in der Gesetzesbegründung nur von einem "funktionalen Zusammenhang". Eine Tötung während eines Familienstreits wird nicht dadurch zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit, weil draußen vor der Tür ein systematischer Angriff gegen die Zivilbevölkerung stattfindet. Anders wäre es hingegen, wenn das Familienmitglied gerade deshalb getötet wird, weil es einer bestimmten politischen Gruppierung angehört, gegen die sich auch der Angriff richtet. 

Ein Vergleich mit der Situation in Syrien während des "Arabischen Frühlings“ spricht schließlich dafür, dass im Iran ein systematischer und ausgedehnter Angriff gegen die Zivilbevölkerung vorliegt. Der BGH (Beschl. v. 3.2.2021, Az. AK 50/20) stellte in Bezug auf Syrien fest, dass die Niederschlagung der Proteste eine Gesamttat im Sinne des § 7 VStGB war:  

"Das Vorgehen des Assad-Regimes gegen die Opposition in Syrien während des sog. Arabischen Frühlings erfüllt – nach hinreichend gesicherten Erkenntnissen – diese tatbestandlichen Voraussetzungen spätestens mit dem gewaltsamen Vorgehen gegen Demonstranten und andere – auch vermeintliche – Oppositionelle jedenfalls ab Ende April 2011. Ab diesem Zeitpunkt und in der Folgezeit griff das Regime die eigene Zivilbevölkerung an, indem es planmäßig und organisiert mit massiver Gewalt gegen Demonstranten sowie (tatsächliche oder vermeintliche) Oppositionelle vorging, um die Protestbewegung niederzuschlagen. Diese Mitglieder der Zivilgesellschaft wurden zur Erreichung des Ziels, die Aufstände zu beenden, verfolgt, festgenommen, inhaftiert, gefoltert und getötet."  

Die Argumentation passt auch auf das Vorgehen des Regimes im Iran. Die deutschen Strafverfolgungsbehörden sind daher grundsätzlich zu Ermittlungen verpflichtet, wenn sie Kenntnis davon erlangen, dass eine Einzeltat im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 1 bis 10 VStGB begangen worden sein könnte und sie im Zusammenhang mit dem Angriff des Regimes gegen die eigene Bevölkerung steht. 

Absehen von der Verfolgung, wenn nicht zu erwarten ist, dass sich Beschuldigte bald in Deutschland aufhalten 

Diese generelle Verfolgungspflicht wird jedoch durch den § 153f Strafprozessordnung wesentlich eingeschränkt, der es ermöglicht, von der Verfolgung abzusehen, wenn ein Aufenthalt des Beschuldigten im Inland nicht zu erwarten ist. Es bleibt zu hoffen, dass die Behörden von dieser Möglichkeit nicht vorschnell Gebrauch machen. 

Denn ein Aufenthalt ist bereits dann zu erwarten, wenn es für ihn konkrete Anhaltspunkte gibt. Die Anhaltspunkte können insbesondere aufgrund familiärer oder geschäftlicher Beziehungen nach Deutschland bestehen. Ein Aufenthalt dürfte bei vielen Regimeanhängern nicht fernliegen, denn ihr Hass auf den Westen hält sie nicht davon ab, in den Westen zu reisen und ihre Kinder auf westliche Universitäten zu schicken. 

Ob deutsche Behörden im Fall Sharmahd ermitteln müssen, hängt in tatsächlicher Hinsicht davon ab, wie stichhaltig die Vorwürfe bezüglich einer Einzeltat sind. In rechtlicher Hinsicht müsste die Einzeltat mit der Gesamttat zusammenhängen. Dafür sprechen gute Gründe: Zwar wurde Sharmahd vor Beginn der jüngsten Proteste entführt und inhaftiert, seine mutmaßliche Folter und sein Schauprozess fallen jedoch mit der Niederschlagung der Protestbewegung zusammen. Es ist ferner nicht ausgeschlossen, anzunehmen, dass bereits vor Beginn der Proteste eine Gesamttat vorlag. Denn seit jeher setzt die islamische Führung Folter sowie willkürliche Freiheitsberaubungen und Todesurteile nicht nur vereinzelt, sondern systematisch ein – und spricht damit auch unseren menschlichen Mindeststandards die Geltung ab. 

Damien Nippen ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität zu Köln am Lehrstuhl von Prof. Dr. Dr. h.c. Martin Waßmer. 

Zitiervorschlag

Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Iran: Können und müssen deutsche Behörden ermitteln? . In: Legal Tribune Online, 20.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52296/ (abgerufen am: 28.04.2024 )

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